Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: SGB X § 27 Abs 3
Instanzenzug: Bayerisches
Gründe
I
Die Beteiligten streiten über die nachträgliche Gewährung von Erziehungsgeld nach bayerischem Landesrecht (LErzg) für die Zeit vom bis zum .
Die verheiratete Klägerin ist türkische Staatsangehörige. Sie lebte während der streitigen Zeit gemeinsam mit ihrem Ehemann und drei Kindern, darunter dem am geborenen Sohn M. , in Bayern. Dort betreute und erzog sie M. ohne daneben eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Sie war bei der AOK Bayern familienversichert und bezog für den 1. bis 24. Lebensmonat ihres Kindes Bundeserziehungsgeld (BErzg).
Am beantragte die Klägerin LErzg. Der Beklagte lehnte den Antrag ab (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ), weil LErzg frühestens für sechs Monate vor der Antragstellung gezahlt werde und diese Frist in den hier möglichen Anspruchszeitraum nicht hineinrage.
Das Sozialgericht München (SG) hat den Beklagten verurteilt, der Klägerin für die Zeit vom bis zum LErzg zuzuerkennen (Urteil vom ). Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten mit folgender Begründung zurückgewiesen (Urteil vom ): Der Klägerin sei wegen der versäumten Frist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, obwohl zwischen dem Fristende und der Antragstellung am mehr als ein Jahr liege. Wiedereinsetzung sei nach § 27 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) auch nach Ablauf eines Jahres seit Fristende zu gewähren, weil die Klägerin durch Falschinformationen des Beklagten über die Anspruchsberechtigung türkischer Staatsangehöriger und damit durch höhere Gewalt gehindert gewesen sei, früher LErzg zu beantragen.
Der Beklagte macht mit der Revision geltend, das LSG habe § 27 Abs 3 SGB X verletzt. Es habe den Begriff der höheren Gewalt verkannt und deshalb den Sachverhalt unter Verstoß gegen § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) nur unzureichend aufgeklärt.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Bayerischen sowie das aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil.
II
Die Revision des Beklagten ist zulässig. Zwar kann die Revision gemäß § 162 SGG nur darauf gestützt werden, dass das angefochtene Urteil auf der Verletzung einer Vorschrift des Bundesrechts oder einer sonstigen im Bezirk des Berufungsgerichts geltenden Vorschrift beruht, deren Geltungsbereich sich über den Bezirk des Berufungsgerichts hinaus erstreckt. Die Rüge, das LSG habe Vorschriften des Bayerischen Landeserziehungsgeldgesetzes (BayLErzGG) verletzt, wäre mithin unzulässig; dieses Gesetz gilt nicht über den Bezirk des LSG hinaus. Der Beklagte rügt jedoch, das LSG habe mit § 27 Abs 3 SGB X eine Vorschrift des Bundesrechts verletzt.
Die Revision ist nicht begründet. Die Instanzgerichte haben zutreffend entschieden, dass die Klägerin für ihren Sohn M. für die Zeit vom bis zum Anspruch auf LErzg hat, obwohl sie diese Leistung erst am beantragt hat und Art 3 Abs 2 BayLErzGG (in der hier noch anzuwendenden Fassung vom , BayGVBl 1995, 818; vgl dazu Art 9 Abs 1 BayLErzGG idF vom , BayGVBl 2001, 76) die rückwirkende Gewährung höchstens für sechs Monate vor Antragstellung zulässt. Denn diese Grenze wird für die Zeit vom 8. August bis zum durch Wiedereinsetzung in den vorigen Stand überwunden; für die weiter zurückliegende Zeit vom bis zum ist der Klägerin LErzg im Wege eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zu gewähren.
Anspruch auf LErzg hat nach Art 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 bis 5 BayLErzGG, wer seine Hauptwohnung oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt seit der Geburt des Kindes, mindestens jedoch 15 Monate, in Bayern hat (Nr 1), mit einem nach dem geborenen Kind, für das ihm die Personensorge zusteht, in einem Haushalt lebt (Nr 2), dieses Kind selbst betreut und erzieht (Nr 3), keine oder keine volle Erwerbstätigkeit ausübt (Nr 4) und die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union (EU) oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) besitzt (Nr 5).
