BSG Urteil v. - B 2 U 26/04 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: RVO § 548 Abs 1; SGB VII § 8

Instanzenzug:

Gründe

I

Der Kläger begehrt von der beklagten Berufsgenossenschaft die Gewährung einer Verletztenrente wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls.

Der im Jahre 1954 geborene Kläger arbeitete seit 1982 bei den L. Verkehrsbetrieben als Straßenbahnfahrer. Am lenkte er einen zur Gleispflege eingesetzten Arbeitswagen stadtauswärts und prallte mit einer stadteinwärts fahrenden Straßenbahn auf einem signalgeregelten eingleisigen Streckenabschnitt ohne ausreichenden Sichtkontakt frontal zusammen. Etliche Fahrgäste wurden leicht, die beiden Triebwagenführer sowie ein weiterer Arbeitnehmer erheblich verletzt. Der Fahrer des entgegenkommenden Zuges wurde vom Amtsgericht wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt.

Der Kläger war zunächst in seinem Arbeitswagen eingeklemmt, musste befreit werden und wurde anschließend in die Universitätsklinik L. eingeliefert. Dort wurden ua eine Fraktur der ersten Rippe rechts, Kontusionen des linken Vorfußes sowie der rechten Brustseite diagnostiziert. Ab dem 25. Oktober bis zum war der Kläger wieder als Straßenbahnfahrer tätig. Vom an wurde er von der praktischen Ärztin B. -B. wegen Erbrechens, Ohnmachtsanfällen und Kopfschmerzen bis zum arbeitsunfähig krankgeschrieben. Nach einer Untersuchung des Betriebsarztes war der Kläger dann fahrtauglich, bis er am aufgrund einer von ihm angegebenen Bewusstlosigkeit wieder als fahruntauglich eingestuft wurde. Weitere ärztliche Behandlungen sowie Begutachtungen und ein stationäres psychosomatisches Heilverfahren vom 26. September bis zum zu Lasten des Rentenversicherungsträgers schlossen sich an. Mittlerweile wurde der Kläger aus dem Arbeitsverhältnis entlassen und erhält Sozialhilfe.

Nachdem der Kläger im Rahmen eines Gutachtens für eine Privatversicherung eine Kopfverletzung durch den Unfall angegeben hatte, diagnostizierten der neurologische Sachverständige Prof. Dr. W. ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS), eine Commotio cerebri und ein Schmerzsyndrom sowie der neuropsychologische Sachverständige Dr. D. ein psychovegetatives Allgemeinsyndrom. Beide schätzten die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) des Klägers auf insgesamt 40 vH nach den im sozialen Entschädigungsrecht geltenden Grundsätzen. Dem trat der Chirurg Dr. B. als Beratungsarzt der Beklagten entgegen, weil schon eine Kopfverletzung nicht gesichert sei. Der von der Beklagten beauftragte Neurologe und Psychiater Dr. H. stimmte ihm in seinem Gutachten zu, zumal es unwahrscheinlich bis ausgeschlossen sei, dass der Unfall ein Allgemeinsyndrom - was immer darunter zu verstehen sei - ausgelöst habe. Daraufhin lehnte die Beklagte die Gewährung einer Verletztenrente ab (Bescheid vom , Widerspruchsbescheid vom ).

In dem anschließenden Klageverfahren hat das Sozialgericht Leipzig (SG) zahlreiche weitere ärztliche Unterlagen sowie ein psychiatrisches Gutachten bei Dr. G. eingeholt, nach dem der Kläger bei dem Unfall eine Prellung des Herzmuskels erlitten habe, die zu Herzrhythmusstörungen und den Ohnmachtsanfällen geführt habe, außerdem sei es zu einem Schädel-Hirn-Trauma im Bereich des Temporallappens mit Persönlichkeitsveränderungen gekommen, aus dem chronischen Unverstandenfühlen habe sich eine chronifizierte Anpassungsstörung entwickelt. Seit der Herzschrittmacheroperation des Klägers am sei dessen MdE vorläufig mit 30 vH einzuschätzen. Das SG hat die Beklagte verpflichtet, dem Kläger infolge seines Arbeitsunfalls eine Verletztenrente nach einer MdE von 25 vH zu gewähren (Urteil vom ).

Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat nach Vorlage bzw Beiziehung weiterer ärztlicher Unterlagen ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bei Dr. H. eingeholt, der einen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfall und den erörterten Gesundheitsstörungen verneinte. In der Sache hat das LSG die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom ) und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Dem Gutachten von Dr. G. könne nicht gefolgt werden, denn eine HWS-Verletzung, eine Herzprellung oder eine Verletzung des Gehirns durch den Unfall seien nicht bewiesen. Der Kläger habe aufgrund des Unfalls im Sinne einer conditio sine qua non mit Wahrscheinlichkeit eine Somatisierungsstörung und eine ängstlich depressive Störung entwickelt. Vor dem Unfall sei er beschwerdefrei, beruflich und sozial integriert gewesen. Psychische Vorschäden in einem Umfang, dass alltägliche Ereignisse geeignet gewesen wären, diese zu verschlimmern und den Kläger psychosozial zu desintegrieren, seien nicht im Vollbeweis gesichert. Nur in der von der Beklagten vorgelegten Stellungnahme von Prof. Dr. M. und in dem Gutachten von Dr. H. sei zu der unfallversicherungsrechtlichen Zusammenhangsfrage näher Stellung genommen worden. Prof. Dr. M. könne nicht gefolgt werden, weil er entgegen anderen übereinstimmenden ärztlichen Aussagen schon eine psychische Störung mit Krankheitswert verneint habe. Keiner der Ärzte, für die der Unfall nur ein Anlassgeschehen für die weitere psychische Entwicklung des Klägers gewesen sei, habe eine plausible Erklärung dafür geliefert, warum das Leben des bis dahin erkennbar unauffälligen Klägers nach dem Unfall eine derartige Wendung genommen habe. Dr. H. habe den Unfall zwar auch als beliebig austauschbare Bedingung angesehen, jedes andere gravierende bzw besonders belastende Ereignis habe angesichts der Persönlichkeitsstruktur des Klägers ähnliche Reaktionsweisen hervorrufen können. Der Zusammenstoß von zwei aufeinander zufahrenden Straßenbahnen könne jedoch nicht als Gelegenheitsursache im Sinne der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und damit als "alltäglich vorkommendes Ereignis" angesehen werden (ua Hinweis auf BSG SozR 2200 § 549 Nr 10). Diesen Rechtsbegriff habe Dr. H. verkannt, andererseits sei er aber von einem besonders belastenden Ereignis ausgegangen. Die für die Unfallversicherung zuständigen Senate des BSG hätten sich der verdeckten Rückkehr des für das soziale Entschädigungsrecht zuständigen 9. Senats des BSG zur Adäquanztheorie nicht zu Eigen gemacht, wonach von einem Ursachenzusammenhang zwischen einer bestimmten seelischen Krankheit und einem bestimmten seelisch schädigenden Vorgang nur gesprochen werde könne, wenn nach allgemeinem medizinischem Erfahrungswissen die Krankheit nach einem Vorgang dieser Art gehäuft auftrete (Hinweis auf BSG SozR 3-3800 § 1 Nr 4). Diese Auffassung widerspreche der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung. Auch die mnestischen Störungen des Klägers seien auf die durch den Unfall unmittelbar psychisch ausgelösten Synkopen zurückzuführen, zumal er erst nach dem Unfall über diese Störungen berichtet habe.

Mit der vom BSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Sie macht geltend: Das LSG habe das früher in § 548 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO), jetzt in § 8 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) normierte und von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelte Kausalitätsprinzip verletzt. Die Rechtsprechung des 9. Senats des BSG sei auf die gesetzliche Unfallversicherung zu übertragen. Denn auch in der gesetzlichen Unfallversicherung müsse von den gesicherten Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft ausgegangen werden. Zur Beantwortung der Frage, ob ein Unfallereignis eine Erkrankung im Sinne einer conditio sine qua non verursacht habe, müsse zunächst geklärt werden, ob aus ärztlicher Sicht eine geeignete Ursache vorgelegen habe. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung erfordere nach den gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen, wie sie in den Klassifikationssystemen ICD-10 oder DSM IV definiert seien, als Eingangskriterium "eine verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes ..., die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde". Ohne ein solches Trauma dürfe die Diagnose "posttraumatisches Belastungssyndrom" nicht gestellt werden. Eine generalisierende Zugrundelegung von Kausalitätsmaßstäben hinsichtlich der Zusammenhangsfrage bei psychischen Erkrankungen sei auch aus Gründen der Rechtssicherheit und zur Vermeidung von Ungleichbehandlung geboten. Erst auf der Basis genereller Erkenntnisse zur Kausalität sei in einem weiteren Prüfungsschritt der konkrete Einzelfall unter Berücksichtigung der individuellen Persönlichkeit zu beurteilen. Des Weiteren müsse bedacht werden, dass die gesetzliche Unfallversicherung der Ablösung der zivilrechtlichen Unternehmerhaftpflicht diene, private Versicherungen aber mittlerweile so genannte Schockschäden aus dem Kreis der versicherten Risiken ausschlössen. Ohne bestimmte Eingangskriterien und bestimmte Kausalitätsanforderungen wären beliebige psychische Reaktionen auf minderschwere Ereignisse nach dem subjektiven Ausmaß der Beeinträchtigung des Betroffenen zu entschädigen. Zur Bejahung des Ursachenzusammenhanges sei es nicht ausreichend, wenn psychische Vorschäden nicht mit dem Vollbeweis gesichert seien und ein zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und den psychischen Störungen bestehe. Ebenso wenig genüge es, wenn andere Erklärungsversuche für die Krankheit scheiterten.

Das LSG habe die Grenzen der freien Beweiswürdigung überschritten, indem es sich in medizinischen Fragen über die Beurteilung der gehörten Sachverständigen hinweggesetzt habe. Dem Gutachten von Dr. G. sei das LSG zu Recht nicht gefolgt. Der vom LSG gehörte Sachverständige Dr. H. habe einen Zusammenhang zwischen dem Arbeitsunfall und den Gesundheitsstörungen des Klägers verneint. Das LSG hingegen habe diesen Zusammenhang aus eigener Sachkunde bejaht, ohne diese darzulegen. Konkurrierende Ursachen, wie die in einzelnen ärztlichen Unterlagen angedeuteten Partnerschaftsprobleme oder ein Sich-unverstanden-Fühlen des Klägers seien nicht erörtert worden. Die MdE-Schätzung sei nicht nachvollziehbar.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des Sächsischen Landessozialgerichts vom und des Sozialgerichts Leipzig vom aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und führt ergänzend aus: Nach der Rechtsprechung des Senats (Hinweis auf BSGE 18, 173) komme es nicht darauf an, wie ein "normaler" Verletzter reagiert habe. Vielmehr sei für die Bejahung der Wesentlichkeit die gegebenenfalls anlagebedingt geringere Widerstandskraft des Verletzten zu berücksichtigen, der durch die gesetzliche Unfallversicherung in seiner speziellen Persönlichkeit geschützt werde.

II

Die Revision der Beklagten ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache begründet. Denn nach den derzeitigen Feststellungen des LSG kann nicht beurteilt werden, ob der Kläger aufgrund seines Arbeitsunfalls am einen Anspruch auf Verletztenrente gegen die Beklagte hat oder nicht.

