BVerwG Beschluss v. - 6 C 27.05

Leitsatz

Die Zustimmung nach § 134 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist bis zur Einlegung der Sprungrevision grundsätzlich widerruflich.

Weist das Verwaltungsgericht eine Klage auf Feststellung der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts ab, hebt diesen aber auf den entsprechenden Hilfsantrag hin auf und lässt die Berufung und die Sprungrevision zu, so widerruft die Behörde, die der Sprungrevision bereits vor Erlass des Urteils zugestimmt hatte, ihre Zustimmung konkludent durch Einlegung der Berufung, wenn diese vor Einlegung der Sprungrevision erfolgt.

Gesetze: VwGO § 134 Abs. 1; VwGO § 134 Abs. 5

Instanzenzug: VG Frankfurt am Main VG 1 E 1159/05 (V) vom

Gründe

I

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom den Hauptantrag der Klägerin, die Nichtigkeit der Verfügung der Beklagten vom und des Widerspruchsbescheids vom festzustellen, abgewiesen, jedoch auf den Hilfsantrag hin diese Verfügungen aufgehoben. Es hat die Berufung und die Revision zugelassen. Die Beklagte hatte der Sprungrevision bereits vor Ergehen des Urteils des Verwaltungsgerichts mit Schriftsatz vom zugestimmt. Die Klägerin hat unter Beifügung einer Ablichtung der Zustimmungserklärung der Beklagten vom am die Sprungrevision eingelegt. Die Beklagte hatte zuvor am Berufung eingelegt.

II

Die Sprungrevision ist unzulässig und daher gemäß § 144 Abs. 1 VwGO durch Beschluss zu verwerfen.

Gemäß § 134 Abs. 1 VwGO steht den Beteiligten gegen das Urteil eines Verwaltungsgerichts die Revision unter Übergehung der Berufungsinstanz zu, wenn der Kläger und der Beklagte der Einlegung der Sprungrevision schriftlich zustimmen und wenn sie von dem Verwaltungsgericht im Urteil oder auf Antrag durch Beschluss zugelassen wird. Die Zustimmung zu der Einlegung der Sprungrevision ist, wenn die Revision - wie hier - im Urteil zugelassen ist, der Revisionsschrift beizufügen. Gemäß § 134 Abs. 5 VwGO gelten die Einlegung der Revision und die Zustimmung als Verzicht auf die Berufung, wenn das Verwaltungsgericht die Revision zugelassen hat.

Die Klägerin hat die zugelassene Sprungrevision gegen das am zugestellte Urteil am fristgerecht eingelegt. Dabei hat sie eine Ablichtung der Zustimmungserklärung der Beklagten beigefügt. Die Übersendung nur einer Ablichtung des Schriftsatzes der Beklagten vom ist nicht bedenklich, da sich das Original dieses Schriftsatzes bereits in den Gerichtsakten befand (vgl. BVerwG 4 C 1.01 - Buchholz 310 § 134 VwGO Nr. 49; BVerwG 6 C 4.05 -). Auch der Umstand, dass die Zustimmung bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils erklärt worden ist, ist unbedenklich (Urteil vom a.a.O.).

Die Zustimmungserklärung der Beklagten ist jedoch dadurch konkludent widerrufen worden, dass sie Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts eingelegt hat. In der Literatur wird überwiegend angenommen, dass die Zustimmungserklärung bis zur Einlegung der Revision widerruflich ist und die Einlegung der Berufung oder der Antrag auf Zulassung der Berufung als ein konkludenter Widerruf der Zustimmung zur Sprungrevision anzusehen ist (vgl. Maetzel, MDR 1966, 93 <96>; Schaeffer, NVwZ 1982, 21 <23>; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 134 Rn. 20; Neumann in: Nomos - Kommentar zur VwGO, Bd. IV, § 134 Rn. 50, 117; Pietzner in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner, VwGO, Bd. II, § 134 Rn. 21, 57; Schmidt in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 134 Rn. 7; a. A. Bader in: Bader u.a., VwGO, 3. Aufl. 2005, § 134 Rn. 14).