Das LSG hat hier die Voraussetzungen nach Nr 1 bis 4, über deren Vorliegen unter den Beteiligten kein Streit besteht, zu Recht bejaht. Auch die Voraussetzung nach Nr 5 hat das LSG zutreffend als erfüllt angesehen. Die türkische Staatsangehörigkeit der Klägerin steht dem streitigen Anspruch trotz der Bestimmung des Art 1 Abs 1 Satz 1 Nr 5 BayLErzGG (vgl jetzt Art 1 Abs 1 Nr 5 des Gesetzes in der vom an geltenden Fassung, BayGVBl 2004, 133) nicht entgegen. Der generelle Ausschluss in Bayern wohnender türkischer Staatsangehöriger vom LErzg verstößt nämlich gegen das Diskriminierungsverbot des europäischen Assoziationsrechts (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2). Die zeitliche Beschränkung im maßgebenden Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften vom (EuGHE I 1999, 2685, 2743 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 "Sürül") kommt hier nicht zum Tragen, weil allein Leistungen für Zeiten nach Erlass dieses Urteils im Streit sind (vgl dazu auch BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1).
Der Anspruch der Klägerin ist - anders als vom Beklagten angenommen - durch das Verbot rückwirkender Gewährung für länger als sechs Monate nicht ausgeschlossen. Bei der Rückwirkungsfrist in Art 3 Abs 2 Satz 1 BayLErzGG handelt es sich nach der insoweit irrevisiblen Beurteilung des LSG um eine materiell-rechtliche Ausschlussfrist, die an die in der genannten Vorschrift geforderte - nicht fristgebundene - Antragstellung anknüpft. Der Anspruch verfällt danach abschnittsweise gleitend mit jedem Tag, den der Antrag später als sechs Monate nach Beginn des LErzg-Leistungszeitraums gestellt wird. Auch als Frist des materiellen Sozialrechts ist die Ausschlussfrist des Art 3 Abs 2 Satz 1 BayLErzGG "gesetzliche Frist" iS des (hier nach Art 8 Nr 1 Buchst d BayLErzGG iVm § 10 Abs 2 Bundeserziehungsgeldgesetz <BErzGG> idF vom , BGBl I 181, anwendbaren) § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X. Unverschuldete Säumnis kann grundsätzlich durch eine hier nicht nach § 27 Abs 5 SGB X ausgeschlossene Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden. Dies hat das Berufungsgericht anknüpfend an die Rechtsprechung des BSG zur Parallelvorschrift im BErzGG (BSGE 85, 231, 239 = SozR 3-7833 § 6 Nr 20 S 126 f; s dazu aber die Besprechung von Schnath, SGb 2000, 698, und die Entscheidung des Senats zur rückwirkenden Gewährung von Kindergeld, BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 8 S 22) für das bayerische Landesrecht in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise entschieden.
Nach § 27 Abs 1 SGB X gilt: War jemand ohne Verschulden verhindert, eine gesetzliche Frist einzuhalten, ist ihm auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. § 27 Abs 3 SGB X bestimmt, dass die Wiedereinsetzung nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden kann, es sei denn, dies war vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich. Die Jahresfrist schließt an die sechsmonatige Ausschlussfrist an und gleitet deshalb wie diese. Sie war für den Leistungszeitraum vom bis zum (nach insgesamt 18 Monaten) abgelaufen, als die Klägerin am ihren Antrag gestellt hat. Für diese Zeit kann der Klägerin mithin Wiedereinsetzung nur gewährt werden, wenn sie durch höhere Gewalt gehindert war, den Antrag zu stellen; für den anschließenden Zeitraum vom 8. August bis zum bereits dann, wenn sie den Antrag unverschuldet nicht früher gestellt hat.
