BSG Urteil v. - B 6 KA 41/02 R

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: HVM § 11 Abs 7

Instanzenzug: SG Schwerin vom

Gründe

I

Der Rechtsstreit betrifft die Höhe des Honorars für histologische und zytologische vertragsärztliche Leistungen in den Quartalen I und II/1998.

Die Kläger nehmen in Gemeinschaftspraxis im Bereich der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) als Fachärzte für Pathologie an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Sie erbrachten in den Quartalen I und II/1998 fast ausschließlich histologische und zytologische Leistungen. Nach dem ab geltenden Honorarverteilungsmaßstab (HVM) der Beklagten war bei histologischen und zytologischen Leistungen (Gebühren-Nr 155, 168, 4900 bis 4986 des Einheitlichen Bewertungsmaßstabs für vertragsärztliche Leistungen <EBM-Ä>) ein Interventionspunktwert für die nach dem EBM-Ä abgerechneten Punkte in Form eines Mindestpunktwertes von 6 Pfennig festgelegt (§ 11 Abs 7 HVM aF).

Die Vertreterversammlung (VV) der Beklagten beschloss am eine Änderung der dafür maßgebenden Regelungen des HVM mit Wirkung ab dem . Danach galt für histologische und zytologische Leistungen nunmehr ein "maximaler Interventionspunktwert" von 6 Pfennig als Obergrenze für die Punktwertstützung (§ 11 Abs 7 HVM nF).

Auf der Grundlage dieser Neufassung vergütete die Beklagte den Klägern für die Quartale I und II/1998 die histologischen und zytologischen Leistungen mit Punktwerten von 4,5565 Pfennig (Primärkassen im Quartal I/1998) bzw 4,1323 Pfennig (Zytologie Primärkassen <außer Innungskrankenkassen - IKK> im Quartal II/1998) und 3,7567 Pfennig (Nr 168 EBM-Ä <AOK sowie zT andere Primärkassen> im Quartal II/1998; Honorarbescheide vom 27. Juli und ).

Mit ihren Widersprüchen gegen die Honorarbescheide begehrten die Kläger für ihre histologischen und zytologischen Leistungen weiterhin eine Vergütung nach einem Punktwert von mindestens 6 Pfennig. Die Beklagte wies die Widersprüche zurück (Widerspruchsbescheide vom und ).

