BVerfG Beschluss v. - 2 BvR 906/06

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 101 Abs. 1 Satz 2; GG Art. 2 Abs. 2 Satz 2; GG Art. 20 Abs. 3; GG Art. 103 Abs. 1

Instanzenzug: BGH 4 StR 110/05 vom LG Cottbus 22 KLs 6/00 vom

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG liegt nicht vor. Die Verfassungsbeschwerde ist unbegründet, soweit sie sich gegen die Herabsetzung der Gesamtstrafe und die Nichtberücksichtigung von Verfahrensverzögerungen bei der Strafzumessung richtet, und im Übrigen unzulässig.

I.

1. Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG liegt nicht vor.

Zwar kann ein Angeklagter seinem gesetzlichen Richter dadurch entzogen werden, dass ein an die tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz gebundenes Revisionsgericht eine nach dem Stand des Verfahrens gebotene Zurückverweisung an das Tatsachengericht unterlässt (vgl. BVerfGE 31, 145 <165>; 54, 100 <115>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, veröffentlicht NJW 1991, S. 2893; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, juris; BVerfGK 2, 207 <209>). Die Entscheidung des Revisionsgerichts verstößt aber nur dann gegen das Gebot des gesetzlichen Richters, wenn sie von willkürlichen Erwägungen bestimmt ist. Dies ist der Fall, wenn die Entscheidung des Gerichts sich bei der Auslegung und Anwendung der Norm so weit von dem sie beherrschenden verfassungsrechtlichen Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt hat, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist (vgl. BVerfGE 3, 359 <364>; 29, 45 <48 f.> m.w.N.).

Nach diesem Prüfungsmaßstab verletzt die Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO durch das Revisionsgericht nicht das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter. § 354 Abs. 1 StPO erlaubt im Falle der Aufhebung des Urteils wegen Gesetzesverletzung bei Anwendung des Gesetzes auf die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen eine eigene Entscheidung des Revisionsgerichts, sofern dieses in Übereinstimmung mit dem Antrag der Staatsanwaltschaft die gesetzlich niedrigste Strafe für angemessen erachtet. In der Rechtsprechung und im Schrifttum ist eine analoge Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO - auch nach Einfügung der Vorschriften des § 354 Abs. 1 a und 1 b StPO durch das 1. Justizmodernisierungsgesetz, mit denen die Reaktionsmöglichkeiten des Revisionsgerichts bei Mängeln der Rechtsfolgenentscheidung erweitert wurden (vgl. BTDrucks 15/3482, S. 21 f.) - anerkannt, wenn die Verfahrenslage jedes Ermessen über Art und Höhe der Rechtsfolge ausschließt oder die den Angeklagten am wenigsten belastende Rechtsfolge festgesetzt wird (vgl. Meyer-Goßner, StPO, 48. Aufl. 2005, § 354 Rn. 10, 27; Kuckein, in: Karlsruher Kommentar, StPO, 5. Aufl. 2003, § 354 Rn. 10; Wohlers, in: Systematischer Kommentar, StPO, Stand: September 2003, § 354 Rn. 47, 51; Hanack, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 25. Aufl. 1999, § 354 Rn. 12 f.; jeweils m.w.N. zur Rechtsprechung). Dieser Auslegung liegt der Gedanke zugrunde, dass das Revisionsgericht nicht eine am Schuldgehalt der begangenen Taten orientierte Auswahl zwischen mehreren möglichen Rechtsfolgen treffen darf, die den Angeklagten gegenüber einer möglicherweise milderen Verurteilung des Tatgerichts beschweren könnte. Anerkannt ist auch die Möglichkeit einer Einstellung von Verfahrensteilen durch das Revisionsgericht gemäß § 206 a StPO beim Vorliegen von Verfahrenshindernissen und gemäß § 154 Abs. 2 StPO auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. Wohlers, a.a.O., Rn. 14 f., 23).

Die hier vom Revisionsgericht vorgenommene Festsetzung des gesetzlich zulässigen Mindestmaßes der Gesamtstrafe nach Einstellung zweier Tatvorwürfe gemäß § 206 a und § 154 Abs. 2 StPO folgt dem Grundgedanken der Begrenzung der Rechtsfolgenfestsetzungskompetenz des Revisionsgerichts und stellt keine willkürliche Rechtsanwendung dar.