Versicherte haben Anspruch auf eine Verletztenrente, wenn ihre Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalles über die 13. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert ist (§ 581 Abs 1 RVO, der trotz des Inkrafttretens des SGB VII am vorliegend noch anwendbar ist, weil um die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund eines Arbeitsunfalls am gestritten wird, und über die Verletztenrente schon vor dem von der Beklagten entschieden worden ist - § 214 Abs 3 SGB VII).

Die erste Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente - das Vorliegen eines Versicherungsfalles, hier: eines Arbeitsunfalls - ist erfüllt. Für einen Arbeitsunfall ist nach § 8 Abs 1 SGB VII in der Regel erforderlich, dass die Verrichtung des Versicherten zur Zeit des Unfalls der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist (innerer bzw sachlicher Zusammenhang, vgl BSGE 63, 273, 274 = SozR 2200 § 548 Nr 92 S 257; BSG SozR 3-2200 § 548 Nr 19), dass diese Verrichtung zu dem zeitlich begrenzten von außen auf den Körper einwirkenden Ereignis - dem Unfallereignis - geführt hat (Unfallkausalität) und dass das Unfallereignis einen Gesundheitserstschaden oder den Tod des Versicherten verursacht hat (haftungsbegründende Kausalität); das Entstehen von längerandauernden Unfallfolgen aufgrund des Gesundheitserstschadens (haftungsausfüllende Kausalität) ist keine Voraussetzung für die Anerkennung eines Arbeitsunfalls, sondern für die Gewährung einer Verletztenrente ( - BSGE 94, 262 = SozR 4-2700 § 8 Nr 14 jeweils RdNr 5; - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 5).

Der Kläger lenkte zur Zeit des Unfalls im Rahmen seiner versicherten Tätigkeit als Straßenbahnfahrer einen Arbeitswagen (sachlicher Zusammenhang). Diese Arbeit führte auch zu dem Frontalzusammenstoß der Straßenbahnen als Unfallereignis (Unfallkausalität). Durch das Unfallereignis war der Kläger zunächst in seinem Arbeitswagen eingeklemmt und erlitt als physischen Gesundheitserstschaden zumindest eine Fraktur der rechten Rippe, eine Kontusion des linken Vorfußes sowie der rechten Brustseite. Dies ergibt sich aus den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG).

Ob die zweite Voraussetzung für die Gewährung einer Verletztenrente, eine Minderung der Erwerbsfähigkeit in Folge dieses Versicherungsfalles, erfüllt ist, kann aufgrund der Feststellungen des LSG nicht beurteilt werden. Diese Voraussetzung erfordert zunächst, dass überhaupt eine Minderung der Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch eine Beeinträchtigung seines körperlichen oder geistigen Leistungsvermögens gegeben ist und dass diese Beeinträchtigung in Folge des festgestellten Versicherungsfalles - hier des Arbeitsunfalls - eingetreten ist, also über einen längeren Zeitraum andauernde Unfallfolgen vorliegen. Zur Feststellung einer gesundheitlichen Beeinträchtigung infolge eines Versicherungsfalles muss zwischen dem Unfallereignis und den geltend gemachten Unfallfolgen entweder mittels des Gesundheitserstschadens, zB bei einem Sprunggelenksbruch, der zu einer Versteifung führt, oder direkt, zB bei einer Amputationsverletzung, ein Ursachenzusammenhang nach der im Sozialrecht geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung bestehen.

1. Die Theorie der wesentlichen Bedingung beruht ebenso wie die im Zivilrecht geltende Adäquanztheorie (vgl dazu nur Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 65. Auflage 2006, Vorb v § 249 RdNr 57 ff mwN sowie zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr 91) auf der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als Ausgangsbasis. Nach dieser ist jedes Ereignis Ursache eines Erfolges, das nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Erfolg entfiele (conditio-sine-qua-non). Aufgrund der Unbegrenztheit der naturwissenschaftlich-philosophischen Ursachen für einen Erfolg ist für die praktische Rechtsanwendung in einer zweiten Prüfungsstufe die Unterscheidung zwischen solchen Ursachen notwendig, die rechtlich für den Erfolg verantwortlich gemacht werden bzw denen der Erfolg zugerechnet wird, und den anderen, für den Erfolg rechtlich unerheblichen Ursachen.

Da Verschulden bei der Prüfung eines Versicherungsfalles in der gesetzlichen Unfallversicherung unbeachtlich ist, weil verbotswidriges Handeln einen Versicherungsfall nicht ausschließt (§ 548 Abs 3 RVO; heute: § 7 Abs 2 SGB VII), erfolgt im Sozialrecht diese Unterscheidung und Zurechnung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung. Nach dieser werden als kausal und rechtserheblich nur solche Ursachen angesehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (grundlegend: Reichsversicherungsamt, AN 1912, S 930 f; übernommen vom BSG in BSGE 1, 72, 76; BSGE 1, 150, 156 f; stRspr vgl zuletzt - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15, jeweils RdNr 11). Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw Gesundheitsschadens abgeleitet werden (BSGE 1, 72, 76).

