BSG Urteil v. - B 4 RA 62/04 R

Leitsatz

1. EinigVtr Anlage II Kap VIII H III Nr 9 Buchst b S 5 hat den Zweck, die früher Zusatz- oder Sonderversorgungsberechtigten des Beitrittsgebiets, die im Zeitpunkt der Wiedervereinigung aus bundesrechtlicher Sicht nur eine Versorgungsanwartschaft hatten, den bereits damals Leistungsberechtigten gleichzustellen, falls ein Versorgungsfall fiktiv bis zum Ablauf des eintreten würde.

2. Als Anwendungsvoraussetzung des § 4 Abs 4 AAÜG ist stets vorab zu prüfen, ob nach den leistungsrechtlichen Bestimmungen des Versorgungssystems der Versorgungsfall bis zum Ablauf des eingetreten wäre, also die Versorgungsanwartschaft innerhalb dieses Zeitraums zu einem Vollrecht auf Versorgung erstarkt wäre.

3. Zum "Rentenbeginn".

Gesetze: AAÜG F. § 4 Abs 4 S 1 ; AAÜG F. § 4 Abs 4 S 2 F: 2001-07-27; AAÜG Anl 1 Nr 4; EinigVtr Anlage II Kap VIII H III Nr 9 Buchst b S 5; EinigVtr Anlage II Kap VIII H; SGB VI § 99 Abs 1 S 1; SGB VI § 117; SGB X § 44 Abs 1; SGB X § 44 Abs 2

Instanzenzug: SG Halle S 4 RA 5/02 vom

Gründe

I

Der am geborene Kläger begehrt die Rücknahme der bisherigen bestandskräftigen Rentenhöchstwertfestsetzung und die Neufeststellung eines höheren Werts seines Rechts auf Regelaltersrente (RAR) ab dem unter Zugrundelegung eines durch den Einigungsvertrag (EV) besitzgeschützten Zahlbetrages oder eines "weiterzuzahlenden Betrages" nach § 4 Abs 4 Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG).

Der Kläger war in der DDR in die zusätzliche Altersversorgung der Intelligenz an wissenschaftlichen, künstlerischen, pädagogischen und medizinischen Einrichtungen der DDR (AVIwiss) einbezogen worden (Urkunde vom ).

Die Beklagte erkannte dem Kläger ein Recht auf RAR zu (Bescheid vom ). Den monatlichen Wert dieses Rechts bei Rentenbeginn am setzte sie auf der Grundlage der Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VI) auf DM 2.713,23 fest (Bescheid vom ).

Den Antrag des Klägers vom , die bestandskräftige Rentenhöchstwertfestsetzung im Bescheid vom nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) zurückzunehmen und den "besitzgeschützten Zahlbetrag" oder den "weiterzuzahlenden Betrag" als höheren Wert seines Rechts auf RAR neu festzustellen, lehnte die Beklagte in den Bescheiden vom und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom ab.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klagen, die sinngemäß auf Rücknahme der bestandskräftigen Rentenhöchstwertfestsetzung und auf Neufeststellung eines höheren Werts der RAR ab unter Zugrundelegung eines (dynamisierbaren) "besitzgeschützten Zahlbetrages" oder eines (statischen) "weiterzuzahlenden Betrages" sowie Zahlung entsprechend höherer monatlicher Geldbeträge ab demselben Zeitpunkt gerichtet waren, abgewiesen (Urteil vom ) und ua ausgeführt:

Die Beklagte habe es zu Recht abgelehnt, ihre ursprünglichen "Rentenbewilligungen" in den Bescheiden vom und nach § 44 SGB X teilweise zurückzunehmen und höhere Altersrente zu "gewähren". Denn der Kläger habe keinen Anspruch auf höhere RAR ab unter Berücksichtigung eines besitzgeschützten Zahlbetrages iS von § 4 Abs 4 AAÜG idF des Zweiten Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetzes (2. AAÜG-ÄndG) vom (BGBl I 1939). Voraussetzung für die Durchführung einer "Vergleichsberechnung" sei nach § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG, dass die nach den Vorschriften des SGB VI berechnete Rente spätestens bis zum beginne. Die dem Kläger zustehende RAR beginne nach § 99 Abs 1 Satz 1 SGB VI jedoch erst am , denn der Kläger habe am sein 65. Lebensjahr vollendet. Ein Anspruch auf Durchführung einer "Vergleichsberechnung" ergebe sich auch nicht aus Anlage II Kapitel VIII Sachgebiet H Abschnitt III Nr 9 des EV (EV Nr 9), denn eine Vertrauensschutzregelung sei zum einen für die Personen, die am bereits leistungsberechtigt gewesen seien, und zum anderen für den Personenkreis getroffen worden, der in der Zeit vom bis leistungsberechtigt würde. Diese Regelung stelle nach ihrem eindeutigen Wortlaut darauf ab, dass eine Leistungsberechtigung aus dem System der gesetzlichen Rentenversicherung entstehe. Seit dem sei dies das SGB VI; dessen § 99 lege den Beginn der Leistungsberechtigung fest, die im Falle des Klägers am eingetreten sei. Es sei auch nicht verfassungsrechtlich geboten, den Vertrauensschutz im Sinne des Klägers auszulegen.

