Steuerfreie Zukunftssicherungsleistungen für einen Chorsänger
Leitsatz
Arbeitgeber(pflicht)beiträge, die für einen bei einem staatlichen Opernhaus angestellten Chorsänger an die Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen entrichtet werden, stellen gemäß § 3 Nr. 62 EStG steuerfreie Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers dar. Aufgrund des vom Gesetzgeber bewusst deutlich erweiterten Anwendungsbereichs des § 3 Nr. 62 EStG durch das StÄndG 1992 ist es nicht gerechtfertigt, entgegen dem Gesetzeswortlaut Zwangsbeiträge aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift auszuschließen, die aufgrund einer durch vorkonstitutionelles Gesetz entstandenen und als Bundesrecht fortgeltenden Tarifordnung an eine öffentlich-rechtliche Anstalt geleistet werden. Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass gemäß § 10 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes die Regelung eines Tarifvertrags Vorrang gegenüber der Tarifordnung hat. Die Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien ist unerheblich, solange die Tarifordnung in Kraft bleibt und ihre Bestimmungen nicht tatsächlich durch Regelungen eines Tarifvertrags verdrängt werden.
Gesetze: EStG § 3 Nr. 62, EStG § 19
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist als Opernchorsänger an der Oper in X angestellt und erzielte im Streitjahr (1998) unter anderem Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Arbeitgeber ist als Rechtsträger des Opernhauses Pflichtmitglied der Versorgungsanstalt der deutschen Bühnen (VddB). Der Kläger ist dort pflichtversichert. Nach der Satzung der VddB entfallen die monatlichen Pflichtbeiträge jeweils zur Hälfte auf das Mitglied (Arbeitgeber) und den Versicherten. Das Mitglied ist verpflichtet, den Beitragsanteil des Versicherten von den Dienstbezügen laufend einzubehalten. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) erfasste in Übereinstimmung mit der Lohnsteuerbescheinigung des Arbeitgebers den für den Kläger an die VddB geleisteten Arbeitgeberanteil von insgesamt 3 120,24 DM als steuerpflichtigen Arbeitslohn. Dagegen erhob der Kläger nach erfolglosem Einspruch Klage, der das Finanzgericht (FG) stattgab (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2001, 1264).
Mit der Revision rügt das FA die fehlerhafte Anwendung des § 3 Nr. 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mit Urteil vom VI 385/65 (BFHE 100, 320, BStBl II 1971, 22) entschieden, dass die für die VddB maßgebliche Tarifordnung kein Gesetz i.S. von § 2 Abs. 3 Nr. 2 Satz 6 der Lohnsteuer-Durchführungsverordnung (LStDV) a.F. (jetzt § 3 Nr. 62 EStG) sei, weil es sich um eine tarifliche Regelung handele. Die Erweiterung der Steuerbefreiung durch § 3 Nr. 62 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes 1992 (StÄndG) vom (BGBl I 1992, 297) habe hieran nichts geändert. Davon sei auch das FG Berlin in seinem Urteil vom 5305/96 (EFG 1998, 1570) ausgegangen.
Während des Revisionsverfahrens sind mehrfach auf § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) gestützte Änderungsbescheide ergangen, der letzte Bescheid datiert vom .
Das FA beantragt sinngemäß, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage gegen den geänderten Einkommensteuerbescheid 1998 vom abzuweisen.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Revision des FA als unbegründet zurückzuweisen und den Änderungsbescheid vom dahin abzuändern, dass Zukunftssicherungsleistungen von 3 120,24 DM steuerfrei bleiben.
II. 1. Das angefochtene Urteil des FG ist aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben, da es über den ursprünglichen Einkommensteuerbescheid vom in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom entschieden hat. An die Stelle dieses Bescheids ist während des Revisionsverfahrens der letzte Änderungsbescheid vom getreten. Dieser ist gemäß § 68 Satz 1, § 121 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden. Da dem FG-Urteil der nicht mehr existierende Bescheid zugrunde liegt, kann es keinen Bestand haben (vgl. , BFHE 210, 398, BStBl II 2006, 20, m.w.N.).