Ohne Verschulden iS des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X handelt, wer die nach den Umständen des Falles von einem gewissenhaft Handelnden zu erwartende Sorgfalt beachtet. Grundsätzlich gilt insoweit ein subjektiver Maßstab. Es sind insbesondere der Geisteszustand, das Alter, der Bildungsgrad und die Geschäftsgewandtheit des Antragstellers zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-3100 § 60 Nr 3 mwN). Nach diesem Maßstab ist der Klägerin nicht vorzuwerfen, dass sie, wie das LSG festgestellt hat, nach der ihr bei Beantragung des BErzg erteilten, mit dem Wortlaut des BayLErzGG übereinstimmenden Information und im Hinblick auf die türkischen Staatsangehörigen ausnahmslos LErzg versagende Verwaltungspraxis des Beklagten davon abgesehen hat, rechtzeitig einen Antrag auf LErzg zu stellen, der damals mit Sicherheit abgelehnt worden wäre. Gegen die insoweit vom LSG getroffenen Tatsachenfeststellungen hat der Beklagte keine Verfahrensrügen erhoben. Er macht im Wesentlichen geltend, das LSG habe keine hinreichenden Ermittlungen dazu angestellt, welche Möglichkeiten der Klägerin offen standen, um sich vor dem über die Rechtslage zu informieren. Dieser Gesichtspunkt ist im Rahmen des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X unerheblich.
An der Bejahung eines unverschuldeten Antragshindernisses würde sich auch dann nichts ändern, wenn in der Presse und in interessierten Kreisen die Entscheidung des (EuGHE I 1999, 2685, 2743 = SozR 3-6935 Allg Nr 4 "Sürül") und das - vom BSG am bestätigte (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2) - Urteil des Bayerischen - (Breithaupt 2001, 816) als Grundlagen eines Anspruchs türkischer Staatsangehöriger auf LErzg diskutiert worden sein sollten. Zum einen hatte die Klägerin nach den insoweit unangegriffenen Feststellungen des LSG vor der Publikation des Senatsurteils vom in den türkischen Medien keine detaillierte Kenntnis über die Rechtslage. Zum anderen war sie auch nicht verpflichtet, sich in dieser Frage gezielt und umfassend zu informieren. Selbst wenn der Klägerin Informationen über einen möglichen Verstoß bayerischen Landesrechts gegen das Diskriminierungsverbot des europäischen Assoziationsrechts zugänglich gewesen sein sollten, konnte sie, ohne ihre Sorgfaltspflicht zu verletzen, davon ausgehen, dass die unverändert ablehnende Haltung des Beklagten sorgfältig bedacht und zutreffend war. Insbesondere musste sie - gemessen an dem im Rahmen des § 27 Abs 1 Satz 1 SGB X einschlägigen Sorgfaltsmaßstab - als rechtsunkundige Ausländerin unter diesen Umständen nicht vorsorglich einen LErzg-Antrag stellen und gegen die zu erwartende Ablehnung Rechtsmittel einlegen.
Das LSG hat darüber hinaus angenommen, höhere Gewalt habe die Klägerin bis Anfang Februar 2002 gehindert, LErzg zu beantragen; deshalb sei ihr zeitlich unbegrenzt Wiedereinsetzung zu gewähren. In der türkischsprachigen Presse sei - soweit ersichtlich - frühestens am über die Entscheidung des zum Anspruch auch türkischer Staatsangehöriger auf LErzg berichtet worden. Bis dahin habe die Klägerin auch durch größtmögliche von ihr unter Berücksichtigung ihrer Lage, Bildung und Erfahrung vernünftigerweise zu erwartende und zumutbare Sorgfalt den Anspruchsverlust nicht abwenden können. Als rechtsunkundige Person aus einem fremden Sprach- und Kulturkreis treffe sie "insgesamt kein Verschulden" an der verzögerten Antragstellung. Angesichts des Gesetzestextes (Art 1 Abs 1 Nr 5 BayLErzGG) und der Beratung beim Antrag auf BErzg habe für die Klägerin kein Anlass bestanden, gleichwohl LErzg zu beantragen.
