Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: SGG § 117; SGG § 124; SGG § 129; SGG § 202; ZPO § 551 Nr 1
Instanzenzug: LSG Mecklenburg-Vorpommern L 2 AL 84/98 vom
Gründe
I
Streitig ist die teilweise Aufhebung und Erstattung von Altersübergangsgeld (Alüg) für die Zeit vom bis in Höhe von insgesamt 29.050,00 DM.
Der am geborene Kläger war bis als Abteilungsleiter bei der S. und L. GmbH in P. mit einem monatlichen Bruttoarbeitsentgelt von 3.075,00 DM beschäftigt. Er beantragte am die Gewährung von Alüg und gab dabei auf dem Antragsformular an, auf seiner Steuerkarte sei zu Beginn des Jahres 1991 die Steuerklasse IV und ab Oktober 1991 die Steuerklasse III eingetragen. Für das Jahr 1992 machte er auf dem Antragsformular keine Angabe; insoweit ist dort nach der Steuerkarte für das folgende Jahr (falls diese bereits vorliegt) gefragt. Auf die neue Lohnsteuerkarte für das Jahr 1992 wurde beim Kläger die Steuerklasse V eingetragen. Die Beklagte bemerkte dies erst, nachdem der Kläger am die Lohnsteuerkarte für das Jahr 1996 vorgelegt hatte, auf der bis ebenfalls die Steuerklasse V eingetragen war.
Zuvor hatte die Beklagte dem Kläger ab Alüg bewilligt (Bescheid vom ) und in der Folgezeit bis zur Erschöpfung des Anspruchs am gezahlt; dabei hat sie den jeweiligen Bewilligungsbescheiden die Leistungsgruppe C zu Grunde gelegt. Nachdem die Beklagte den Kläger zunächst mit Schreiben vom zu einer Überzahlung für die Zeit vom bis in Höhe von insgesamt 29.050,00 DM angehört hatte, hob sie zunächst im Einzelnen bezeichnete Bewilligungen für die Zeit vom bis teilweise in Höhe von 14.458,50 DM auf und forderte den entsprechenden Betrag zurück (Bescheid vom ). Während des Widerspruchsverfahrens änderte sie diesen Bescheid dahin ab, dass im Einzelnen benannte Bewilligungsbescheide für die Zeit vom bis teilweise aufgehoben wurden, weil der Steuerklassenwechsel zum nicht angezeigt worden sei, sodass insgesamt 29.050,00 DM zu erstatten seien (Bescheid vom ; Widerspruchsbescheid vom ). Im Widerspruchsbescheid wurde als Rechtsgrundlage für die Aufhebung § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch - Verwaltungsverfahren - (SGB X) genannt, während der Bescheid vom noch auf § 45 SGB X gestützt war.
Die Klage hatte beim Sozialgericht (SG) Erfolg (Urteil vom ). Das Landessozialgericht (LSG) hat zunächst am eine mündliche Verhandlung durchgeführt (Besetzung der Richterbank: Präsident des LSG Dr. W. , Richter am LSG S. , Richter am SG A. , ehrenamtliche Richter S. und K. ), in der der Kläger anwesend war. Auf die mündliche Verhandlung vom (Besetzung der Richterbank: Präsident des LSG Dr. W. , Richter am SG A. und G. , ehrenamtliche Richterin R. , ehrenamtlicher Richter L. ), an der der Kläger nicht teilgenommen hat, hat das LSG durch am verkündetes Urteil die Entscheidung der Beklagten bestätigt und die Klage abgewiesen. Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, Rechtsgrundlage für die streitige teilweise rückwirkende Aufhebung der Leistungsbewilligungen sei § 48 SGB X iVm § 152 Abs 3 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Durch den Lohnsteuerklassenwechsel des Klägers sei ab eine falsche Leistungsgruppe zu Grunde gelegt worden. Gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X habe die Beklagte deshalb die Bewilligungsbescheide teilweise aufheben müssen. Zwar habe der Kläger nicht grob fahrlässig eine Mitteilungspflicht verletzt. Jedoch sei er grob fahrlässig in Unkenntnis der Rechtswidrigkeit iS von § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X gewesen. Der Kläger sei nach seiner persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit sowie seinem Einsichtsvermögen, soweit es sich dem erkennenden Senat auf Grund der mündlichen Verhandlung darstelle, durchaus in der Lage, seine leistungsrechtlichen Interessen wahrzunehmen und behördliche Entscheidungen zu hinterfragen.