Klagen und Berufung der Kläger sind ohne Erfolg geblieben (Teilurteil des Sozialgerichts vom ; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> vom ). Im Urteil des LSG ist ausgeführt, der den Honorarbescheiden zu Grunde liegende HVM idF vom sei rechtmäßig. Das in formeller Hinsicht erforderliche Benehmen mit den Krankenkassen(KKn)-Verbänden sei in ausreichender Weise nachträglich hergestellt worden. Die Änderung des § 11 Abs 7 HVM sei auch in materieller Hinsicht nicht zu beanstanden. Eine echte Rückwirkung sei nicht gegeben. Es liege hier anders als bei der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) zu Regelungen des EBM-Ä, bei denen das BSG von einer verfassungswidrigen Rückwirkung ausgegangen sei ( BSGE 81, 86 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18). Die im EBM-Ä festgelegten Punktzahlen für ärztliche Leistungen entfalteten eine stärkere leistungssteuernde Wirkung als Bestimmungen eines HVM. Sie stünden zum Zeitpunkt der Leistungserbringung bereits fest, sodass nachträgliche Änderungen der zu vergütenden Punktzahlen eine grundsätzlich unzulässige echte Rückwirkung darstellten. Der HVM betreffe demgegenüber lediglich die Verteilung der Gesamtvergütung und wirke sich zusammen mit anderen Parametern (Höhe der Gesamtvergütung, Höhe der Vorabzahlungen, Umfang und Art der von allen Ärzten abgerechneten Leistungen) nur auf die Höhe der Auszahlungspunktwerte aus. Dadurch sei im Regelfall nur eine unechte Rückwirkung gegeben, die unter leichteren Voraussetzungen gerechtfertigt sei. Die KÄV habe zudem - insbesondere bei bedrohlichen Finanzsituationen - bei Honorarverteilungsmaßnahmen einen weiten Gestaltungsspielraum, innerhalb dessen lediglich der Grundsatz der Honorarverteilungsgerechtigkeit zu beachten sei. Die hier vorliegende unechte Rückwirkung sei nach Abwägung aller Umstände des Einzelfalls durch sachgemäße Gründe gedeckt. Zwar habe § 11 Abs 7 HVM aF sich nicht - wie sonst bei HVM-Regelungen - mit einem floatenden Punktwert begnügt, sondern mit der Gewährleistung eines Punktwertes von mindestens 6 Pfennig eine feste Kalkulationsgrundlage gegeben. Die von den KKn der KÄV gewährten und von ihr an die Vertragsärzte zu verteilenden Gesamtvergütungen seien aber begrenzt, sodass die Besserstellung einzelner Ärzte dazu führe, dass andere im selben Quartal weniger erhielten oder sich die zu verteilende Gesamtvergütung in Folgequartalen um Überzahlungen mindere. Daher müsse die KÄV nach Maßgabe einer Interessenabwägung stets die Möglichkeit haben, Privilegien einzelner Ärzte bzw Arztgruppen wieder aufzuheben. Wenn auch die Beklagte keine zwingenden Gründe für die Abschaffung des Mindestinterventionspunktwertes dargelegt habe, so habe sie doch jedenfalls durch Einsparungen bei den Pathologen andere Ärztegruppen höher honorieren können. Dies reiche zur Rechtfertigung aus. Den Klägern komme kein Vertrauensschutz zu. Der Punktwert habe ihr Leistungsverhalten nicht steuern können. Selbst wenn sie von der HVM-Änderung früher erfahren hätten, hätten sie weder ihre Leistungen in den streitigen Quartalen anders durchführen noch auf andere ausweichen können, weil sie ohnehin praktisch ausschließlich histologisch und zytologisch sowie nur auf Überweisung tätig seien.

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügen die Kläger, die im April 1998 mit Wirkung zum vorgenommene Abschaffung des Mindestinterventionspunktwertes bei den histologischen und zytologischen Leistungen sei unvereinbar mit dem grundsätzlichen Verbot rückwirkender Inkraftsetzung von Rechtsnormen. Durch die Aufnahme eines Mindestpunktwertes in den HVM aF sei dokumentiert worden, dass der Sicherstellungsauftrag für die betroffenen Leistungen nur erfüllt werden könne, wenn die sich aus dem EBM-Ä dafür ergebenden Punkte mindestens einen bestimmten Vergütungsbetrag ergäben. Dessen Abschaffung stehe von der Eingriffsintensität her wertungsmäßig der nachträglichen Änderung einer im EBM-Ä festgelegten Punktzahl gleich, die nicht rückwirkend geändert werden dürfe. Dies sei nicht mit den Fällen vergleichbar, in denen das BSG nachträgliche HVM-Änderungen gebilligt habe. Selbst wenn man mit dem LSG eine nur retrospektive (unechte) Rückwirkung annehme, fehlten jedenfalls sachgemäße Gründe für die vorgenommene Abschaffung des Mindestpunktwertes. Wie auch das LSG ausführe, habe die Beklagte solche nicht vorgetragen. Unzureichend sei der Wunsch anderer Vertragsärzte, mehr Geld zu erhalten, zumal sie - nach Abschluss der Quartale I und II/1998 - lediglich mit einem entsprechend geringeren Teil der Gesamtvergütung gerechnet hätten. Nur wenn im Bereich der übrigen Ärzte die Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung gefährdet gewesen wäre - was schlüssig darzulegen wäre -, könnte möglicherweise eine rückwirkende Änderung in Betracht kommen. Entgegen der Auffassung des LSG seien sie - die Kläger - durch die rückwirkende Aufhebung des Mindestpunktwertes erheblich in ihren Rechten betroffen. Die Erwägung des LSG, sie hätten ihre Leistungen in den streitigen Quartalen gar nicht anders erbringen können, ändere daran nichts.