Diese Feststellungen reichen für die Annahme höherer Gewalt nicht aus. Das LSG hat - wie vom Beklagten zu Recht gerügt - seine Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts von Amts wegen (§ 103 SGG) verletzt. Es hätte sich gedrängt fühlen müssen, weitere Ermittlungen insbesondere dazu anzustellen, ob, wie, in welchem Umfang und für die Klägerin zugänglich über die zitierten Entscheidungen des EuGH und des Bayerischen LSG berichtet worden ist. Nach der Entscheidung des haben türkische Staatsangehörige, die im Gebiet eines Mitgliedstaates wohnen und für die der Beschluss Nr 3/80 des Assoziationsrats (ARB) vom über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) auf die türkischen Arbeitnehmer und deren Familienangehörige gilt, nach dessen Art 3 Abs 1 im Wohnsitzstaat Anspruch auf Leistungen der sozialen Sicherheit nach den Rechtsvorschriften dieses Staates unter den gleichen Voraussetzungen wie dessen eigene Staatsangehörige. Das LSG hat diesen - in einem Verfahren zum bundesdeutschen Kindergeld aufgestellten - Grundsatz in dem genannten Urteil vom auf das LErzg angewendet. Sollte unter Berufung auf diese Entscheidungen in der Öffentlichkeit - für die Klägerin wahrnehmbar - darüber berichtet worden sein, der Ausschluss türkischer Staatsangehöriger vom LErzg sei mit dem vorrangig anzuwendenden europäischen Gemeinschaftsrecht unvereinbar, so wäre es der Klägerin jedenfalls bei äußerster Sorgfalt möglich und zumutbar gewesen, vorsorglich LErzg zu beantragen. Höhere Gewalt wäre damit ausgeschlossen (vgl BFHE 194, 466, zum Ausschluss höherer Gewalt bei Vertrauen auf richtige Sachbehandlung durch eine Behörde).
Das Berufungsurteil braucht insoweit aber nicht aufgehoben zu werden, damit das LSG nach Zurückverweisung diesen Fragen weiter nachgehen kann. Denn für den von der Wiedereinsetzung nach § 27 Abs 1 SGB X nicht erfassten Teil des LErzg-Bezugszeitraums, also für die Zeit vom bis zum , ist die Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, wie sie stehen würde, als hätte sie LErzg bereits bei Auslaufen des bis zum gezahlten BErzg beantragt. Art 3 Abs 2 BayLErzGG hätte den Anspruch dann nicht ausgeschlossen.
Der Senat beantwortet damit die in seinem Urteil vom (BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1 RdNr 25) noch offen gelassene Frage zum Verhältnis von sozialrechtlichem Herstellungsanspruch und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X anders als das Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> (Urteil vom - 8 C 38/95 -, Buchholz 454. 71 § 27 WoGG Nr 2 = NJW 1997, 2966; vgl auch die Äußerungen einzelner Senate des BSG: 4. Senat, Urteile vom , SozR 3-2600 § 58 Nr 2; vom - B 4 RA 28/00 R, MittLVA Oberfr 2001, 160 und vom , SozR 3-2600 § 56 Nr 15; sowie - zu § 67 SGG - 11. Senat, Urteil vom - B 11 AL 11/03 R - Juris). Er sieht - übereinstimmend mit der Entscheidungspraxis anderer Senate des BSG (vgl aus letzter Zeit: 5. Senat, Urteil vom - B 5 RJ 6/04 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, Juris; 7. Senat, Urteil vom - B 7 SF 1/03 R - SozR 4-1200 § 14 Nr 5; 9. Senat, - BSGE 92, 34 = SozR 4-3100 § 60 Nr 1) - in den Wiedereinsetzungsregeln des § 27 SGB X keine abschließende Entscheidung des Gesetzgebers über die in einer verspäteten Antragstellung liegenden Folgen von Pflichtverletzungen der Verwaltung. Die genannte gesetzliche Wiedereinsetzungsvorschrift und das richterrechtliche Institut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs sind nebeneinander anwendbar (ebenso auch Bieback, SGb 1990, 517, 526; Diener, MittLVA Oberfr 1999, 338, 346; Eisenreich, SozVers 1995, 1, 9; Krasney, in Kasseler Komm, § 27 SGB X RdNr 2; Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, S 90 ff; Olbertz, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch im Verwaltungsrecht, 1995, S 9 f; H. Plagemann, NJW 1983, 2172, 2176; Schmidt-De Caluwe, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1992, S 172; Schneider-Danwitz, in SGB-Sozialversicherung-Gesamtkomm, § 27 SGB X Anm 9; Wannagat/Thieme, § 27 SGB X RdNr 15; aA zB von Einem, rv 1986, 134; P. Stelkens/Kallerhoff, in Stelkens/Bonk/Sachs, § 32 VwVfG RdNr 6).