Für die wertende Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache hat die Rechtsprechung folgende Grundsätze herausgearbeitet: Es kann mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. "Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit "gleichwertig" oder "annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die andere(n) Ursache(n) keine überragende Bedeutung hat (haben) (BSG SozR Nr 69 zu § 542 aF RVO; BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO; vgl Krasney in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd 3, Gesetzliche Unfallversicherung, Stand Januar 2006, § 8 RdNr 314, Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 7. Aufl 2003, Kap 1.3.6.1, S 80 f). Ist jedoch eine Ursache oder sind mehrere Ursachen gemeinsam gegenüber einer anderen von überragender Bedeutung, so ist oder sind nur die erstgenannte(n) Ursache(n) "wesentlich" und damit Ursache(n) im Sinne des Sozialrechts (BSGE 12, 242, 245 = SozR Nr 27 zu § 542 RVO; BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO). Die andere Ursache, die zwar naturwissenschaftlich ursächlich ist, aber (im zweiten Prüfungsschritt) nicht als "wesentlich" anzusehen ist und damit als Ursache nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und im Sinne des Sozialrechts ausscheidet, kann in bestimmten Fallgestaltungen als "Gelegenheitsursache" oder Auslöser bezeichnet werden (BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr 10; BSG SozR 2200 § 548 Nr 75; - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 11). Für den Fall, dass die kausale Bedeutung einer äußeren Einwirkung mit derjenigen einer bereits vorhandenen krankhaften Anlage zu vergleichen und abzuwägen ist, ist darauf abzustellen, ob die Krankheitsanlage so stark oder so leicht ansprechbar war, dass die "Auslösung" akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Art unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurfte, sondern dass jedes andere alltäglich vorkommende Ereignis zu derselben Zeit die Erscheinung ausgelöst hätte (BSGE 62, 220, 222 f = SozR 2200 § 589 Nr 10; - BSGE 94, 269 = SozR 4-2700 § 8 Nr 15 jeweils RdNr 11; ähnlich Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO). Bei der Abwägung kann der Schwere des Unfallereignisses Bedeutung zukommen. Dass der Begriff der Gelegenheitsursache durch die Austauschbarkeit der versicherten Einwirkung gegen andere alltäglich vorkommende Ereignisse gekennzeichnet ist, berechtigt jedoch nicht zu dem vom LSG offenbar gezogenen Umkehrschluss, dass bei einem gravierenden, nicht alltäglichen Unfallgeschehen, wie es im Fall des Klägers vorgelegen hat, ein gegenüber der Krankheitsanlage rechtlich wesentlicher Ursachenbeitrag ohne weiteres zu unterstellen ist.

Gesichtspunkte für die Beurteilung der besonderen Beziehung einer versicherten Ursache zum Erfolg sind neben der versicherten Ursache bzw dem Ereignis als solchem, einschließlich der Art und des Ausmaßes der Einwirkung, die konkurrierende Ursache unter Berücksichtigung ihrer Art und ihres Ausmaßes, der zeitliche Ablauf des Geschehens - aber eine Ursache ist nicht deswegen wesentlich, weil sie die letzte war -, weiterhin Rückschlüsse aus dem Verhalten des Verletzten nach dem Unfall, den Befunden und Diagnosen des erstbehandelnden Arztes sowie der gesamten Krankengeschichte. Ergänzend kann der Schutzzweck der Norm heranzuziehen sein (vgl BSGE 38, 127, 129 = SozR 2200 § 548 Nr 4; BSG SozR 4-2200 § 589 Nr 1).

Wenn auch die Theorie der wesentlichen Bedingung im Unterschied zu der an der generellen Geeignetheit einer Ursache orientierten Adäquanztheorie auf den Einzelfall abstellt (vgl zu den Unterschieden BSGE 63, 277, 280 = SozR 2200 § 548 Nr 91; Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 312), bedeutet dies nicht, dass generelle oder allgemeine Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang bei der Theorie der wesentlichen Bedingungen nicht zu berücksichtigen oder bei ihr entbehrlich wären (vgl schon BSG SozR Nr 6 zu § 589 RVO). Die Kausalitätsbeurteilung hat auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes über die Möglichkeit von Ursachenzusammenhängen zwischen bestimmten Ereignissen und der Entstehung bestimmter Krankheiten zu erfolgen. Das schließt eine Prüfung ein, ob ein Ereignis nach wissenschaftlichen Maßstäben überhaupt geeignet ist, eine bestimmte körperliche oder seelische Störung hervorzurufen. Soweit das LSG die bei psychischen Erkrankungen zuletzt insbesondere vom 9. Senat des BSG (BSGE 74, 51, 53 = SozR 3-3800 § 1 Nr 3; BSGE 77, 1, 3 = SozR 3-3800 § 1 Nr 4) erhobene Forderung nach einer generellen, durch wissenschaftliche Erkenntnisse untermauerten Plausibilität der behaupteten Ursache-Wirkungs-Beziehung ablehnt, weil darin eine verdeckte Rückkehr zur Adäquanztheorie des Zivilrechts zu sehen sei, verkennt es Inhalt und Zielrichtung dieser Rechtsprechung. Es geht dabei nicht um die Ablösung der für das Sozialrecht kennzeichnenden individualisierenden und konkretisierenden Kausalitätsbetrachtung durch einen generalisierenden, besondere Umstände des Einzelfalls außer Betracht lassenden Maßstab, sondern um die Bekräftigung des allgemeinen beweisrechtlichen Grundsatzes, dass die Beurteilung medizinischer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge auf dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aufbauen muss (BSG SozR 3850 § 51 Nr 9; BSG SozR 1500 § 128 Nr 31 = SGb 1988, 506 mit Anmerkung von K. Müller; BSG SozR 3-3850 § 52 Nr 1; Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 4. Aufl 2005, III RdNr 47, 57; Rauschelbach, MedSach 2001, 97; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 2.3.4.3, S 146).

Dies erfordert nicht, dass es zu jedem Ursachenzusammenhang statistisch-epidemiologische Forschungen geben muss (so wohl Stevens/Foerster, MedSach 2003, 104, 107), weil dies nur eine Methode zur Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse ist und sie im Übrigen nicht auf alle denkbaren Ursachenzusammenhänge angewandt werden kann und braucht, zB nicht bei einem Treppensturz und anschließendem Beinbruch ohne erkennbare Besonderheiten (vgl Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 312). Gibt es keinen allgemein geltenden medizinischen Erkenntnisstand zu einer bestimmten Fragestellung, kann in Abwägung der verschiedenen Auffassungen einer nicht nur vereinzelt vertretenen Auffassung gefolgt werden (BSG SozR Nr 33 zu § 128 SGG; ähnlich Kopp / Schenke, VwGO, 14. Aufl 2005, § 108 RdNr 9).