Der Kläger hat mit Zustimmung der Beklagten die vom SG zugelassene (Sprung-)Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung von EV Nr 9 Buchst b Satz 5. § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG entziehe in verfassungswidriger Weise eine durch den EV eingeräumte Eigentumsposition. Anders als diese Vorschrift stelle der EV darauf ab, dass der Begünstigte bis zum leistungsberechtigt werden müsse. Der Eintritt der Leistungsberechtigung und der Rentenbeginn fielen nicht notwendig zusammen. Eintritt der Leistungsberechtigung bedeute Zeitpunkt des Entstehens des Rentenanspruchs; Rentenbeginn sei der Zeitpunkt der ersten auf Grund des Anspruchs zu erbringenden Leistung. Sein Rentenanspruch sei mit Vollendung des 65. Lebensjahres am entstanden, zu diesem Zeitpunkt sei das Anwartschaftsrecht zum Vollrecht erstarkt und die Leistungsberechtigung eingetreten. Zudem hätte auch nach den Rentenbestimmungen der DDR die Leistung bereits ab dem gefordert werden können. Soweit § 4 Abs 4 AAÜG an Stelle des Eintritts der Leistungsberechtigung den Rentenbeginn gesetzt habe, entziehe diese Bestimmung eine vom EV eingeräumte Eigentumsposition ohne rechtlichen Grund.

Der Kläger beantragt,

1. das Urteil des Sozialgerichts Halle vom sowie die ablehnende Entscheidung der Beklagten im Bescheid vom in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben,

2. die Beklagte zu verpflichten, die Rentenhöchstwertfestsetzung im Bescheid vom für Bezugszeiten ab zurückzunehmen,

3. sie zu verpflichten, den monatlichen Wert des Rechts auf Altersrente für die Zeit ab Mai 1999 unter Zugrundelegung eines dynamisierbaren besitzgeschützten Zahlbetrages mit folgenden Maßgaben neu festzustellen: Der besitzgeschützte Zahlbetrag ergibt sich aus dem Gesamtbetrag der zum zustehenden Sozialversicherungsrente und 80 vH seines durchschnittlichen Bruttoverdienstes aus dem Jahr vor dem ; er ist zum um 6,84 vH zu erhöhen und unter Einbeziehung der 3. RAV ab dem gemäß der Lohn- und Einkommensentwicklung im Beitrittsgebiet zu dynamisieren,

4. die Beklagte zu verurteilen, ab entsprechend höhere Beträge zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie ist der Auffassung, dass der Kläger keinen Anspruch darauf habe, dass der zum fingierte Garantiebetrag in der ab bewilligten Rente Berücksichtigung finde. Der Tatbestand des § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG sei bei ihm nicht erfüllt, denn die ihm nach den Vorschriften des SGB VI bewilligte Rente habe nicht bis zum begonnen, sondern am . Zwar habe im Juni 1995 ein Stammrecht bestanden, ein Anspruch auf Erbringung regelmäßig wiederkehrender Rentenleistungen sei jedoch erst am entstanden. § 4 Abs 4 AAÜG stelle auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns, also des ersten Einzelanspruchs ab. Mit der Regelung des § 4 Abs 4 AAÜG würden auch die "Mindeststandards" des EV Nr 9 Buchst b Satz 5 nicht unterschritten. Im Kontext des EV sei mit "Leistungsberechtigung" nichts anderes gemeint als mit "Rentenbeginn". Dem könne nicht entgegengehalten werden, dass nach dem Recht der DDR ein Leistungsanspruch bereits vom Ersten des Kalendermonats vorgesehen gewesen sei, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt gewesen seien. Denn nur bis zum Stichtag der Überführung am sei es rechtens gewesen, die leistungsrechtlichen Regelungen der jeweiligen Versorgungssysteme weiter anzuwenden (EV Nr 9 Buchst b Satz 1 und 2). Der Stichtag des sei, wie der erkennende Senat (Urteil vom - B 4 RA 41/02 R, SozR 4-2600 § 260 Nr 1) und das Bundesverfassungsgericht (, BVerfGE 100, 1 = SozR 3-8570 § 10 Nr 3) schon entschieden hätten, verfassungsgemäß.