Die Kläger beantragen,

das Urteil des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom und das Urteil des Sozialgerichts Schwerin vom aufzuheben sowie die Beklagte unter Änderung ihrer Honorarbescheide für die Quartale I und II/1998 in der Fassung der Widerspruchsbescheide vom und vom zu verurteilen, ihre histologischen und zytologischen Leistungen insgesamt mit einem Mindestpunktwert von 6 Pfennig = 3,06775 Cent zu vergüten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, die Änderung des HVM stelle nur eine unechte Rückwirkung dar. Denn der von der Neuregelung des § 11 Abs 7 HVM betroffene Sachverhalt sei noch nicht abgeschlossen gewesen; die Abrechnung sei zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch die VV am noch nicht erfolgt. Die Vertragsärzte hätten lediglich Anspruch auf Teilnahme an der Verteilung der Gesamtvergütung. Eine gesicherte Kalkulationsgrundlage und einen konkreten Anspruch erlangten sie erst durch die Prüfung aller von den Vertragsärzten eingereichten Abrechnungen und die darauf basierende Errechnung der Verteilungspunktwerte. Zumal im vorliegenden Fall sei zu beachten, dass am noch Schiedsamtsverfahren anhängig gewesen seien, sodass auch deshalb die aus den Gesamtzahlungen der KKn zu errechnenden Verteilungspunktwerte noch nicht hätten feststehen können. Die Neuregelung bewirke anders, als vom BSG zum EBM-Ä 1996 entschieden, keine unzulässige nachträgliche Reduzierung der Punktzahl, sondern lediglich des Punktwertes. Die Änderung des § 11 Abs 7 HVM beruhe zudem auf sachlichen Gründen. Die für eine Stützung der histologischen und zytologischen Leistungen benötigten Geldbeträge hätten nicht mehr zur Verfügung gestanden, weil anders als bei den Gesamtvergütungen für 1997 eine Stützung für sie bei den Verhandlungen über die folgenden Gesamtvergütungen im Primärkassenbereich nicht mehr habe durchgesetzt werden können. Mit der Änderung werde zudem berücksichtigt, dass die frühere Regelung eines Mindestpunktwertes die Bewertungsrelationen im EBM-Ä unterlaufen habe. Im Übrigen beträfen Mindestpunktwerte typischerweise ohnehin nur einen Teilbereich des Leistungsspektrums.

II

Die zulässige Revision der Kläger ist begründet. Die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Beklagte ist unter Änderung der angefochtenen Honorarbescheide zu verurteilen, die histologischen und zytologischen Leistungen der Kläger nach Gebühren-Nr 155, 168, 4900 bis 4986 EBM-Ä in den Quartalen I und II/1998 mit mindestens 6 Pfennig = 3,06775 Cent zu vergüten (zur Umrechnung in Euro und Cent s Art 14 VO <EG> Nr 974/98 vom iVm Art 4 Abs 1 VO <EG> 1103/97 vom iVm VO <EG> 2866/98 vom ). Dies ergibt sich aus der Regelung, die die VV der Beklagten am mit Wirkung zum beschlossen hatte und die ungeachtet der Änderung vom weiter galt. Denn die VV konnte sie nicht wirksam rückwirkend aufheben.

Nach § 11 Abs 7 HVM in der am mit Wirkung vom beschlossenen Fassung war bei der Ermittlung der Verteilungspunktwerte sicherzustellen, dass ua für histologische und zytologische Leistungen (Gebühren-Nr 155, 168, 4900 bis 4986) ein Interventionspunktwert von 6,00 DPf vergütet wird. Dh, die genannten Leistungen wurden mit mindestens 6,00 DPf je abgerechnetem Punkt vergütet.

