BSG Urteil v. - B 2 U 15/03 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: SGB X § 111 Satz 2 nF; SGB X § 120 Abs 2

Instanzenzug: SG Frankfurt vom

Gründe

I

Die Klägerin gewährte als Träger der gesetzlichen Rentenversicherung ihrem Versicherten R. bis zu dessen Tod im Juli 1997 Regelaltersrente und danach ab August 1997 seiner hinterbliebenen Ehefrau Witwenrente. Mit Bescheid vom bewilligte die beklagte Unfallkasse für R. wegen der Folgen einer Berufskrankheit rückwirkend für die Zeit von April bis Juli 1997 Verletztenrente. Der Witwe bewilligte sie mit weiterem Bescheid vom rückwirkend ab dem Todestag Hinterbliebenenrente. Abschriften der beiden Bescheide gingen am bei der Klägerin ein. Diese berechnete die von ihr zu zahlenden Renten wegen des Zusammentreffens mit den Renten der Beklagten neu und machte am bei der Beklagten einen Erstattungsanspruch in Höhe von 36.794,46 DM wegen überzahlter Witwenrente sowie am einen Erstattungsanspruch in Höhe von 3.467,63 DM wegen überzahlter Altersrente geltend.

Die Beklagte erstattete der Klägerin die für die Zeit von August 1998 bis Mai 1999 zuviel gezahlte Witwenrente in Höhe von 13.619,10 DM. Wegen der vor August 1998 geleisteten Witwenrente und wegen der Altersrente lehnte sie unter Berufung auf die Ausschlussfrist des § 111 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) eine Erstattung ab.

Die auf Zahlung von 19.052,82 DM sowie 3.467,63 DM gerichteten Klagen hat das Sozialgericht (SG) Frankfurt verbunden und durch Gerichtsbescheid vom abgewiesen, weil die noch streitigen Erstattungsansprüche spätestens im Juli 1998 entstanden und damit zum Zeitpunkt ihrer Anmeldung im August bzw November 1999 nach § 111 SGB X ausgeschlossen gewesen seien. Auf die Berufung der Klägerin hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Auf den Erstattungsanspruch sei die durch das Gesetz zur Einführung des Euro im Sozial- und Arbeitsrecht sowie zur Änderung anderer Vorschriften (Euro-Einführungsgesetz) vom (BGBl I 1983) mit Wirkung vom eingeführte Neufassung des § 111 Satz 2 SGB X anzuwenden, nach der es für den Beginn der Ausschlussfrist auf den Zeitpunkt ankomme, an dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt habe. Die Neuregelung finde nach der Übergangsvorschrift des § 120 Abs 2 SGB X auf alle Erstattungsverfahren Anwendung, die am noch nicht abschließend entschieden gewesen seien. Da dies für das vorliegende Verfahren zutreffe, sei der Anspruch rechtzeitig geltend gemacht worden.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. § 111 Satz 2 SGB X nF könne auch unter Berücksichtigung der Übergangsregelung in § 120 Abs 2 SGB X auf den streitgegenständlichen Sachverhalt nicht angewandt werden, denn das Erstattungsverfahren sei bereits mit der endgültigen Ablehnung des klägerischen Begehrens im Dezember 1999 im Sinne dieser Vorschrift "abschließend entschieden" gewesen. Die spätere Klage ändere daran nichts, da es nach dem Sinn und Zweck des § 120 Abs 2 SGB X auf den Abschluss des Verwaltungsverfahrens ankomme. Ein Anspruch, der am - nach altem Recht - bereits untergegangen gewesen sei, könne nicht als Folge einer späteren Rechtsänderung wieder "aufleben". Nach § 111 Satz 2 SGB X aF sei es nicht auf die Kenntnis des Leistungsträgers, sondern allein auf die Entstehung des Erstattungsanspruchs angekommen. Danach habe der Anspruch im August 1999 nicht mehr geltend gemacht werden können.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Frankfurt vom zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes <SGG>).