II

Die Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG begründet (§ 170 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

1. Gegenstand der Revision ist das Urteil des SG, mit dem dieses die Klagen des Klägers abgewiesen hat. Dieser verfolgt sein Klagebegehren (§ 123 SGG) im Revisionsverfahren weiter, allerdings zeitlich beschränkt auf Bezugszeiten ab . Er begehrt nunmehr sinngemäß erstens, die Ablehnungsentscheidung der Beklagten, bestandsgeschützte Vergleichsbeträge festzusetzen und die bisherige Höchstwertfestsetzung zurückzunehmen, in den Bescheiden vom und vom in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom aufzuheben (Anfechtungsklagen), zweitens, die Beklagte zu verpflichten, die bisherige bestandskräftige Rentenhöchstwertfestsetzung für Bezugszeiten ab zurückzunehmen (Verpflichtungsklage), drittens, die Beklagte zu verpflichten, für die Zeit ab Mai 1999 einen höheren Wert seines Rechts auf RAR unter Zugrundelegung eines dynamisierbaren "besitzgeschützten Zahlbetrages" oder eines (statischen) "weiterzuzahlenden Betrages" nach § 4 Abs 4 AAÜG neu festzustellen, sowie viertens, die Beklagte zu verurteilen, für diese Zeit entsprechend höhere monatliche Geldbeträge zu zahlen (eine die Verpflichtungsklage auf Neufeststellung konsumierende Leistungsklage). Diese Kombination von Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen ist zulässig (§ 54 Abs 1 und Abs 4 SGG; vgl auch , SozR 4-1300 § 44 Nr 3 RdNr 8). Das mit der Verpflichtungsklage verfolgte Begehren, die bisherige bestandskräftige Rentenhöchstwertfestsetzung zurückzunehmen, bezieht sich entgegen der Auffassung der Vorinstanz nur auf die letzte bindend gewordene bisherige Rentenhöchstwertfestsetzung im Bescheid vom , denn diese hat die frühere Rentenhöchstwertfestsetzung im Bescheid vom ersetzt.

2. Ob die Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklagen begründet sind, kann der Senat nicht abschließend entscheiden. Die bisher vom SG getroffenen Feststellungen erlauben keine Entscheidung über die Höhe des Geldwerts des Stammrechts auf RAR im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Bescheides vom für Bezugszeiten ab . Insbesondere kann mangels der für die gebotenen Vergleichsfeststellungen erheblichen Tatsachen nicht entschieden werden, ob der dem Kläger entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten nach EV Nr 9 Buchst b Satz 5 zustehende "besitzgeschützte Zahlbetrag" oder der sog "weiterzuzahlende Betrag" höher sind als der nach den allgemeinen Vorschriften festgestellte Monatsbetrag des Rechts auf Altersrente, den sie kraft Gesetzes in den Kalendermonaten verdrängen, in denen einer von ihnen höher ist. Die bestandskräftige Festsetzung des Höchstwerts, dessen Rücknahme der Kläger anstrebt, erfolgte ausschließlich unter Zugrundelegung der Vorschriften des SGB VI. Der Kläger begehrt jedoch eine monatliche "Rente", deren Wert über dem Monatsbetrag der SGB VI-Rente liegt, unter Zugrundelegung eines besitzgeschützten Zahlbetrages oder weiterzuzahlenden Betrages nach § 4 Abs 4 AAÜG. Entgegen der Ansicht der Beklagten und der Vorinstanz liegen allerdings die Anwendungsvoraussetzungen des § 4 Abs 4 AAÜG vor. Jedoch hat die Beklagte - rechtswidrig - die ihr gesetzlich vorbehaltenen Feststellungen der beiden "bestandsgeschützten Beträge", mit denen der SGB VI-Wert des Stammrechts auf Altersrente zu vergleichen ist, noch nicht getroffen.

a) Ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Rücknahme (§ 44 Abs 1 und 2 SGB X) der bindenden Rentenhöchstwertfestsetzung im Bescheid vom erfüllt sind, kann noch nicht abschließend entschieden werden. Denn das SG hat die Höhe des "besitzgeschützten Zahlbetrages" und die des "weiterzuzahlenden Betrages", deren Feststellungen kraft Gesetzes der Beklagten vorbehalten sind, noch nicht berücksichtigen können.

Nach § 44 Abs 1 und 2 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, stets mit Wirkung für die Zukunft und grundsätzlich für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei seinem Erlass das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Zu Unrecht hat das SG angenommen, die Beklagte habe im Bescheid vom den Wert des Rechts des Klägers auf RAR ohne Anwendung des von EV Nr 9 Buchst b Satz 5 iVm § 4 Abs 4 Satz 1 und 2 AAÜG "garantierten Zahlbetrages" oder des "weiterzuzahlenden Betrages" festsetzen dürfen, denn diese "Zahlbetragsgarantien" stehen dem Kläger zu.

b) EV Nr 9 Buchst b, der nur einige der Maßgaben zu den Versorgungssystemen regelt, garantiert im Rahmen der dort geregelten Überführung von Ansprüchen und Anwartschaften aus Sonder- und Zusatzversorgungssystemen in das Rentenversicherungsrecht des Beitrittsgebiets zum (dazu grundlegend: BSGE 72, 50, 61 ff = SozR 3-8570 § 10 Nr 1 S 13 ff) den Personen, die am aus dem Versorgungssystem "leistungsberechtigt" waren, also irgendein Vollrecht auf eine Versorgung aus einem Versorgungssystem hatten (sog Bestandsrentner), den vollen Bestandsschutz, nämlich als Mindestbetrag den Zahlbetrag, der für Juli 1990 aus der Sozialversicherung und dem Versorgungssystem zu erbringen war (Satz 4). Denjenigen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus dem Versorgungssystem "leistungsberechtigt" waren, also nur eine Versorgungsanwartschaft innehatten, und erst ab wegen Eintritts des Versorgungsfalls ein Vollrecht auf Versorgungsrente erwarben (sog Zugangsrentner), wurde nur ein zeitlich limitierter Bestandsschutz eingeräumt, nämlich nur, wenn sie bis zum den Versorgungsfall erlitten. Auch diesem Personenkreis wurde der Zahlbetrag garantiert, "der für Juli 1990 aus der Sozialversicherung und dem Versorgungssystem zu erbringen gewesen wäre, wenn der Versorgungsfall am eingetreten wäre" (Satz 5). Bei der Überleitung des SGB VI am auf das Beitrittsgebiet wurde zu Gunsten der Inhaber von überführten Rechten durch § 307b SGB VI (dazu: , SozR 4-2600 § 307b Nr 5) und zuvor bei der Überleitung von Versorgungsanwartschaften in das Rentenversicherungsrecht des Beitrittsgebiets durch § 4 Abs 4 AAÜG die Zeitgrenze zwischen den "leistungsberechtigten" Bestandsrentnern und den noch nicht "leistungsberechtigten" Zugangsrentnern der Versorgungssysteme vom 3./ auf den / verlegt. Dadurch gelangten auch Inhaber einer erst zum überführten bloßen Versorgungsanwartschaft zusätzlich und sie nur begünstigend in den erstmals durch das Rentenüberleitungsgesetz (RÜG) im Jahr 1991 geschaffenen Schutz des sog "weiterzuzahlenden Betrages".