Dieser wissenschaftliche Erkenntnisstand ist jedoch kein eigener Prüfungspunkt bei der Prüfung des Ursachenzusammenhangs, sondern nur die wissenschaftliche Grundlage, auf der die geltend gemachten Gesundheitsstörungen des konkreten Versicherten zu bewerten sind (vgl BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO). Bei dieser einzelfallbezogenen Bewertung kann entgegen der Auffassung der Beklagten nur auf das individuelle Ausmaß der Beeinträchtigung des Versicherten abgestellt werden, aber nicht so wie er es subjektiv bewertet, sondern wie es objektiv ist. Die Aussage, der Versicherte ist so geschützt, wie er die Arbeit antritt, ist ebenfalls diesem Verhältnis von individueller Bewertung auf objektiver, wissenschaftlicher Grundlage zuzuordnen: Die Ursachenbeurteilung im Einzelfall hat "anhand" des konkreten individuellen Versicherten unter Berücksichtigung seiner Krankheiten und Vorschäden zu erfolgen, aber auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes.

Beweisrechtlich ist zu beachten, dass der je nach Fallgestaltung ggf aus einem oder mehreren Schritten bestehende Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Unfallfolgen als anspruchsbegründende Voraussetzung positiv festgestellt werden muss. Dies wird häufig bei einem klar erkennbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, vor allem wenn es keine feststellbare konkurrierende Ursache gibt, kein Problem sein. Aber es gibt im Bereich des Arbeitsunfalls keine Beweisregel, dass bei fehlender Alternativursache die versicherte naturwissenschaftliche Ursache automatisch auch eine wesentliche Ursache ist, weil dies bei komplexem Krankheitsgeschehen zu einer Beweislastumkehr führen würde (BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542 aF RVO; ; zu Berufskrankheiten vgl § 9 Abs 3 SGB VII). Für die Feststellung dieses Ursachenzusammenhangs - der haftungsbegründenden und der haftungsausfüllenden Kausalität - genügt hinreichende Wahrscheinlichkeit (stRspr BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542 aF RVO; BSGE 32, 203, 209 = SozR Nr 15 zu § 1263 aF RVO; BSGE 45, 285, 287 = SozR 2200 § 548 Nr 38, BSGE 58, 80, 83 = SozR 2200 § 555a Nr 1). Diese liegt vor, wenn mehr für als gegen den Ursachenzusammenhang spricht und ernste Zweifel ausscheiden; die reine Möglichkeit genügt nicht (BSG SozR Nr 41 zu § 128 SGG; BSG SozR Nr 20 zu § 542 aF RVO; BSGE 19, 52 = SozR Nr 62 zu § 542 aF RVO; BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 67; Schönberger/Mehrtens/Valentin aaO, Kap 1.8.2, S 119 f; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl 2005, § 128 RdNr 3c).

2. Diese Grundlagen der Theorie der wesentlichen Bedingung gelten für alle als Unfallfolgen geltend gemachten Gesundheitsstörungen und damit auch für psychische Störungen. Die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente für sie ist ebenso wie für andere Gesundheitsstörungen möglich. Denn auch psychische Reaktionen können rechtlich wesentlich durch ein Unfallereignis verursacht werden (vgl schon Reichsversicherungsamt, AN 1926, 480; BSGE 18, 173, 175 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO; 9b RU 56/84 -; BSGE 61, 113 = SozR 2200 § 1252 Nr 6; = BSGE 66, 156 = SozR 3-2200 § 553 Nr 1; vgl im Übrigen Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 5.1, S 227 ff; ebenso zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 277 f = SozR Nr 174 zu § 162 SGG). Aus dem Ausschluss so genannter Schockschäden aus dem Kreis der versicherten Risiken in der privaten Unfallversicherung ist für die gesetzliche Unfallversicherung ebenso wenig herleitbar wie für das zivilrechtliche Schadensersatzrecht (vgl BGHZ 132, 341, 343 f; BGHZ 137, 142, 145; Heinrichs in Palandt, aaO, Vorb v § 249 RdNr 69 ff). Psychische Gesundheitsstörungen können nach einem Arbeitsunfall in vielfältiger Weise auftreten: Sie können unmittelbare Folge eines Schädel-Hirn-Traumas mit hirnorganischer Wesensänderung sein, sie können aber auch ohne physische Verletzungen, zB nach einem Banküberfall, entstehen, sie können die Folge eines erlittenen Körperschadens, zB einer Amputation, sein, sie können sich in Folge der Behandlung des gesundheitlichen Erstschadens erst herausbilden (vgl nur Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO).

a) Voraussetzung für die Anerkennung von psychischen Gesundheitsstörungen als Unfallfolge und die Gewährung einer Verletztenrente aufgrund von ihnen ist zunächst die Feststellung der konkreten Gesundheitsstörungen, die bei dem Verletzten vorliegen und seine Erwerbsfähigkeit mindern ( 9b RU 56/84; vgl -). Angesichts der zahlreichen in Betracht kommenden Erkrankungen und möglicher Schulenstreite sollte diese Feststellung nicht nur begründet sein, sondern aufgrund eines der üblichen Diagnosesysteme und unter Verwendung der dortigen Schlüssel und Bezeichnungen erfolgen, damit die Feststellung nachvollziehbar ist (zB ICD-10 = Zehnte Revision der internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO aus dem Jahre 1989, vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information <DIMDI> ins Deutsche übertragen, herausgegeben und weiterentwickelt; DSM-IV = Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen der Amerikanischen psychiatrischen Vereinigung aus dem Jahre 1994, deutsche Bearbeitung herausgegeben von Saß/Wittchen/Zaudig, 3. Aufl 2001). Denn je genauer und klarer die bei dem Versicherten bestehenden Gesundheitsstörungen bestimmt sind, um so einfacher sind ihre Ursachen zu erkennen und zu beurteilen sowie letztlich die MdE zu bewerten. Begründete Abweichungen von diesen Diagnosesystemen aufgrund ihres Alters und des zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Fortschritts sind damit nicht ausgeschlossen.