Die VV der Beklagten beschloss am (veröffentlicht im Journal der KÄV Mecklenburg-Vorpommern 5/1998, S 12), die Regelung zu ändern und statt eines Mindestinterventionspunktwertes einen maximalen Interventionspunktwert einzuführen. Danach war bei Unterschreitung bestimmter maximaler Interventionspunktwerte sicherzustellen, dass die genannten Leistungen mindestens mit einem um 10 % erhöhten Verteilungspunktwert der jeweiligen Fachgruppen vergütet wurden. Als Obergrenze für die Punktwertstützung galten bei histologischen und zytologischen Leistungen (Gebühren-Nr 155, 168, 4900 bis 4986) 6,00 DPf. Die Neuregelung trat nach dem Beschluss der VV zum in Kraft. Die Regelung hob damit die Stützung des Punktwertes auf 6,00 DPf auf, legte eine geringere Stützungsverpflichtung fest (Erhöhung des Verteilungspunktwerts der Fachgruppe um 10 %) und führte eine Stützungsobergrenze von 6,00 DPf ein.

Die In-Kraft-Setzung der Regelung ab und damit ihre Anwendung auf die Honoraransprüche für die in den Quartalen I und II/1998 erbrachten histologischen und zytologischen Leistungen verstößt gegen das Verbot einer echten Rückwirkung von Normen. Die Regelung ist in diesem Umfang rechtswidrig.

Die aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 Grundgesetz abgeleiteten Rückwirkungsgrundsätze sind vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anhand formeller Gesetze herausgearbeitet worden. Sie gelten aber ebenso für untergesetzliche Rechtsnormen (zu Rechtsverordnungen s zB BVerfGE 32, 111, 122 f; 45, 142, 173 ff; 83, 89, 109 f), auch für solche des Vertragsarztrechts. Dies hat der Senat bereits für den EBM-Ä und andere Normsetzungsverträge sowie für Satzungen wie die auf Grund des § 85 Abs 4 Satz 2 ff Fünftes Buch Sozialgesetzbuch erlassenen Honorarverteilungsmaßstäbe ausgesprochen (vgl dazu BSGE 81, 86, 89, 102 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 84, 98). Nach der Rechtsprechung des BVerfG liegt eine echte Rückwirkung dann vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingreift, eine unechte dann, wenn ein Gesetz auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft einwirkt und damit zugleich Rechtspositionen nachträglich entwertet (BVerfGE 68, 287, 306; 75, 246, 279 f; 95, 64, 86; 101, 239, 263; ebenso zB BSGE 81, 86, 89 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 84 f). Die Zuordnung zur echten oder zur unechten Rückwirkung lässt sich nur im Einzelfall nach dem jeweils in Betracht kommenden gesetzlichen Tatbestand vornehmen (BVerfGE 30, 392, 402 f). Nach anderer Abgrenzung, die im Regelfall - wie auch hier - zu den gleichen Ergebnissen führt, ist darauf abzustellen, ob eine Rückbewirkung von Rechtsfolgen oder eine tatbestandliche Rückanknüpfung vorliegt, dh, ob die Rechtsfolgen einer Rechtsnorm für einen Zeitpunkt eintreten würden, der vor ihrer Verkündung liegt, oder ob der Tatbestand einer Norm für künftige Rechtsfolgen an Gegebenheiten aus der Zeit vor ihrer Verkündung anknüpft (so die neuere Rechtsprechung des Zweiten Senats des BVerfG, s zB BVerfGE 72, 200, 241 f; 97, 67, 78 f; 105, 17, 37 f; vgl auch BSGE 81, 86, 89 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 84 f).

Vorliegend ist ein Fall echter Rückwirkung wie auch der Rückbewirkung von Rechtsfolgen gegeben. Denn mit der Änderung des § 11 Abs 7 HVM durch Beschluss der VV der Beklagten vom sollte die bis dahin geltende Vergütung der Leistungen mit einem garantierten Mindestpunktwert von 6 Pfennig aufgehoben und nachträglich auch für die zurückliegende Zeit ab dem durch einen Punktwert von höchstens 6 Pfennig ersetzt werden. Die Rechtsfolgen der Rechtsnorm sollten mithin nicht nur für die Zukunft gelten, sondern bereits für einen Zeitpunkt eintreten, der vor ihrer Verkündung lag (Rückbewirkung von Rechtsfolgen), dh, es wurde in abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Sachverhalte eingegriffen.