Die als Schranke der im EV der Bundesregierung erteilten Verordnungsermächtigung ausgestaltete Zahlbetragsgarantie des EV Nr 9 Buchst b Satz 5, die dem "besitzgeschützten Zahlbetrag" Eigentumsschutz vermittelt hat (vgl BVerfGE 100, 1, 51 f = SozR 3-8570 § 10 Nr 3), schützte das Vertrauen der "rentennahen" Inhaber einer Versorgungsanwartschaft in den Erhalt des Werts dieser Anwartschaft nach dem im Juli 1990 maßgeblichen Versorgungsrecht der DDR, soweit es nach dem EV zu Bundesrecht wurde, sowie (bei Zusatzversorgten) den Wert der Anwartschaft auf Sozialpflichtversicherungsrente (vgl BSG SozR 3-8570 § 4 Nr 3 S 11 und Nr 4 S 28). Wenn der fiktive Versorgungsfall nach der Versorgungsordnung vor dem eintritt, wird er so behandelt, als wäre er am eingetreten. Maßstab für die Höhe des fiktiven Gesamtanspruchs aus Sozialversicherung und Zusatzversorgung sind dann die leistungsrechtlichen Regelungen des am im Beitrittsgebiet geltenden Rentenversicherungs- und Versorgungsrechts, soweit es am zu Bundesrecht wurde. Ausgehend hiervon ist zu prüfen, welche Ansprüche, in welcher Höhe dem Berechtigten nach den im Juli 1990 maßgeblichen Bestimmungen zugestanden hätten. Da den Zugangsrentnern nur ein zeitlich limitierter Bestandsschutz garantiert wurde, ist - als Anwendungsvoraussetzung des § 4 Abs 4 AAÜG - stets vorab zu prüfen, ob nach den leistungsrechtlichen Bestimmungen des Versorgungssystems der Versorgungsfall bis zum Ablauf des eingetreten wäre, also die Versorgungsanwartschaft innerhalb dieses Zeitraums zu einem Vollrecht auf Versorgung erstarkt wäre. Diese grundlegende Voraussetzung für die Maßgeblichkeit des "besitzgeschützten Zahlbetrages" oder des "weiterzuzahlenden Betrages" hat § 4 Abs 4 Satz 2 AAÜG seit dem in verfassungsgemäßer inhaltlich unveränderter Fassung fortgeschrieben.

c) Nach EV Nr 9 und § 4 Abs 4 Satz 1 und 2 AAÜG ist bei dem am geborenen Kläger die (überführte) Versorgungsanwartschaft bis zum Fristende (Ablauf des ) zum fiktiven Vollrecht auf Versorgung erstarkt. Denn ihm hätte nach § 8 Buchst a der Verordnung über die AVIwiss vom (GBl 675) mit Vollendung des 65. Lebensjahres, also am , ein Recht auf zusätzliche Altersversorgung und damit ein Recht aus dem Zusatzversorgungssystem nach Nr 4 der Anlage 1 zum AAÜG (AVIwiss) zugestanden. Damit ist ihm aber zugleich als Mindestbetrag der "besitzgeschützte Zahlbetrag" nach EV Nr 9 Buchst b Satz 5 garantiert oder der ihm erstmals vom RÜG gewährte "weiterzuzahlende Betrag" gewährleistet worden.

d) An dieser vom EV vorgegebenen eigentumsgeschützten Zahlbetragsgarantie änderte § 4 Abs 4 AAÜG nichts. Bereits die ursprüngliche Fassung des RÜG vom (BGBl I 1606) stellte in Satz 1 aaO für die Maßgeblichkeit des damals dort - verfassungswidrig allein - geschützten "weiterzuzahlenden Betrages" drei Voraussetzungen auf: Der Berechtigte musste zum einen in ein Zusatz- oder Sonderversorgungssystem einbezogen worden sein ("Zugehörigkeit zu einem Zusatzversorgungssystem/Sonderversorgungssystem"); zum anderen musste er am seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet gehabt haben. Außerdem war der Bestandsschutz zeitlich limitiert ("Beginnt eine Rente nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der Zeit vom bis zum ..."); zudem wurde in Satz 2 vorausgesetzt, dass die vorgenannten Voraussetzungen des Satzes 1 nur dann erfüllt sind, wenn der Berechtigte "einen Anspruch aus dem Versorgungssystem gehabt hätte, wenn die Regelungen der Versorgungssysteme weiter anzuwenden wären".