Derart klar definierte Gesundheitsstörungen des Klägers sind den Feststellungen des LSG nicht zu entnehmen. Das LSG hat zwar ausgeführt, der Kläger habe eine Somatisierungsstörung sowie eine ängstlich depressive Störung entwickelt und leide an mnestischen Störungen. Was dies aber konkret und bezogen auf die für die Gewährung einer Verletztenrente entscheidende MdE bedeutet, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Eine ängstlich depressive Störung zB kann völlig unterschiedliche Ausprägungen haben, dauerhaft, nur zeitweise oder nur in Abhängigkeit von bestimmten Umständen bestehen. Angesichts dieser mangelnden Feststellungen des LSG zu den beim Kläger vorliegenden Gesundheitsstörungen bedarf es auch keiner Auseinandersetzung mit dem Revisionsvorbringen der Beklagten, beim Kläger liege keine posttraumatische Belastungsstörung vor, weil er kein Trauma im Sinne der Definition einer solchen nach der ICD-10 oder dem DSM-IV erlitten habe.

b) Für die im nächsten Schritt erforderliche Beurteilung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem Unfallereignis und den festgestellten psychischen Gesundheitsstörungen gelten die obigen allgemeinen Grundsätze (so schon 9b RU 56/84). Zunächst muss geprüft werden, welche Ursachen für die festgestellte(n) psychische(n) Gesundheitsstörung(en) nach der Bedingungstheorie gegeben sind, und dann in einem zweiten Schritt, ob die versicherte Ursache - das Unfallereignis - direkt oder mittelbar für diese Gesundheitsstörungen wesentlich im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung war.

Basis dieser Beurteilung müssen zum einen der konkrete Versicherte mit seinem Unfallereignis und seinen Erkrankungen und zum anderen der aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisstand über die Ursachenzusammenhänge zwischen Ereignissen und psychischen Gesundheitsstörungen sein.

Die Feststellung des jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes mag gerade auf Gebieten, die derart in der Entwicklung begriffen sind, wie die Psychiatrie und Psychologie (vgl aktuell nur MedSach 2006, Heft 2, S 49 ff zu neuen Aspekten bei der Beurteilung psychoreaktiver und neuropsychologischer Störungen) schwierig sein, ist aber für eine objektive Urteilsfindung unerlässlich. Ausgangsbasis müssen die Fachbücher und Standardwerke insbesondere zur Begutachtung im jeweiligen Bereich sein (vgl ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Fritze, Ärztliche Begutachtung, 6. Aufl 2001, Mehrhoff/Meindl/Muhr, Unfallbegutachtung, 11. Aufl 2005; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO; vgl speziell Venzlaff/ Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl 2004). Außerdem sind, soweit sie vorliegen und einschlägig sind, die jeweiligen Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) zu berücksichtigen (vgl Leitlinie Somatoforme Störungen 1, AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/001; Leitlinie Posttraumatische Belastungsstörung, ICD-10: F 43.1, AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/010; die nicht aktualisierte Leitlinie Ärztliche Begutachtung in der Psychosomatik und Psychotherapeutischen Medizin - Sozialrechtsfragen AWMF-Leitlinien-Register Nr 051/022, jeweils im Internet unter: www.uni-duesseldorf.de/awmf). Hinzu kommen andere aktuelle Veröffentlichungen (vgl nur die Beiträge in: MedSach 2006, 49 ff sowie M. Fabra, MedSach 2006, 26 ff; V. Kaiser, BG 2005, 679 ff; E. Wehking, MedSach 2004, 164 ff; zu ähnlichen Anforderungen bei der Beurteilung psychischer Störungen im Rentenrecht: -). Diese verschiedenen Veröffentlichungen sind jedoch jeweils kritisch zu würdigen, zumal ein Teil der Autoren aktive oder ehemalige Bedienstete von Versicherungsträgern sind oder diesen in anderer Weise nahe stehen.

Eine bloße Literaturauswertung seitens des Gerichts dürfte zur Feststellung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes in der Regel nicht genügen, weil dessen Beurteilung zumeist medizinische Fachkunde voraussetzt. Vielmehr wird die Klärung des der Ursachenbeurteilung zugrunde zu legenden, aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes im Rahmen des für die Einzelfallbeurteilung ohnehin benötigten Gutachtens erfolgen können oder, wenn der Ursache-Wirkungs-Zusammenhang umstritten ist, wird ggf über ihn ein besonderes Sachverständigengutachten einzuholen sein. Andererseits wird, wenn eine bestimmte Diagnose ein Ereignis einer bestimmten Schwere voraussetzt, von einem entsprechenden aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand auszugehen sein.

Die Klärung des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes macht die Einholung von Sachverständigengutachten und die eigenständige verantwortliche Beurteilung des konkreten Einzelfalls durch einen Sachverständigen nicht entbehrlich. Dieser Erkenntnisstand ist aber die Basis für die Beurteilung des Sachverständigen, von der er nur wissenschaftlich begründet abweichen kann, und macht sein Gutachten für die Beteiligten und das Gericht transparent und nachvollziehbar. Denn auch für die Beurteilung des Einzelfalles kommt es nicht auf die allgemeine wissenschaftliche Auffassung des einzelnen Sachverständigen an, sondern den aktuellen medizinischen Erkenntnisstand.