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Erstattungsanspruch der Klägerin ist im streitigen Umfang ausgeschlossen, so dass auf die Revision der Beklagten der klageabweisende Gerichtsbescheid des SG wiederherzustellen ist.

Der auf das Kumulierungsverbot des § 93 Abs 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) zurückgehende Erstattungsanspruch des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat seine Rechtsgrundlage nicht, wie vom SG angenommen, in § 104, sondern in § 103 Abs 1 SGB X. Wenn der Anspruch auf eine bereits erbrachte Sozialleistung wegen des Zusammentreffens mit einer anderen, später bewilligten Sozialleistung nachträglich ganz oder teilweise entfallen ist, kann nach dieser Vorschrift der Träger, der die Leistung erbracht hat, von dem für die entsprechende Leistung zuständigen Träger Erstattung verlangen, soweit dieser nicht vor Kenntnis von der früheren Leistung bereits selbst geleistet hat. In den Fällen § 104 SGB X fällt dagegen der Anspruch gegen den erstattungsberechtigten Träger nicht rückwirkend weg, sondern es stellt sich nachträglich heraus, dass dieser Anspruch bei rechtzeitiger Bewilligung der konkurrierenden Leistung des anderen Trägers nicht bestanden hätte. Das ist die typische Situation, die sich beim Zusammentreffen bedarfsabhängiger Sozialleistungen wie der Sozialhilfe oder der Arbeitslosenhilfe mit beitragsfinanzierten Leistungen wie Renten oder Arbeitslosengeld ergibt (ausführlich zur Abgrenzung zwischen §§ 103 und 104 SGB X: BSGE 81, 30 = SozR 3-1300 § 104 Nr 12). Darum handelt es sich hier jedoch nicht.

Die Voraussetzungen des § 103 Abs 1 SGB X liegen vor. Die Verpflichtung des ursprünglich eingetretenen Leistungsträgers "entfällt" iS dieser Vorschrift, wenn durch gesetzliche Regelung der Anspruch auf die Leistung für den Fall des Zusammentreffens mit einer bestimmten anderen Leistung ausgeschlossen oder eingeschränkt wird (vgl KassKomm Kater, § 103 SGB X RdNr 20; Roos in: von Wulffen, SGB X, 4. Aufl 2001, § 103 RdNr 7). § 93 Abs 1 SGB VI ordnet insoweit an, dass die Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung bei Zusammentreffen mit einer Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung für einen bestimmten Betrag "nicht geleistet" wird. Er beschränkt somit das Recht auf Auszahlung der fälligen Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung iS des § 103 Abs 1 SGB X (Kater, aaO).

Der Erstattungsanspruch der Klägerin ist indes ausgeschlossen. Die Beklagte hat die Erstattung in dem streitgegenständlichen Umfang im Dezember 1999 aufgrund der in diesem Zeitpunkt geltenden Fassung des § 111 Satz 2 SGB X zu Recht abgelehnt. Nach der bis zum geltenden Fassung dieser Norm begann die in ihrem Satz 1 bestimmte Zwölf-Monats-Frist nach Ablauf des letzten Leistungstages "frühestens mit der Entstehung des Erstattungsanspruchs". Der Erstattungsanspruch des berechtigten Trägers entsteht, sobald dieser seine Leistungen tatsächlich erbracht hat und ihm die entsprechenden Kosten entstanden sind (stRspr des BSG vgl SozR 3-1300 § 111 Nr 1, 3, 4, 6, 8 und 9; s Zusammenfassung bei von Wulffen, aaO, § 111 RdNr 3). Die Entscheidung des zur Erstattung verpflichteten Trägers ist in diesem Zusammenhang ohne Belang. Insbesondere hat ein Bescheid eines Unfallversicherungsträgers über die Anerkennung einer Berufskrankheit materiell-rechtlich nur deklaratorische Bedeutung und keine für die Entstehung des Erstattungsanspruchs auslösende Funktion (BSG SozR 3-1300 § 111 Nr 9). Zudem hängt die Entstehung des Erstattungsanspruchs nicht davon ab, dass dem erstattungsberechtigten Träger das Bestehen eines Erstattungsanspruchs und/oder der erstattungspflichtige Träger bekannt war (s nur BSG SozR 3-1300 § 111 Nr 3).