Der Kläger rügt eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Gebots des fairen Verfahrens (§§ 117, 124, 129 Sozialgerichtsgesetz <SGG>, 202 SGG iVm § 551 Nr 1 Zivilprozessordnung <ZPO>). Er ist der Ansicht, die Feststellungen des LSG zu seiner persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit sowie seinem Einsichtsvermögen seien verfahrensfehlerhaft zu Stande gekommen. Das am verkündete Urteil des LSG sei auf die mündliche Verhandlung vom ergangen, zu der er weder geladen noch erschienen sei. Das LSG habe sich deshalb lediglich auf den persönlichen Eindruck in der davor liegenden mündlichen Verhandlung vom stützen können. Bei dieser mündlichen Verhandlung seien jedoch nur zwei Berufsrichter anwesend gewesen, die die Entscheidung vom mitgefällt hätten. Das Urteil des LSG beruhe deshalb auch auf dem Verfahrensmangel.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das Urteil des LSG für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
II
Die Revision des Klägers ist iS der Aufhebung der LSG-Entscheidung und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Insoweit hat der Kläger mit seiner den Voraussetzungen des § 164 Abs 2 Satz 2 SGG entsprechenden Verfahrensrüge dem LSG zu Recht vorgeworfen, es habe gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen (§§ 117, 128 SGG).
Das LSG hat in seiner Entscheidung den Vorwurf, der Kläger sei grob fahrlässig in Unkenntnis darüber gewesen, dass ihm zu hohes Alüg im streitbefangenen Zeitraum ausgezahlt worden sei, ausdrücklich darauf gestützt, der Kläger sei nach seiner persönlichen Urteils- und Kritikfähigkeit sowie seinem Einsichtsvermögen, soweit es sich dem erkennenden Senat auf Grund der mündlichen Verhandlung dargestellt habe, durchaus in der Lage, seine leistungsrechtlichen Interessen wahrzunehmen und behördliche Entscheidungen zu hinterfragen. Einen persönlichen Eindruck konnten sich indes nicht sämtliche der an der Entscheidung auf die mündliche Verhandlung vom beteiligten fünf Richter machen, sondern lediglich zwei, die bereits an der früheren mündlichen Verhandlung am teilgenommen hatten.
Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 128 SGG) und der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) erfordern jedoch, dass sich alle die Entscheidung treffenden Richter einen persönlichen Eindruck vom Kläger als Beteiligten gemacht haben, wenn sie ihre Entscheidung darauf stützen (vgl BVerwG Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr 235; BFH/NV 1992, 115 ff; BGH NJW-RR 1997, 506 f). Dies gilt nur dann nicht, wenn der persönliche Eindruck, den die Richter einer früheren mündlichen Verhandlung von einem Zeugen bzw Beteiligten gewonnen haben, protokolliert oder auf sonstige Weise aktenkundig gemacht worden ist und sich die Beteiligten dazu erklären konnten (vgl die zitierte Rechtsprechung). Gerade dies ist vorliegend nicht geschehen. Hierin liegt ein wesentlicher Verfahrensmangel, der zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führt. Daran ändert nichts der Umstand, dass es im sozialgerichtlichen Verfahren das förmliche Beweismittel der Parteivernehmung nicht gibt (vgl § 118 Abs 1 SGG, der nicht auf § 445 ZPO verweist). Die für Zeugen maßgeblichen Grundsätze gelten gleichwohl entsprechend (BSG USK 8341). Der Verstoß des Gerichts gegen das Gebot der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme ist auch nicht gemäß § 295 Abs 1 ZPO durch Verzicht oder unterbliebene Rüge in der mündlichen Verhandlung geheilt. Vorliegend handelt es sich nämlich um einen Fehler bei der Urteilsfällung, von dem der Prozessbevollmächtigte des Klägers in der mündlichen Verhandlung noch keine Kenntnis haben konnte (vgl BGH NJW 1992, 1966, 1967).