Die Anwendungsbereiche beider Rechtsinstitute sind nicht deckungsgleich. Der Herstellungsanspruch ist einerseits enger als § 27 SGB X, weil er nur Fristversäumnisse erfasst, die auf Behördenfehlern beruhen. Andererseits ist er weiter, weil er nicht fristgebunden und unabhängig jedenfalls von fahrlässigem Mitverschulden des Leistungsberechtigten ist (vgl dazu - Juris; BSGE 87, 280, 287 f = SozR 3-1200 § 14 Nr 31 S 114). Abgesehen davon betrifft er auch Fallgestaltungen, die nichts mit dem Versäumen einer Frist zu tun haben. Eine Wiedereinsetzung scheidet demgegenüber bei Verschulden des Bürgers regelmäßig aus; dessen Verschulden tritt nur dann in den Hintergrund, wenn die Säumnis wesentlich durch Fehlverhalten der Verwaltung mitverursacht worden ist. Andererseits greift § 27 SGB X gerade auch dann ein, wenn eine unverschuldete Fristversäumnis nicht auf einer Pflichtverletzung der Behörde beruht. Danach überschneiden sich zwar die Tatbestände des § 27 SGB X und des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs - mit unterschiedlichen Rechtsfolgen - dort, wo eine Fristversäumnis letztlich auf einen Behördenfehler zurückzuführen ist, auch in diesem Bereich ist eine Anwendung des Herstellungsanspruchs jedoch nicht ausgeschlossen. Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Der Entstehungsgeschichte des am in Kraft getretenen § 27 SGB X lässt sich nur entnehmen, dass damit die Regeln zur Wiedereinsetzung in den vorigen Stand vereinheitlicht und verallgemeinert werden sollten. Die Begründung des Regierungsentwurfs (BT-Drucks 8/2034, S 32) verweist lakonisch auf § 32 Verwaltungsverfahrensgesetz. Nach den Materialien zu dieser Vorschrift (BT-Drucks 7/910, S 55) sollte entsprechend dem Vorbild des § 60 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) eine allgemeine Wiedereinsetzungsregelung auch außerhalb des verwaltungsgerichtlichen Vor- und Rechtsmittelverfahrens (§ 70 Abs 2 VwGO) geschaffen werden. Die kommentarlose Übernahme der verwaltungsverfahrensrechtlichen Wiedereinsetzungsvorschrift in das SGB X lässt nicht erkennen, dass der bereits damals von den Sozialgerichten (im Unterschied zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, vgl dazu Pietzner/Müller, VerwArch 85 <1994>, 603, 611 ff) als richterrechtliches Institut entfaltete sozialrechtliche Herstellungsanspruch (vgl zu dessen Entwicklungsgeschichte Ladage, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1990, S 37 ff) bei Versäumung von Antragsfristen durch § 27 SGB X ausgeschlossen sein sollte, obwohl damit bei den engen tatbestandsmäßigen Voraussetzungen dieser Vorschrift der Herstellungsanspruch einen erheblichen Teil seines Anwendungsbereichs verlieren würde (vgl dazu Ladage, aaO, 92).
Eine solche Annahme verbietet sich aus mehreren Gründen: Sie widerspricht der Generalklausel des § 2 Abs 2 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I), steht im Gegensatz zum Zusammenspiel von § 67 SGG mit § 44 SGB X und führt dann zu Wertungswidersprüchen, wenn die Wiedereinsetzung gesetzlich ausgeschlossen ist.