Dieser Beurteilung kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, der von der Neuregelung des § 11 Abs 7 HVM betroffene Sachverhalt sei noch nicht abgeschlossen gewesen, sodass nur eine unechte Rückwirkung vorliege. Es trifft zwar zu, dass die Abrechnung für die Quartale I und II/1998 zum Zeitpunkt der Beschlussfassung durch die VV am noch nicht erfolgt war bzw sein konnte sowie dass die Vertragsärzte lediglich Anspruch auf angemessene Beteiligung an der Verteilung der Gesamtvergütungen und auf einen ihrer Leistung entsprechenden Anteil an dieser Gesamtsumme haben. Ein konkreter Honoraranspruch ergibt sich damit erst nach Prüfung aller von den Vertragsärzten eingereichten Abrechnungen und der darauf basierenden Errechnung der Verteilungspunktwerte. Denn erst durch die Gegenüberstellung der abgerechneten Gesamtpunktmenge mit den von den KKn entrichteten Gesamtvergütungen und die darauf basierende Errechnung der Verteilungspunktwerte konkretisiert sich der bis dahin nur allgemeine Anspruch auf anteilige Beteiligung an der Gesamtsumme der Gesamtvergütungen zu einem konkreten individuellen Honoraranspruch (vgl zB BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 31 S 239 f; Clemens in Umbach/Clemens <Hrsg>, Grundgesetz, 2002, Anhang zu Art 12, RdNr 179, 213, jeweils mwN). Der Vertragsarzt kann mithin in der Regel nur von einer ungefähren Höhe des zu erwartenden Honorars ausgehen (s BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 31 S 239). Deshalb stellen Änderungen von HVM-Regelungen für noch nicht abgerechnete Quartale im Regelfall nur einen Eingriff in noch nicht abgeschlossene Sachverhalte dar, sind also in Anwendung der Grundsätze über unechte Rückwirkungen bzw tatbestandliche Rückanknüpfungen bei Vorliegen ausreichender Gemeinwohlgründe im Verhältnis zum Vertrauensschaden rechtmäßig (zur erforderlichen Abwägung s zB BVerfGE 101, 239, 263; 103, 392, 403 = SozR 3-2500 § 240 Nr 39 S 197; 105, 17, 37; BSGE 81, 86, 88 f = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 83 f; der Sache nach ebenso BSG SozR 3-2500 § 85 Nr 31 S 239 f).

Indessen hat das BSG bereits mit Urteil vom (BSGE 81, 86 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18) für Regelungen des EBM-Ä ausgeführt, dass nicht stets wegen des späteren Zeitpunkts der Honorarberechnung und -auszahlung ein noch nicht abgewickelter Sachverhalt vorliegt. Zu beachten ist, dass die Vertragsärzte im Zeitpunkt der Leistungserbringung die für die Leistungen anfallenden Kosten und die durch die Vergütungsregelungen erzielbaren Einnahmen mit berücksichtigen und ihre Leistungserbringung in gewissen Grenzen darauf einrichten können (vgl dazu BSGE 81, 86, 93 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 89, mit ergänzender Klarstellung in BSGE 88, 20, 30 = SozR 3-2500 § 75 Nr 12 S 76). Diese Bedeutung für die Dispositionen des Vertragsarztes kommt allerdings ohne Weiteres nur den Bestimmungen des EBM-Ä zu, die für jede Leistung eine bestimmte Punktzahl oder - bei Budgetregelungen für Gruppen von Leistungen - maximale Gesamtpunktzahlen festlegen, die damit eine feststehende Grundlage für die Honorierung bilden.