Soweit die zeitliche Grenze des Bestandsschutzes "bis zum " verkürzt wurde, ist diese Einschränkung mit Blick auf die in EV Nr 9 Buchst b Satz 5 insoweit geregelte Zahlbetragsgarantie für rentennahe Jahrgänge ("bis ") verfassungswidrig und nichtig. Sie ist durch das 2. AAÜG-ÄndG dementsprechend wieder in Übereinstimmung mit EV Nr 9 Buchst b Satz 5 so klargestellt worden, dass das Fristende des zeitlich begrenzten Bestandsschutzes weiterhin der Ablauf des ist (§ 188 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch). Denn die Zahlbetragsgarantie des EV Nr 9 Buchst b Satz 4 und 5 erfüllt eine zentrale Schutzfunktion, sie vermittelt Eigentumsschutz und gleicht zu Gunsten der rentennahen Jahrgänge die Nachteile aus, die sich aus der Entscheidung des EV für die Überführung der Leistungen aus den Zusatz- und Sonderversorgungssystemen in die Rentenversicherung des Beitrittsgebiets zum und die Überleitung in die gesetzliche Rentenversicherung des SGB VI am ergeben und hat insoweit dem Vertrauensschutz Vorrang eingeräumt (BVerfGE 100, 1, 41, 51 ff = SozR 3-8570 § 10 Nr 3). § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG konnte deshalb ohne Verstoß gegen Verfassungsrecht die zeitliche Geltungsdauer des Bestandsschutzes für rentennahe Jahrgänge nicht verkürzen.

e) Für die Auslegung des Satzteils "Beginnt eine Rente nach den Vorschriften des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch in der Zeit vom bis zum " sind entgegen der Auffassung des SG und der Beklagten in § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG die Vorgaben des EV maßgeblich. Dies gilt unabhängig davon, dass auch nach dem SGB VI der materiell-rechtliche Rentenbeginn der Zeitpunkt der Entstehung des Vollrechts auf Rente bei Vorliegen des Versicherungsfalls (vgl § 40 Abs 1 Erstes Buch Sozialgesetzbuch) mit dem zum Ersten des Kalendermonats nach Eintritt des Versicherungsfalls (endgültig) gegebenen Geldwert ist, der von keinem "Rentenantrag" iS von § 99 Abs 1 SGB VI (= Leistungsantrag) abhängt. Der irreführend in § 99 SGB VI genannte "Beginn" (nicht: "Rentenbeginn" oder "Beginn der Rente") benennt nur den Zeitpunkt, ab dem der Rentenversicherungsträger den aus dem Stammrecht monatlich (ohne Antrg) entstehenden Einzelansprüchen nicht (mehr) den anspruchsvernichtenden Einwand der verspäteten Antragstellung entgegenhalten darf, also unabwendbar seine Schulden begleichen, also "leisten" muss (stellv BSG SozR 3-2600 § 300 Nr 3, § 99 Nr 5, § 100 Nr 1 mwN). Auch in § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG hat der Ausdruck "Beginnt eine Rente" nur den materiell-rechtlichen Sinn "Beginnt (dh: entsteht) ein Recht auf Rente".

Ab dem gibt es im ganzen Bundesgebiet - auch für früher (bis zum Ablauf des ) Versorgungsberechtigte - nur noch Rechte und Anwartschaften auf Renten nach dem SGB VI. Diese ersetzten - nach Überführung der Rechte und Anwartschaften aus den Versorgungssystemen in die Rentenversicherung des Beitrittsgebiets (gesetzliche Novation durch Überführung) zum, nicht: am, - die am im Beitrittsgebiet bestehenden Rechte und Anwartschaften ab Beginn des (gesetzliche Novation durch Überleitung des Bundesrechts auf das Beitrittsgebiet), auch soweit es sich am um "überführte" Rentenversicherungsberechtigungen handelte. Voraussetzung für den zeitlich begrenzten Bestandsschutz der rentennahen Jahrgänge war, dass die fiktive Anwartschaft innerhalb der Übergangsfrist zu einem fiktiven Vollrecht auf Versorgung erstarken würde. Der Ausdruck "Beginnt eine Rente" ist deshalb in § 4 Abs 4 Satz 1 AAÜG von vornherein nur im materiell-rechtlichen Sinn zu verstehen. Es muss - wie hier - bis zum Ablauf des ein Stammrecht auf Rente nach dem SGB VI entstanden sein. Die Auffassung der Beklagten und der Vorinstanz würde dazu führen, dass die Grundrechtsposition aus EV Nr 9 Buchst b Satz 5 "unter der Hand" erneut verfassungswidrig um einen Monat gekürzt würde. Entgegen dem Grundrecht wäre es dann schlechthin unerheblich, ob die "Leistungsberechtigung" nach der Versorgungsordnung in der Zeit vom Beginn des bis zum - fiktiv - entstanden wäre.