2. Der geänderte Einkommensteuerbescheid 1998 vom ist rechtswidrig, weil das FA den strittigen Arbeitgeberanteil der an die VddB geleisteten Beiträge zu Unrecht nicht gemäß § 3 Nr. 62 EStG steuerfrei gelassen hat.
a) Gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit alle Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden. Nach § 2 Abs. 1 LStDV sind Arbeitslohn alle Einnahmen, die dem Arbeitnehmer aus dem Dienstverhältnis zufließen. Dazu gehören nach Abs. 2 Nr. 3 der Vorschrift auch Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers, vorausgesetzt dass der Arbeitnehmer der Zukunftssicherung ausdrücklich oder stillschweigend zustimmt. Gemäß § 3 Nr. 62 Satz 1 EStG sind Ausgaben des Arbeitgebers für die Zukunftssicherung des Arbeitnehmers steuerfrei, soweit der Arbeitgeber dazu nach sozialversicherungsrechtlichen oder anderen gesetzlichen Vorschriften oder nach einer auf gesetzlicher Ermächtigung beruhenden Bestimmung verpflichtet ist.
b) Die für den Kläger an die VddB geleisteten Arbeitgeberbeiträge gehören nach diesen Vorschriften zum Arbeitslohn.
aa) Zum Arbeitslohn gehören grundsätzlich auch Beiträge, die ein Arbeitgeber für die Zukunftssicherung eines Arbeitnehmers an einen Dritten leistet (, BFHE 188, 334, BStBl II 2000, 406, sowie VI R 66/97, BFHE 188, 338, BStBl II 2000, 408, m.w.N.). Denn die Zukunftssicherung fällt typischerweise in den Verantwortungsbereich des Arbeitnehmers; finanziert sie der Arbeitgeber, wendet er Arbeitslohn zu (, BFHE 206, 158, BStBl II 2004, 1014). Etwas anderes gilt für die gesetzlich geschuldeten Arbeitgeberanteile zur Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, weil der einzelne pflichtversicherte Arbeitnehmer durch die Zahlung weder einen individuellen mitgliedschafts- oder beitragsrechtlichen Vorteil noch einen leistungsrechtlichen oder sonstigen Vermögenszuwachs erfährt (, BFHE 199, 524, BStBl II 2003, 34, im Anschluss an das , BSGE 86, 262).
bb) Die für den Kläger an die VddB geleisteten Arbeitgeberbeiträge zählen nach diesen Maßstäben zum Arbeitslohn, weil sich dadurch die Leistungsansprüche des Klägers gegenüber der VddB erhöhen und er insoweit einen Vermögensvorteil bezieht. Nach der vom FG angeforderten und in Bezug genommenen Satzung der VddB beträgt das jährliche Ruhegeld einen bestimmten Prozentsatz der für den Versicherten entrichteten Beiträge, die jeweils zur Hälfte auf das Mitglied (Arbeitgeber) und den Versicherten entfallen. Das in § 2 Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 LStDV geregelte Erfordernis der mindestens stillschweigenden Zustimmung des Arbeitnehmers ist im Streitfall deshalb als erfüllt anzusehen, weil es sich um eine Pflichtversicherung handelt, der sich die Beteiligten nicht entziehen konnten.
c) Die an die VddB geleisteten Arbeitgeberbeiträge sind gemäß § 3 Nr. 62 EStG steuerfrei.
aa) Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut der Vorschrift. Denn die 1937 erlassene Tarifordnung stellt staatlich gesetztes, ursprünglich auf gesetzlicher Grundlage erlassenes Recht dar, das nach Art. 123, 125 des Grundgesetzes (GG) als Bundesrecht fortgilt (vgl. § 18 Abs. 2 des Gesetzes zur Ordnung der Arbeit in öffentlichen Verwaltungen und Betrieben vom , RGBl I 1934, 220 i.V.m. der Tarifordnung für die deutschen Theater vom , Reichsarbeitsblatt 1937 VI, 1080) und durch Verordnung des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung über die Aufhebung von Tarifordnungen und Lohngestaltungsanordnungen vom (Bundesanzeiger —BAnz— Nr. 78 vom ) ausdrücklich aufrechterhalten worden ist. Durch Art. 8 i.V.m. Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet H Abschn. III des Einigungsvertrages (BGBl II 1990, 889) ist dieses Bundesrecht auch für die neuen Bundesländer übernommen worden. Für die Steuerfreiheit der an die VddB abgeführten Arbeitgeberanteile spricht ferner, dass die Pflichtversicherung bei der VddB, einer bundesunmittelbaren rechtsfähigen Anstalt des öffentlichen Rechts, strukturelle Ähnlichkeiten mit der gesetzlichen Sozialversicherung aufweist. Deshalb wird von einem Teil des Schrifttums mit Recht die Anwendung des § 3 Nr. 62 EStG befürwortet (Blümich/Erhard, § 3 EStG Rz. 1150; Tormöhlen in Korn, § 3 EStG Rz. 146 a.E.; a.A. von Beckerath, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 3 Nr. 62 Rdnr. B 62/35).