Nach § 2 Abs 2 SGB I ist das Sozialgesetzbuch so auszulegen, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Eben diesem Ziel dient auch der sozialrechtliche Herstellungsanspruch. Mangels einer deutlichen Regelung durch das Gesetz lässt sich deshalb nicht annehmen, die mit § 27 SGB X eingeführte Wiedereinsetzungsregelung habe den die Bürger begünstigenden, auf Realisierung sozialer Rechte zielenden Herstellungsanspruch auch insoweit verdrängt, als ihre Voraussetzungen nicht erfüllt sind. Jedenfalls wäre zu erwarten, dass eine den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch treffende Ausschlusswirkung des § 27 SGB X im Gesetz deutlich zum Ausdruck kommt (vgl dazu auch Schmidt-De Caluwe, Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch, 1992, S 172).
Der Gesetzgeber hat die Wiedereinsetzungsvorschriften für das sozialgerichtliche Vor- und Klageverfahren (§§ 67 und 84 Abs 2 Satz 3 SGG) nicht als abschließende Entscheidung über die Folgen von Pflichtverletzungen der Verwaltung angesehen, sondern - zeitgleich mit § 27 SGB X - durch § 44 SGB X für eine weitgehende Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit zu Gunsten des Bürgers und auf Kosten der Bindungswirkung von diesen belastenden rechtswidrigen Verwaltungsakten gesorgt (vgl Steinwedel, in Kasseler Komm, Stand Mai 2003, § 44 SGB X RdNr 1). Bei durch Verwaltungsakt abgeschlossenen Verfahren ist der Bürger gegen Rechtsverluste deshalb nahezu umfassend geschützt: Versäumt er unverschuldet Widerspruchs- oder Rechtsmittelfristen, so wird ihm nach § 67 SGG Wiedereinsetzung gewährt. Lässt er die Fristen - auch verschuldet - verstreichen, so ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt ohne Rücksicht auf dessen Bindungswirkung nach § 44 SGB X zurückzunehmen. Eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bedarf es insoweit nicht. Er ist sowohl bei Fristversäumnissen im Rechtsmittelverfahren (vgl - in DAngVers 1984, 370; - Juris) als auch dann ausgeschlossen, wenn das behördliche Fehlverhalten bereits durch den Anspruch nach § 44 SGB X erfasst wird (BSGE 60, 158, 164 ff = SozR 1300 § 44 Nr 23; vgl auch Steinwedel, aaO, RdNr 12). Ist schon ein rechtswidriger bindender Verwaltungsakt zurückzunehmen und die verweigerte Sozialleistung nachträglich zu erbringen, so liegt es nahe, dies erst recht anzunehmen, wenn es durch fehlerhaftes Verwaltungshandeln zu einem Verwaltungsverfahren und einem ablehnenden Verwaltungsakt gar nicht erst gekommen ist (vgl Ladage, aaO, S 79). Die durch § 67 SGG im Verbund mit § 44 SGB X gewährleistete Realisierungsdichte sozialer Rechte wird bei unterbliebenem Verwaltungsverfahren erreicht, indem § 27 SGB X und der sozialrechtliche Herstellungsanspruch nebeneinander angewendet werden (vgl dazu auch Schmidt-De Caluwe, aaO, S 173).
Nur dieses Nebeneinander vermeidet schwer erklärbare, widersprüchliche Ergebnisse, wenn die Wiedereinsetzung - ausnahmsweise - nicht statthaft, weil vom Gesetz ausgeschlossen ist (vgl § 27 Abs 5 SGB X). Dieser Ausschluss würde sich grundsätzlich nicht auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch erstrecken; dieser wäre vielmehr anwendbar (vgl die Beispiele in BSG SozR 3-1200 § 14 Nr 8; BSGE 73, 56, 59 = SozR 3-1200 § 14 Nr 9 und - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, Juris). Damit würde der Betroffene in einem solchen Fall bei einer verspäteten Antragstellung, die durch behördliche Pflichtverletzung verursacht worden ist, leichter eine nachträgliche Leistungsgewährung erreichen, als wenn er sich ausschließlich auf § 27 SGB X stützen könnte.