Eine wissenschaftlich begründete Ursachenbeurteilung sowohl nach der naturwissenschaftlich-philosophischen Bedingungstheorie als auch nach der Theorie der wesentlichen Bedingung erfordert, dass neben der Feststellung der vorliegenden Gesundheitsstörungen klar festgestellt wird, worin das oder die schädigenden Ereignisse lagen: In dem Unfallereignis - vorliegend in dem Frontalzusammenstoß der zwei Straßenbahnen mit dem Eingeklemmtsein - oder zB in der nachfolgenden Behandlung oder in dem Fortbestehen physischer Einschränkungen, die durch das Unfallereignis verursacht wurden. Ohne klare Feststellung der naturwissenschaftlichen Ursachenzusammenhänge hinsichtlich der geltend gemachten Gesundheitsstörung kann eine zuverlässige Ursachenbeurteilung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung und in Abwägung der verschiedenen Gesichtspunkte für die Beurteilung der Wesentlichkeit einer Ursache nicht erfolgen. Andernfalls können die Ereignisse und Ursachen nicht zueinander in Verhältnis gesetzt und nicht in die Krankheitsgeschichte des Verletzten eingeordnet werden. Die Annahme einer Verschlimmerung ggf vorbestehender Gesundheitsstörungen durch das Unfallereignis setzt voraus, dass der Vorschaden und der unfallbedingte Verschlimmerungsanteil abgrenzbar sind (BSGE 7, 53, 56; BSG SozR 3-3100 § 10 Nr 6; Krasney in Brackmann, aaO, § 8 RdNr 383; Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 1.3.7.2 S 84 ff).

Diesen Anforderungen wird das Urteil des LSG nicht gerecht. Auf der Grundlage welchen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes das LSG seine Entscheidung getroffen hat bzw welcher den Gutachten, denen es zum Teil gefolgt ist, zugrunde lag, ist dem Urteil nicht zu entnehmen, zumal das LSG dem im zweitinstanzlichen Verfahren gehörten Sachverständigen Dr. H. im Ergebnis nicht gefolgt ist. Angaben zu allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Zusammenhänge zwischen Unfallereignissen wie hier und dem Auftreten von psychischen Gesundheitsstörungen fehlen. Das LSG geht in seinem Urteil (S 25) davon aus, das Unfallereignis habe im Sinne einer conditio sine qua non mit Wahrscheinlichkeit eine Somatisierungsstörung und eine ängstlich depressive Störung entwickelt, andere Ursachen für diese Erkrankung seien nicht feststellbar. Dies genügt jedoch nicht zur Feststellung einer wesentlichen Verursachung dieser Erkrankung durch das Unfallereignis, wie sich aus den oben dargelegten Grundlagen ergibt. Auch wenn - laienhaft betrachtet - der Frontalzusammenstoß zweier Straßenbahnen für deren Fahrer ein Ereignis sein mag, das bei diesen zu psychischen Beschwerden und ggf Erkrankungen führen kann, führt dies angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge nicht quasi automatisch zur Anerkennung einer, wie dargelegt, ungenau bezeichneten Somatisierungsstörung bzw ängstlich depressiven Störung. Entgegen der Auffassung des LSG kann aus dem rein zeitlichen Aufeinanderfolgen des Unfalls und der später auftretenden psychischen Gesundheitsstörung sowie der mangelnden Feststellung konkurrierender Ursachen nicht gefolgert werden, dass die psychischen Gesundheitsstörungen wesentlich durch den Unfall verursacht wurden. Denn - wie in den Grundlagen ausgeführt - kann aus einem rein zeitlichen Zusammenhang und der Abwesenheit konkurrierender Ursachen nicht automatisch auf die Wesentlichkeit der einen festgestellten naturwissenschaftlich-philosophischen Ursache geschlossen werden. Ebenfalls unzureichend ist die Erwägung des LSG, keiner der Ärzte, die einen wesentlichen Ursachenzusammenhang verneinten, habe eine plausible Erklärung für die Wendung und den Verlauf des Lebens des Klägers nach dem Unfall geliefert. Hieraus ist entsprechend den obigen Grundlagen nichts ableitbar. Angesichts der Komplexität psychischer Vorgänge und des Zusammenwirkens gegebenenfalls lange Zeit zurückliegender Faktoren, die unter Umständen noch nicht einmal dem Kläger bewusst sind, würde dies zu einer Beweislastumkehr führen, für die keine rechtliche Grundlage zu erkennen ist. Das Urteil des LSG lässt außerdem offen, ob sich die vom LSG festgestellten Gesundheitsstörungen direkt aufgrund des Unfallereignisses entwickelt haben oder ob mögliche Zwischenschritte, zB das vom SG angeführte "Unverstandenfühlen", zu berücksichtigen sind und welche Bedeutung ihnen im Krankheitsgeschehen zukommt.

c) Zu den vom LSG und den Beteiligten erörterten weiteren Gesichtspunkten ist ausgehend von den aufgezeigten Grundlagen auf Folgendes hinzuweisen:

Es kann dahingestellt bleiben, ob und in welchen Konstellationen die Forderung nach einem geeigneten Unfallereignis, bei dessen Nichtvorliegen die wesentliche Verursachung einer psychischen Unfallfolge generell ausgeschlossen wird und die letztlich auf die Festlegung eines ungeeigneten Unfallereignisses abzielt, derzeit wissenschaftlich begründbar ist. Sie setzt voraus, dass es möglich ist, in quantitativer und qualitativer Hinsicht zu bestimmen, bis zu welcher Intensität ein Unfall bei keinem Versicherten eine (bestimmte) psychische Unfallfolge wesentlich verursachen kann. Derartiges ist den genannten Standardwerken in dieser Absolutheit für kein Unfallgeschehen zu entnehmen (vgl Schönberger/Mehrtens/Valentin, aaO, Kap 5.1.9.2.2, , S 236 ff; M. Benz, NZS 2002, 8, 14; vgl zum Zivilrecht BGHZ 137, 142, 146 ff). Die ihr zugrunde liegende Auffassung unterscheidet außerdem nicht zwischen den zwei Prüfungsstufen Bedingungstheorie sowie Theorie der wesentlichen Bedingung und führt gegebenenfalls bei der wertenden Entscheidung nach der Theorie der wesentlichen Bedingung zu einem Zirkelschluss.