bb) Gegen diese Auslegung des § 3 Nr. 62 EStG spricht nicht die Entwicklungsgeschichte, die der BFH seinem Urteil in BFHE 100, 320, BStBl II 1971, 22 für die Auslegung der Vorschrift des § 2 Abs. 3 Nr. 2 Satz 6 LStDV a.F. zugrunde gelegt hat. Daraus ist zwar abzuleiten, dass § 2 Abs. 3 Nr. 2 Satz 6 LStDV a.F. solche Zukunftssicherungsleistungen, die auf Tarifvertrag oder vorkonstitutioneller Tarifordnung beruhen, nicht steuerfrei stellen sollte. Durch die erneute Erweiterung des Wortlauts des § 3 Nr. 62 EStG durch das StÄndG 1992 ist jedoch eine Änderung der Rechtslage eingetreten. Durch diese Gesetzesänderung sollte klargestellt werden, dass nicht nur eine sozialversicherungsrechtliche, sondern auch eine andere gesetzliche sowie eine auf gesetzlicher Ermächtigung beruhende Verpflichtung zu Zukunftssicherungsleistungen zur Steuerfreiheit dieser Leistungen führt; dies sollte z.B. auch für Erstattungen nach der Erziehungsurlaubsverordnung oder nach entsprechenden Rechtsvorschriften der Länder gelten (BTDrucks 12/1108, S. 51). Angesichts dieses vom Gesetzgeber bewusst deutlich erweiterten Anwendungsbereichs der Vorschrift fehlt es an einer Rechtfertigung dafür, entgegen dem Gesetzeswortlaut Zwangsbeiträge aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift auszuschließen, die aufgrund einer durch vorkonstitutionelles Gesetz entstandenen und als Bundesrecht fortgeltenden Tarifordnung an eine öffentlich-rechtliche Anstalt geleistet werden.
Dieser Beurteilung steht nicht entgegen, dass gemäß § 10 Abs. 1 des Tarifvertragsgesetzes die Regelung eines Tarifvertrags Vorrang gegenüber der Tarifordnung hat. Mit Recht hat das FG die Dispositionsbefugnis der Tarifvertragsparteien als unerheblich angesehen, solange die Tarifordnung in Kraft bleibt und ihre Bestimmungen nicht tatsächlich durch Regelungen eines Tarifvertrages verdrängt werden.
3. Der Senat weicht nicht i.S. von § 11 Abs. 2 FGO von dem Beschluss des VI. Senats des , nicht veröffentlicht, ab, mit dem der VI. Senat die Revision der Kläger jenes Verfahrens gegen das Urteil des FG Berlin in EFG 1998, 1570, als unbegründet zurückgewiesen hat; denn dieser Beschluss ist gemäß Art. 1 Nr. 7 des Gesetzes zur Entlastung des Bundesfinanzhofs ohne Begründung ergangen (vgl. Sunder-Plassmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 11 FGO Rz. 27). Im Übrigen hatte das FG Berlin sein Urteil maßgeblich darauf gestützt, dass sich die Pflicht des Arbeitgebers, Musiker bei der Versorgungsanstalt der deutschen Kulturorchester zu versichern, letztlich allein aus dem betreffenden Tarifvertrag ergebe. Darin unterscheidet sich jener Fall vom hier zu beurteilenden Streitfall, in dem allein die Tarifordnung und die Satzung der VddB maßgebend sind.
4. Mithin ist die Einkommensteuer des Klägers antragsgemäß wie folgt herabzusetzen: ...
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 2242 Nr. 12
HFR 2007 S. 12 Nr. 1
NWB-Eilnachricht Nr. 41/2007 S. 3615
NWB-Eilnachricht Nr. 47/2006 S. 3964
NWB-Eilnachricht Nr. 6/2007 S. 7
MAAAC-17283