Hier liegen die Voraussetzungen vor, unter denen der Klägerin im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs LErzg auch für die Zeit vom bis zum zu gewähren ist. Gefordert sind:
- eine Pflichtverletzung, die dem Beklagten zuzurechnen ist
- ein dadurch bei der Klägerin eingetretener sozialrechtlicher Nachteil sowie
- die Befugnis des Beklagten, durch eine Amtshandlung den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Pflichtverletzung nicht begangen worden wäre (vgl BSGE 92, 182, 190 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1).
Der Beklagte hat die Klägerin nach den Feststellungen des LSG im Zusammenhang mit dem Bezug von BErzg durch ein Merkblatt dahingehend informiert, dass Anspruch auf LErzg nur hatte, wer "Deutscher ist oder die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates der EU oder eines anderen Vertragsstaates des Abkommens über den EWR besitzt". Diese Information war im Lichte der Entscheidung des (BSGE 89, 129 = SozR 3-6940 Art 3 Nr 2) objektiv falsch, auch wenn sie der damaligen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl dazu BSG SozR 3-6935 Allg Nr 1) entsprach. Denn eine unrichtige Rechtsauskunft liegt auch dann vor, wenn der Leistungsträger ohne Verschulden von der Richtigkeit seiner Rechtsansicht ausgehen durfte (vgl BSGE 49, 76, 78 = SozR 2200 § 1418 Nr 6; Seewald in Kasseler Komm, Vor §§ 38 bis 47 SGB I RdNr 58). Entscheidend ist insoweit - wie bei § 44 SGB X (Steinwedel, aaO, RdNr 29) - die damalige Sach- und Rechtslage aus heutiger Sicht ("geläuterte Rechtsauffassung").
An diesem Ergebnis ändert die im Wesentlichen auf die Zukunft begrenzte Wirkung nichts, die der EuGH seiner am getroffenen Entscheidung (EuGHE I 1999, 2685, 2743 = SozR 3-6935 Allg Nr 4) beigelegt hat. Dazu hat der Senat zwar ausgesprochen, zur Begründung der Fehlerhaftigkeit ihr erteilter Informationen für einen Zeitraum vor dem könne eine Leistungsberechtigte sich nicht auf die unmittelbare Wirkung des Art 3 Abs 1 ARB berufen (BSGE 92, 182 = SozR 4-6940 Art 3 Nr 1 RdNr 23). Diese Aussage ist aber nach der Zielrichtung der EuGH-Entscheidung auf Fälle begrenzt, in denen Leistungen für die Zeit vor dem geltend gemacht werden: Der EuGH hat die Mitgliedstaaten vor unkalkulierbaren finanziellen Belastungen für die Vergangenheit schützen wollen. Abgesehen davon hat der Beklagte seine Pflicht verletzt, die damals im laufenden Bezug von BErzg stehende, zuvor über ihren Anspruch auf LErzg falsch beratene Klägerin nach der Entscheidung des EuGH "nachzuberaten" (vgl dazu BSG SozR 3-3200 § 86a Nr 2 S 8). Es wäre ihm, wie er in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat eingeräumt hat, ohne größere Schwierigkeiten möglich gewesen, türkischen BErzg-Beziehern entsprechende Informationen zukommen zulassen.