Dies bedeutet andererseits nicht, dass die Schwere des Unfallereignisses ohne Bedeutung wäre. Vielmehr ergibt sich dessen Gewicht zunächst schon aus den oben aufgezeigten allgemeinen Grundsätzen (zum Missverhältnis zwischen Unfallereignis, Krankheitsverlauf und psychischen Reaktionen vgl S. Brandenburg, MedSach 1997, 40, 41 f). Hinzu kommt, dass bestimmte Diagnosen ein entsprechend schweres Ereignis voraussetzen, zB erfordert das in diesem Zusammenhang oft und vorliegend von der Beklagten auch erörterte posttraumatische Belastungssyndrom nach der ICD-10 F 43.1 "ein belastendes außergewöhnliches Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde".

Eine Ursachenbeurteilung auf der Basis des aktuellen medizinischen-wissenschaftlichen Erkenntnisstandes setzt - wie ausgeführt - voraus, dass es wissenschaftliche Erkenntnisse über den Ursachenzusammenhang zwischen bestimmten traumatischen Ereignissen und bestimmten psychischen Erkrankungen gibt (ebenso zum Sozialen Entschädigungsrecht der 9. Senat des BSG in BSGE 74, 51, 53 = SozR 3-3800 § 1 Nr 3; BSGE 77, 1, 3 = SozR 3-3800 § 1 Nr 4). Dies beinhaltet entgegen der am 9. Senat geäußerten Kritik (S. Brandenburg MedSach 1997, 40, 42; W. Keller, SGb 1997, 10, 12 f) keine Ausnahme von der Theorie der wesentlichen Bedingung oder Übernahme der Adäquanztheorie. Denn die wissenschaftlichen Erkenntnisse, aufgrund deren die Beurteilung im Einzelfall erfolgt, können - wie oben dargelegt - nur allgemeine oder generelle sein (M. Benz, NZS 2002, 8, 12). Auch die Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache bei psychischen Gesundheitsstörungen kann keine von diesen wissenschaftlichen Erkenntnissen unabhängige Wertentscheidung im Einzelfall sein, sondern muss, wie auch aus den oben aufgezeigten allgemeinen Kriterien folgt, wissenschaftlich begründet sein.

Die auf der Basis dieses aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstandes durchzuführende Beurteilung des Einzelfalls hat in Würdigung des konkreten Versicherten zu erfolgen und darf nicht von einem fiktiven Durchschnittsmenschen ausgehen. Daher schließt eine "abnorme seelische Bereitschaft" die Annahme einer psychischen Reaktion als Unfallfolge nicht aus (BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO; 9b RU 56/84 -; 9b RU 36/86 - SozR 2200 § 581 Nr 26; vgl zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 278 = SozR Nr 174 zu § 162 SGG; zum Zivilrecht: BGHZ 132, 341, 345 f; BGHZ 137, 142, 145 f).

Andererseits liegt es auf der Hand, dass wunschbedingte Vorstellungen seitens des Versicherten nach einem Unfall, zB allgemein nach einem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ("Unfall als Regressionsangebot") oder konkret auf eine Verletztenrente, einen wesentlichen Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und nun bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen nicht zu begründen vermögen. Soweit diese Vorstellungen neben das als naturwissenschaftliche Ursache der bestehenden psychischen Gesundheitsstörungen anzusehende Unfallereignis treten, sind sie als konkurrierende Ursache zu würdigen und können nach dem oben Gesagten der Bejahung eines wesentlichen Ursachenzusammenhangs zwischen der versicherten Ursache Unfallereignis und den psychischen Gesundheitsstörungen entgegenstehen (BSGE 18, 173, 176 = SozR Nr 61 zu § 542 RVO; 9b RU 56/84 -; 9b RU 36/86 - SozR 2200 § 581 Nr 26; vgl zum sozialen Entschädigungsrecht BSGE 19, 275, 278 = Nr 174 zu § 162 SGG; zum Zivilrecht: BGHZ 137, 142, 148 ff).

Da das BSG die aufgezeigten notwendigen Feststellungen nicht selbst nachholen kann, ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das LSG wird auf der Basis des aktuellen allgemein geltenden, wissenschaftlichen Erkenntnisstandes zu ermitteln haben, an welchen Gesundheitsstörungen der Kläger, insbesondere auf psychiatrisch-neurologischem Fachgebiet leidet und wodurch diese nach der naturwissenschaftlichen Bedingungstheorie verursacht wurden. Wenn das Unfallereignis vom direkt oder vermittels eines bestimmten Erstschadens oder einer bestimmten Behandlung eine solche naturwissenschaftliche Ursache für eine bestimmte Gesundheitsstörung war, ist zu klären, ob es auch eine wesentliche Ursache im Sinne der Theorie der wesentlichen Bedingung nach aktuellem, allgemein geltenden, wissenschaftlichen Erkenntnisstand war. Abschließend ist für die als Unfallfolge anzuerkennende(n), durch das Unfallereignis wesentlich verursachte(n) Gesundheitsstörung(en) zu schätzen, in welcher Höhe und für welche Zeit sie zu einer MdE im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung geführt haben.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Fundstelle(n):
PAAAC-17577