Nach der Einstellung der Tatvorwürfe der Bedrohung und Unterschlagung durch das Revisionsgericht blieb die Verurteilung hinsichtlich vier Fällen der Untreue und einer gefährlichen Körperverletzung in Tateinheit mit vorsätzlichem gefährlichen Eingriff in den Straßenverkehr bestehen. Für diese Delikte hatte das Tatgericht Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren, zehn Monaten, neun Monaten und zweimal acht Monaten verhängt. Die vom Revisionsgericht auf zwei Jahre und einen Monat herabgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe stellt das sich aufgrund dieser Einzelstrafen zwingend ergebende Mindestmaß der Gesamtstrafe dar (vgl. § 54 Abs. 1 Satz 2, § 39 Halbs. 2 StGB). Mit der Aufrechterhaltung der Gesamtstrafe trotz Wegfalls zweier für ihre Bildung vom Tatrichter für wesentlich erachteter Einzelstrafen (vgl. BVerfGK 2, 207) ist diese Fallgestaltung nicht vergleichbar.

2. Ein Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG liegt nicht vor.

Da sich die Beschwerdeführerin während der Dauer des Revisionsverfahrens nicht in Untersuchungshaft befand, ist Prüfungsmaßstab für die gerügte Verletzung des Beschleunigungsgebots nicht Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG, sondern das Recht auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren (vgl. BVerfGK 1, 269 <278>; 2, 239 <246>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des -, veröffentlicht NStZ 2005, S. 456). Ob eine mit dem Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes nicht in Einklang stehende Verfahrensverzögerung vorliegt, richtet sich nach den besonderen Umständen des Einzelfalls, die in einer umfassenden Gesamtwürdigung gegeneinander abgewogen werden müssen. Zu berücksichtigen sind dabei insbesondere die durch die Verzögerungen der Justizorgane verursachte Zeitdauer der Verfahrensverlängerung, die Gesamtdauer des Verfahrens, die Schwere des Tatvorwurfs, der Umfang und die Schwierigkeit des Verfahrensgegenstands sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens für den Betroffenen verbundenen besonderen Belastungen (vgl. BVerfGK 1, 269 <279>; 2, 239 <246 f.>).

Die Beschwerdeführerin sieht eine Verletzung des Beschleunigungsgebots in der Tatsache, dass der Generalbundesanwalt seinen Antrag im Revisionsverfahren mehr als vier Monate nach Eingang der Verfahrensakten gestellt und zu einer Erwiderung der Verteidigung nach weiteren sechs Monaten Stellung genommen hat.

Angesichts des überdurchschnittlichen Umfangs des Verfahrens mit unter anderem 33 Bänden Strafakten und 18 Beweismittelordnern und einer 35-tägigen Hauptverhandlung, zahlreicher und komplexer rechtlicher Fragestellungen, die die Verteidigung in zwei zusammen fast 400 Seiten umfassenden Revisionsbegründungsschriften und die Staatsanwaltschaft in einer knapp 170-seitigen Revisionsgegenerklärung ausgeführt haben, und mehrfacher Erwiderungen der Verteidigung auf die Anträge des Generalbundesanwalts kann hier bei einer Gesamtdauer des Revisionsverfahrens von etwa einem Jahr von einer durch die Justiz zu verantwortenden Verfahrensverzögerung nicht die Rede sein, zumal sich die Beschwerdeführerin während des Revisionsverfahrens nicht in Haft befand. Die vom Bundesverfassungsgericht in Einzelfällen bei Verfahrensverzögerungen in Haftsachen herangezogenen Maßstäbe, auf die sich die Beschwerdeführerin stützt, finden hier keine Stütze.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, soweit mit ihr ein Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend gemacht wird. Der Vortrag der Beschwerdeführerin, die Entscheidung des Revisionsgerichts lasse nicht eine Berücksichtigung der in Erwiderung auf die Antragsschrift des Generalbundesanwalts vorgetragenen Erwägungen erkennen, begründet keine Beschwer.

Dem Grundgesetz lässt sich nicht entnehmen, dass jede gerichtliche Entscheidung mit einer Begründung zu versehen ist. Bei mit ordentlichen Rechtsmitteln nicht mehr anfechtbaren letztinstanzlichen Entscheidungen kann dies verfassungsrechtlich geboten sein, wenn ein Gericht von Normen einfachen Rechts in der Auslegung, die sie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung gewonnen haben, abweicht (vgl. BVerfGE 50, 287 <289 f.>; 71, 122 <135 f.>; 81, 97 <106>). Dies ist hier, wie dargelegt, bei der Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO nicht geschehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

Fundstelle(n):
MAAAC-15783