Die Klägerin hat durch diese falsche Information den Anspruch auf LErzg nach dem Gesetz - teilweise - verloren. Das LSG hat zwar nicht ausdrücklich festgestellt, die Klägerin habe LErzg nicht beantragt, weil sie sich auf die falsche Information des Beklagten verlassen habe. Immerhin hat es aber ausgeführt: Die Klägerin berufe sich darauf, sie habe nicht früher einen Antrag auf LErzg gestellt, weil ihr bei einer zeitnahen Vorsprache in der Versorgungsverwaltung bedeutet worden sei, auf Grund ihrer türkischen Staatsangehörigkeit stehe ihr LErzg nicht zu. Insoweit mache die Klägerin zutreffend geltend, ohne eigenes Verschulden daran gehindert worden zu sein, die gesetzliche Antragsfrist einzuhalten. Die darin zum Ausdruck kommenden berufungsgerichtlichen Tatsachenfeststellungen reichen aus, zumal sie vom Beklagten im Kern nicht angegriffen werden. Die äußeren Umstände lassen hier im Übrigen auch keinen anderen Schluss zu, als den, dass Grund für die - zunächst - unterlassene Antragstellung die Falschinformation seitens des Beklagten war: Die Klägerin hat ihre Ansprüche auf BErzg für das erste und anschließend für das zweite Lebensjahr ihres Sohnes rechtzeitig geltend gemacht und - sobald sie über die Anspruchsberechtigung türkischer Staatsangehöriger auf LErzg und über die Aufgabe der rechtswidrigen Ablehnungspraxis des Beklagten informiert war - auch umgehend LErzg beantragt.
Der Beklagte kann die Klägerin durch nachträgliche Zahlung von LErzg auch für die Zeit vom bis zum so stellen, wie sie bei rechtzeitiger Antragstellung auf Grund richtiger Information gestanden hätte. Dem steht nicht entgegen, dass LErzg - ebenso wie BErzg - zweckbezogen gewährt wird. Der Leistungszweck (verstärkte elterliche Zuwendung in der frühkindlichen Lebensphase) wird hier auch bei nachträglicher Zahlung nicht verfehlt, weil die Klägerin ihren Sohn M. während dieser Zeit unter Verzicht auf Erwerbstätigkeit betreut und erzogen hat.
Der Senat weicht mit seiner Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Wiedereinsetzung gemäß § 27 SGB X und sozialrechtlichem Herstellungsanspruch nicht iS des § 41 Abs 2 SGG von der Rechtsprechung anderer Senate des BSG ab. Der 4. und der 11. Senat haben diese Frage in den oben genannten Urteilen (4. Senat: Urteile vom , SozR 3-2600 § 58 Nr 2; vom - B 4 RA 28/00 R, MittLVA Oberfr 2001, 160 und vom , SozR 3-2600 § 56 Nr 15; 11. Senat: Urteil vom - B 11 AL 11/03 R - Juris) zwar sinngemäß dahin beantwortet, dass gesetzliche Wiedereinsetzungsregeln den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ausschließen. Diese Auffassung trägt die genannten Entscheidungen aber ausnahmslos nicht.
Der Senat weicht auch nicht iS des § 2 Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes von der Entscheidung eines anderen obersten Gerichtshofes ab. Die oben zitierte Entscheidung des (Buchholz 454. 71 § 27 WoGG Nr 2 = NJW 1997, 2966) begründet den Ausschluss rückwirkender Wohngeldbewilligung über die Wiedereinsetzung nach § 27 SGB X hinaus wesentlich mit dem Charakter des Wohngeldes, das ungeachtet seiner sozialen Funktion und seiner Aufnahme in das Sozialgesetzbuch eine Subvention darstelle, auf deren Bewilligung sich die für andere Sozialleistungen geltenden rechtlichen Maßstäbe nicht ohne weiteres übertragen ließen. Wohngeld sei insbesondere eine bedeutsame Maßnahme der staatlichen Wohnungsbauförderung; derartige staatliche Subventionierungen könnten - die rückwirkende Ausschüttung begrenzenden - Ausschlussregelungen unterworfen werden. Demgegenüber handelt es sich beim LErzg um eine soziale Familienleistung ohne Subventionscharakter. Das BVerwG teilt diese Sicht einer auf das Wohngeldrecht begrenzten Bedeutung seiner Entscheidung offenbar. Denn andernfalls hätte es im Hinblick auf eine Abweichung von der Entscheidung des 13. Senats des (BSGE 79, 168, 171 = SozR 3-2600 § 115 Nr 1 S 4 f) seinerseits den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe das Bundes angerufen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstelle(n):
PAAAC-14583