Die Klägerin hat nach den den Senat gemäß § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG ihren Anspruch auf Erstattung der monatlich gezahlten Witwenrente frühestens am geltend gemacht, so dass der Erstattungsanspruch für die in der Zeit vor August 1998 gezahlten Renten ausgeschlossen war. Gleiches gilt für die Versichertenrente. Selbst wenn man den Erstattungsanspruch nicht erst mit dessen Bezifferung mit Schreiben vom , sondern schon mit dem Schreiben der Klägerin vom als geltend gemacht ansieht (zum Begriff der Geltendmachung vgl BSG SozR 3-1300 § 111 Nr 9), war die Ausschlussfrist hinsichtlich der bis Juli 1997 gezahlten Versichertenrente längst verstrichen.

Diese Rechtslage ist durch die Neufassung des § 111 Satz 2 SGB X durch das Euro-Einführungsgesetz zum nicht verändert worden. Nach dieser Vorschrift beginnt die - unveränderte - Zwölf-Monats-Frist des § 111 Satz 1 SGB X frühestens mit dem Zeitpunkt, zu dem der erstattungsberechtigte Leistungsträger von der Entscheidung des erstattungspflichtigen Leistungsträgers über seine Leistungspflicht Kenntnis erlangt hat. Nach den gemäß § 163 SGG das Revisionsgericht bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Zeitpunkt der Kenntnis durch die Klägerin der . Beide Erstattungsansprüche wären damit innerhalb der Zwölf-Monats-Frist des § 111 Satz 1 SGB X nämlich im August und spätestens im November 1999 geltend gemacht worden.

§ 111 SGB X in seiner vom an geltenden Fassung ist indes auf Erstattungsansprüche jedenfalls dann nicht anzuwenden, wenn die Ausschlussfrist bereits unter Geltung des § 111 SGB X aF am abgelaufen war. Dies gebietet das aus dem insbesondere in Art 20 Abs 3 des Grundgesetzes (GG) verankerten Rechtsstaatsprinzip folgende Rückwirkungsverbot. Die Anwendung des § 111 Satz 2 SGB X in der ab dem geltenden Fassung auf die nach der bis dahin geltenden Fassung maßgeblichen Ereignisse im Jahre 1999 führte zu einer echten Rückwirkung (vgl dazu Jarass/Pieroth, GG, 5. Aufl, Art 20 RdNr 68 mwN, Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art 20 RdNr 1607 mwN; 1621 ff) bzw in der Diktion des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts zu einer Rückbewirkung von Rechtsfolgen (vgl Schultze-Fielitz in H. Dreier, Grundgesetz-Kommentar, Band 2, Art 20 <Rechtsstaat> RdNr 144 mwN), weil die Norm nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingriffe. Derartige gesetzliche Eingriffe sind wegen der rechtsstaatlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit grundsätzlich verboten (vgl Jarass/Pieroth, aaO, RdNr 70, 71 mwN). Zwar kann dieses Verbot durchbrochen werden, wenn zwingende Gründe des gemeinen Wohls dies gebieten oder das Vertrauen des Rechtsbetroffenen in den Fortbestand der Gesetzeslage nicht mehr schutzwürdig war, er etwa im Zeitpunkt, auf den der Eintritt der Rechtsfolge vom Gesetz bezogen wird, mit der rückwirkenden Änderung des Gesetzes rechnen musste (Jarass/Pieroth, aaO, RdNr 72). Dem entspricht der Grundsatz des sog intertemporären Rechts, dass ein Gesetz grundsätzlich erst Wirkung auf nach seinem In-Kraft-Treten eingetretene Sachverhalte entfalten kann, es sei denn, dass ihm ausdrücklich Rückwirkung beigelegt worden ist (zur Auslegung der Übergangsvorschriften der §§ 212 ff SGB VII vgl - SozR 3-2700 § 44 Nr 1; vom - B 2 U 4/01 R - HVBG-Info 2002, 1065 sowie vom - B 2 U 9/03 R -).