Die Bestimmungen eines HVM enthalten demgegenüber nur ausnahmsweise abschließende Festlegungen. Dies ist zB dann der Fall, wenn wie hier im HVM ein Mindestauszahlungspunktwert für bestimmte Leistungen festgelegt worden ist. Damit wird eine Garantie desjenigen Punktwertes gegeben, der der Vergütung der Leistungen zu Grunde zu legen ist. Der Punktwert wird insoweit den systembedingten Einwirkungen entzogen, durch die er ansonsten beeinflusst wird. Eine Punktwertgarantie entfaltet damit eine vergleichbare Wirkung wie die Festlegung verbindlicher Vergütungsfaktoren auf anderer Regelungsebene, wie nämlich die Festsetzung der Punktzahlen bei den Leistungen im EBM-Ä. Auf solch eine Punktwertgarantie darf sich der Vertragsarzt einrichten und seine wirtschaftliche Kalkulation darauf einstellen. Wird hierin nachträglich rückwirkend eingegriffen, so liegt darin ein Eingriff in einen bereits abgewickelten Sachverhalt - der Punktwertgarantie für einen bestimmten Zeitraum -, sodass sich dessen Rechtmäßigkeit nach den Grundsätzen für echte Rückwirkungen bzw für die Rückbewirkung von Rechtsfolgen richtet.

Echte Rückwirkungen und die Rückbewirkung von Rechtsfolgen sind nur ausnahmsweise rechtmäßig. In der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG ist dies dann in Betracht gezogen worden, wenn die bisherige Rechtslage unklar, verworren oder lückenhaft war und der Gesetzgeber lediglich eine Klarstellung vorgenommen hat, wenn eine gerichtlich als rechtswidrig angesehene Regelung durch eine neue ersetzt wird, wenn der Bürger nicht mit dem Fortbestand der Regelung rechnen konnte, wenn überragende Belange des Gemeinwohls deren Beseitigung erforderlich machen oder wenn die Neuregelung nur einen marginalen Eingriff bedeutet (BVerfGE 13, 261, 271 f; 72, 200, 258-261; 88, 384, 404; 95, 64, 87; 97, 67, 79 f, 81 ff; 98, 17, 39; 101, 239, 263 f, 266, 268; BSGE 81, 86, 96 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18 S 91 f). Vorliegend ist keine dieser Fallgestaltungen gegeben.

Die Vertragsärzte, die pathologische und zytologische Leistungen erbrachten, mussten nicht mit einer Verringerung oder Abschaffung des im HVM festgelegten Mindestpunktwertes von 6 Pfennig rechnen. Die Beklagte führt dafür sinngemäß an, zunächst seien noch Gesamtvertrags- bzw Schiedsamtsverhandlungen anhängig gewesen, in denen sich schließlich - anders als bei den Gesamtvergütungen für 1996 - keine Festlegung eines unteren Interventionspunktwertes speziell für histologische und zytologische Leistungen in Höhe von 6 Pfennig habe erreichen lassen. Dieser Argumentation käme aber nur dann Bedeutung zu, wenn den Vertragsärzten die Abhängigkeit des garantierten Mindestpunktwertes von einer entsprechenden Gesamtvertrags- oder Schiedsamtsfestlegung bekannt gewesen wäre oder hätte bekannt sein müssen; denn nur dann hätten sie mit der Aufhebung der Mindestpunktwertregelung rechnen müssen, wobei zudem fraglich ist, ab welchem Zeitpunkt ihnen eine solche Kenntnis zugerechnet werden könnte. Dafür, dass ihnen bei Einführung des Mindestpunktwertes ein solcher Zusammenhang bekannt gegeben worden oder sonst wie erkennbar gewesen sei, liegen indessen weder Feststellungen im Berufungsurteil noch Anhaltspunkte vor.