Von einer Zurückverweisung kann nicht abgesehen werden; die Sachverhaltsfeststellungen des LSG ermöglichen keine abschließende Entscheidung aus sonstigen Gründen. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob bzw inwieweit die aufgehobenen Bewilligungsbescheide betreffend das Alüg rechtswidrig waren oder nachträglich "rechtswidrig" geworden sind (§§ 45, 48 SGB X iVm § 152 AFG). Fraglich ist bereits, ob der angefochtene Bescheid der Beklagten vom inhaltlich hinreichend bestimmt (§ 33 SGB X) ist; insoweit ist von Bedeutung, ob aus ihm hinreichend deutlich hervorgeht, welche Bescheide über die Bewilligung von Alüg in welcher Höhe aufgehoben bzw zurückgenommen worden sind. Eine pauschale Teilaufhebung aller Bescheide für den gesamten streitigen Zeitraum in Höhe von 29.050,00 DM genügt jedenfalls nicht. Ob dem angegriffenen Bescheid ein erläuternder Anhang beigefügt war oder ob zusätzliche Änderungsbescheide ergangen sind, die mit dem Aufhebungsbescheid ggf eine Einheit bilden, wird das LSG - auch unter Berücksichtigung der dem Anhörungsschreiben vom beigefügten Erläuterungen - zu ermitteln haben.
Von geringerer Bedeutung wird sein, ob und inwieweit die Aufhebung der einzelnen Alüg-Bescheide auf § 45 SGB X oder § 48 SGB X zu stützen ist. Insoweit dürfte jedenfalls eine Umdeutung nicht erforderlich sein, weil nicht die Regelung, also der Verfügungssatz, des Verwaltungsaktes betroffen ist, sondern nur seine Begründung (vgl hierzu BSGE 87, 8, 11 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9; BVerfGE 80, 96, 97). Allenfalls handelt es sich um das Problem der falschen Rechtsgrundlage. Dies ändert aber nichts daran, dass die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts unter jedem rechtlichen Gesichtspunkt zu prüfen ist (BSGE 87, 8 ff = SozR 3-4100 § 152 Nr 9; -, unveröffentlicht), was die Berücksichtigung auch solcher Rechtsgründe einschließt, die die Verwaltungsbehörde zur Begründung des angefochtenen Bescheids nicht angeführt hat, es sei denn, durch die neue Begründung würde der Verwaltungsakt nach Voraussetzungen, Inhalt und Wirkung wesentlich verändert oder die Rechtsverteidigung des Betroffenen in nicht zulässiger Weise beeinträchtigt bzw erschwert (BSGE 29, 129, 132 = SozR Nr 123 zu § 54 SGG; BSG SozR 3900 § 41 Nr 4; SozR 1500 § 77 Nr 6; SozR 2200 § 1227 Nr 10). Gerade beim Auswechseln von § 45 SGB X und § 48 SGB X als Rechtsgrundlage einer Aufhebung von Leistungsbewilligungen tritt jedoch regelmäßig eine unzulässige Änderung von Regelungsumfang oder Wesensgehalt nicht ein; die beiden Normen sind auf dasselbe Ziel gerichtet und erfassen vorliegend denselben Lebenssachverhalt (vgl zu diesen Voraussetzungen: BSGE 87, 8 ff = SozR 3-4100 § 152 Nr 9; BSG SozR 3-3660 § 1 Nr 1; -, DBlR Nr 4454a zu § 152 AFG; -, unveröffentlicht). Eine unzulässige Beeinträchtigung und Erschwerung der Rechtsverteidigung liegt ebenfalls nicht vor; denn das bloße vom Wunsch des Betroffenen getragene Interesse daran, dass ein belastender Verwaltungsakt nicht nachträglich auf eine ihn tragende Rechtsgrundlage gestützt wird, ist rechtlich nicht geschützt ( -, unveröffentlicht). Das LSG kann sich bei seiner Entscheidung im Übrigen an bereits ergangenen Entscheidungen des BSG zur Frage der "Bösgläubigkeit" bei Berücksichtigung einer falschen Lohnsteuerklasse und damit einer falschen Leistungsgruppe orientieren (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 42 und 45; zur Anwendung des § 152 AFG iVm §§ 48 und 45 SGB X für Sachverhalte vor dem vgl BSG SozR 3-4100 § 152 Nr 8 und 9). Die Jahresfrist der §§ 45 Abs 4 Satz 2, 48 Abs 4 SGB X ist jedenfalls eingehalten. Das LSG wird bei seiner Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
WAAAC-14290