Aus der Übergangsvorschrift des § 120 Abs 2 SGB X, wonach § 111 Satz 2 und § 113 Abs 1 Satz 1 in der vom an geltenden Fassung auf die Erstattungsverfahren anzuwenden sind, die zum "noch nicht abschließend entschieden" waren, ergibt sich bereits, dass der Gesetzgeber die Neufassung des § 111 SGB X auf in der Vergangenheit liegende bis zum abgeschlossene Sachverhalte nicht anwenden will, so dass ein Wiederaufleben bereits - durch Nichteinhalten der Ausschlussfrist - ausgeschlossener Erstattungsansprüche nicht geregelt ist (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts <BVerwG> vom - 5 C 18/02 - Buchholz 435.12 § 111 SGB X Nr 3). Obwohl die Frage, was unter der Wendung "noch nicht abschließend entschieden" zu verstehen ist, zu den vom LSG und der Revision aufgezeigten Auslegungsproblemen führt, braucht dies hier nicht abschließend erörtert zu werden, denn schon wegen dieser Auslegungsschwierigkeiten und angesichts der in Rede stehenden echten Rückwirkung muss die Norm verfassungskonform dahin ausgelegt werden, dass jedenfalls die Erstattungsverfahren von der Anwendung der Neufassung des § 111 SGB X ausgeschlossen sind, bei denen bis zum die Ausschlussfrist bereits unter Geltung des § 111 SGB X aF abgelaufen war.

Auch eine materielle Überprüfung führt zu dieser Annahme. Selbst wenn man nämlich entgegen den Entscheidungen des BVerwG § 120 Abs 2 SGB X dahin verstünde, dass er allein aufgrund einer rein verfahrenstechnischen Betrachtung ein Wiederaufleben bereits ausgeschlossener Ansprüche habe bewirken wollen, fehlten die für die Rechtmäßigkeit einer derartigen Maßnahme erforderlichen zwingenden Gründe des gemeinen Wohls. Solche sind auch nicht aus der amtlichen Begründung des Entwurfs des 4. Euro-Einführungsgesetzes (BT-Drucks 14/4375) ersichtlich. Danach soll "die Regelung der Absätze 2 und 3 - des § 120 - hinsichtlich des Vollzugs der Änderungen der §§ 111 und 113 SGB X eine verwaltungsökonomische Abwicklung der Erstattungsverfahren gewährleisten, indem alle "noch nicht abgewickelten Fälle nach dem neuen Recht abzuwickeln sind" (BT-Drucks 14/4375, S 61 zu § 120 SGB X). Die amtliche Begründung führt also allein Gründe der Verwaltungsökonomie an, die ihrerseits keineswegs Gründe des gemeinen Wohls darstellen. Schließlich brauchte die Beklagte im Jahre 1999 nicht mit einer echten Rückwirkung des § 111 Satz 2 SGB X zu rechnen, denn das Vertrauen des Rechtsbetroffenen in den Fortbestand einer Norm kann frühestens mit dem Gesetzesbeschluss des Bundestages (hier am ) zerstört werden (vgl Jarass/Pieroth, aaO, RdNr 72; Leibholz/Rinck/Hesselberger, aaO, RdNr 1634, jeweils mwN). Dieser Grundsatz gilt, obwohl die Rechtsprechung des BSG zur Auslegung des § 111 SGB X aF angegriffen worden ist (Heimrich, DRV 1999, 130) und die Neufassung der Norm diese Rechtsprechung letztlich korrigiert hat. Ob die durch § 120 Abs 2 SGB X angeordnete echte Rückwirkung des § 111 Satz 2 SGB X auf die Erstattungsansprüche, für die nach der alten Fassung des § 111 SGB X die Ausschlussfrist nach dem aber noch vor dem abgelaufen war, verfassungsrechtlich zu beanstanden ist, muss aus Anlass dieses Verfahrens nicht ausdrücklich entschieden werden.

Nach alledem war das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG in der bis zum geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24).

Fundstelle(n):
GAAAC-15143