Überragende Belange des Gemeinwohls erforderten ebenfalls nicht die rückwirkende Aufhebung der Regelung über den Mindestpunktwert. Dafür kann insbesondere nicht angeführt werden, dass - wie die Beklagte geltend macht - infolge des insoweit nicht erfolgreichen Schiedsamtsverfahrens entsprechende Geldbeträge nicht mehr zur Verfügung gestanden hätten. Die Weitergewährung des Mindestpunktwertes von 6 Pfennig bis zum In-Kraft-Setzen der Neuregelung in der Zukunft, hier also mit Beginn des Quartals III/1998, hätte zwar zusätzliche Kosten verursacht, nämlich die Aufstockung der Punktwerte von 4,5565 Pfennig (Primärkassen im Quartal I/1998) bzw 4,1323 Pfennig (Zytologie Primärkassen <außer IKK> im Quartal II/1998) und 3,7567 Pfennig (Nr 168 EBM-Ä <AOK sowie zT andere Primärkassen> im Quartal II/1998) erfordert. Es gibt aber keine greifbaren Anhaltspunkte dafür, dass die dafür notwendigen Beträge so groß waren, dass sie nicht anderweitig aufgebracht werden konnten, also überragende Belange des Gemeinwohls die rückwirkende Aufhebung der Mindestpunktwert-Regelung geboten hätten.

Ferner spricht nichts dafür, dass die Neuregelung nur einen marginalen Eingriff bedeutet hätte. Der von der Beklagten angeführte Gesichtspunkt, Mindestpunktwerte beträfen typischerweise nur Teilbereiche des Leistungsspektrums, trifft auf die hier in Frage stehenden Interventionspunktwerte nicht zu. Die Vergütungsbeträge für histologische und zytologische Leistungen nach Gebühren-Nr 155, 168, 4900 bis 4986 EBM-Ä betreffen das Gros der Leistungen der Pathologen (zusätzlich rechneten die Kläger in den Quartalen I und II/1998 lediglich Leistungen nach der Gebühren-Nr 75 <Arztbrief> und 7103, 7120, 7140 EBM-Ä <Versandkosten> ab). Durch die Aufhebung des Mindestpunktwertes erlitten die Pathologen - auch die Kläger - beträchtliche Einbußen. Kein Einwand ergibt sich aus der Argumentation des LSG, die Abschaffung des Mindestinterventionspunktwertes habe die Kläger deshalb nicht nachteilig betroffen, weil sie ohnehin weder ihre Leistungen in den streitigen Quartalen hätten anders durchführen noch auf andere Leistungen hätten ausweichen können. Auf die Möglichkeit eines alternativen Verhaltens kommt es nicht an. Der für eine unzulässige Rückwirkung erforderliche nicht marginale Eingriff liegt darin, dass sie durch die rückwirkende Aufhebung der Mindestpunktwert-Regelung beträchtliche finanzielle Einbußen erlitten.

Die hier zu beurteilende HVM-Bestimmung hat ein völlig anderes Eingriffsgewicht als diejenigen HVM-Regelungen, die der Senat in seinem Urteil vom (BSGE 81, 86 = SozR 3-2500 § 87 Nr 18) erörtert hat. Dort hat er ausgeführt, dass das Verbot rückwirkender Änderung von Rechtsnormen grundsätzlich auch für HVM-Regelungen gelte, ist aber davon ausgegangen, dass Maßnahmen wie die Einführung von "Mindestpunktwerten für bestimmte Leistungen bzw Leistungskomplexe" in sehr viel geringerem Umfang auf das Leistungsverhalten einwirken als EBM-Ä-Regelungen (BSG aaO S 102 bzw S 98), dass also nur marginale Eingriffe vorlägen. Dies trifft indessen in einem Fall wie dem vorliegenden nicht zu, in dem - wie dargelegt - das Gros der Leistungen einer Arztgruppe erfaßt wird.

Die Unwirksamkeit der rückwirkenden Neuregelung des § 11 Abs 7 HVM erstreckt sich nicht nur auf die Zeit vom bis zu deren Verkündung im Mai 1998, sondern auf die gesamte Zeit bis zum Schluss des Quartals II/1998 am . Dies ergibt sich aus dem das Vertragsarztrecht prägenden Quartalsprinzip (vgl dazu BSGE 89, 90, 95 f = SozR 3-2500 § 82 Nr 3 S 8 f).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz in der bis zum geltenden und hier noch anzuwendenden Fassung (vgl BSG SozR 3-2500 § 116 Nr 24 S 115 ff).

Fundstelle(n):
YAAAC-14071