3. Der Kläger hat demnach Anspruch darauf, dass bei der Entscheidung über den monatlichen Wert seines Rechts auf RAR von den drei nach § 4 Abs 4 AAÜG jeweils eigenständig festzusetzenden Werten (Monatsbetrag der SGB VI-Rente ab Rentenbeginn; statisch "weiterzuzahlender Betrag"; durch EV Nr 9 Buchst b Satz 5 "besitzgeschützter Zahlbetrag") in jedem Bezugsmonat der höchste Wert als maßgeblicher Wert des Rechts auf Rente festzustellen ist (vgl BSG SozR 3-8570 § 4 Nr 3 S 9 f und Nr 4 S 27 f).

Im Hinblick auf die nicht festgestellten Tatsachen, die für die gebotenen Vergleichsfeststellungen erforderlich sind, ist das Urteil des SG aufzuheben und der Rechtsstreit an dieses Gericht zurückzuverweisen.

a) Das SG wird bei der weiteren Sachbehandlung der Anfechtungsklage gegen die Ablehnung des Rücknahmeanspruchs, von deren Erfolg die weiteren Klagen des Klägers abhängen, zu beachten haben, dass es gesetzlich dem Rentenversicherungsträger vorbehalten ist, den Wert des "besitzgeschützten Zahlbetrages" und den des "weiterzuzahlenden Betrages" für Juli 1995 durch Verwaltungsakt festzusetzen. Der rechtsprechenden Gewalt ist es schlechthin untersagt (Art 20 Abs 2 Satz 2 Grundgesetz), Verwaltungsakte zu erlassen, ebenso, ohne eine vom Gesetz (§ 117 SGB VI) der Verwaltung vorbehaltene Erstentscheidung über Rechte und Ansprüche auf Rente selbst als erste staatliche Instanz zu entscheiden. Da die Rechte auf eine SGB VI-Rente in Höhe des "besitzgeschützten Zahlbetrages" und des "weiterzuzahlenden Betrages" mit dem Recht auf die aus dem SGB VI zustehende "Rentenhöhe" konkurrieren ("Anspruchskonkurrenz", keine bloße "Anspruchsgrundlagenkonkurrenz"), müssen ihre Werte von der Beklagten festgestellt sein, bevor eine abschließende Gerichtsentscheidung ergehen darf, die sich (nach erweiternder Auslegung des § 96 SGG) dann auch auf diese Verwaltungsakte erstreckt. Insoweit wird das SG die Anwendung des § 114 Abs 2 Satz 1 SGG zu prüfen haben (§ 131 Abs 5 SGG ist hier nicht anwendbar).

b) Kommt das SG auf Grund der noch zu treffenden tatsächlichen Feststellungen zu dem Ergebnis, dass der von der Beklagten für Juli 1995 festgesetzte Höchstwert des Stammrechts auf Altersrente, der sich aus den allgemeinen Regelungen des SGB VI (ohne die Vorschriften über "geschützte Beträge") ergab, der höchste der drei jeweils gesondert durch Verwaltungsakt zu bestimmenden Werte war, sind die Klagen schon deshalb abzuweisen, weil die Höchstwertfestsetzung vom rechtmäßig war, sodass das Begehren auf Aufhebung der Feststellung, der Kläger habe keinen Anspruch auf Rücknahme dieses Verwaltungsakts, unbegründet ist; daher sind dann auch die anderen, vom Erfolg dieser Anfechtungsklage abhängigen Klagen unbegründet.

c) Ergibt sich, dass für Juli 1995 der Wert des "besitzgeschützten Zahlbetrages" oder/und der des "weiterzuzahlenden Betrages" höher waren als der damals nach dem SGB VI festgesetzte Rentenhöchstwert, sind die Anfechtungsklage und die Verpflichtungsklage auf Rücknahme der Höchstwertfestsetzung vom begründet.

d) Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass bei Vorliegen der unter c) angesprochenen Fallgestaltungen für die Beklagte nach § 48 Abs 1 SGB X hinreichend Anlass bestehen dürfte, auch zu Gunsten des Klägers zu prüfen, ob Aufhebungen und Neufeststellungen für Bezugszeiten nach Juli 1995 zu erlassen sind.

4. Die Kostenentscheidung - auch über die Kosten des Revisionsverfahrens - bleibt dem SG vorbehalten.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
RAAAC-13836