Der Senat schließt sich der überwiegend vertretenen Rechtsauffassung an. Dafür spricht, dass die Parteien mit der Erklärung und der nachfolgenden Einlegung der Revision, die gemäß § 134 Abs. 5 VwGO als Verzicht auf die Berufung gelten, einvernehmlich über den Instanzenzug disponieren. Die Verzichtswirkung des § 134 Abs. 5 VwGO tritt daher erst dann ein, wenn der Gegner die Sprungrevision tatsächlich einlegt (vgl. - NJW 1997, 2387). Allein mit der Zustimmung ist die Prozesslage noch nicht abschließend gestaltet. Namentlich ist damit und mit einer entsprechenden Erklärung des Rechtsmittelgegners nicht, wie die Klägerin meint, ein Prozessvertrag darüber abgeschlossen worden, dass nur noch Sprungrevision eingelegt werden soll. Dafür, dass wechselseitige Zustimmungen zur Sprungrevision als Prozessvertrag dahin zu verstehen sind, dass keine nach dem Prozessrecht ebenfalls mögliche Berufung eingelegt wird, ist nichts ersichtlich. Solchenfalls läge vielmehr der Abschluss eines Rechtsmittelverzichtsvertrages nahe. Derartige Erklärungen sind nicht anders zu beurteilen als etwa die übereinstimmende Erklärung, auf mündliche Verhandlung zu verzichten. Auch darin wird ein Prozessvertrag nicht gesehen (vgl. Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl. 2004, § 66 III 2, Rn. 9).

Die Zustimmung kann daher - ähnlich wie eine einseitige Erledigungserklärung ( BVerwG 4 C 27.90 - Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 92 m.w.N.) - bis zur abschließenden Gestaltung der Prozessrechtslage durch Einlegung der Sprungrevision noch zurückgenommen werden. Zwar unterliegen Handlungen, die unmittelbar die Einleitung, Führung oder Beendigung des Prozesses betreffen, nicht der Anfechtung nach den §§ 119 ff. BGB. Das bedeutet indessen nicht, dass die Beteiligten sich an ihren Erklärungen ausnahmslos festhalten lassen müssen. In der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist vielmehr anerkannt, dass Prozesshandlungen unter bestimmten Umständen widerrufen werden können. Ein Widerruf kommt - was hier nicht in Rede steht - in Betracht, wenn ein Restitutionsgrund im Sinne des § 580 ZPO vorliegt (dazu BVerwG 6 C 10.78 - BVerwGE 57, 342 = Buchholz 232 § 87 BBG Nr. 60). Ein Widerruf kommt ferner dann in Betracht, wenn es mit dem Grundsatz von Treu und Glauben, der das gesamte Recht unter Einschluss der Verwaltungsgerichtsordnung beherrscht, unvereinbar wäre, einen Beteiligten an einer von ihm vorgenommenen Prozesshandlung festzuhalten (vgl. zum Ganzen BVerwG 4 B 75.98 - Buchholz 310 § 161 VwGO Nr. 115). Der Grundsatz von Treu und Glauben erfordert es insbesondere auch, denjenigen Beteiligten, der bereits vor Erlass des erstinstanzlichen Urteils einseitig seine Zustimmung zur Sprungrevision erklärt hat, nicht daran festzuhalten, solange die Revision nicht zugelassen und wirksam eingelegt worden ist. Erklärt ein Verfahrensbeteiligter bereits vor Erlass des Urteils des Verwaltungsgerichts seine Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision, kann der Gegner auf den Bestand dieser Erklärung nicht vertrauen. Es ist noch unbekannt, wer im Rechtsstreit obsiegen wird und aus welchen tatsächlichen oder rechtlichen Erwägungen das Verwaltungsgericht seine Entscheidung treffen wird. Ferner steht nicht fest, dass es überhaupt zur Zulassung der Sprungrevision kommt, erst recht nicht, dass eine zugelassene Sprungrevision auch eingelegt wird. Jedem Verfahrensbeteiligten muss klar sein, dass die Zustimmung zur Sprungrevision in dem dargelegten Verfahrensstadium bei Annahme ihrer Unwiderruflichkeit eine erhebliche Einschränkung des prozessualen Vorgehens zur Folge hätte, würde doch der Erklärende in Unkenntnis des erst noch ergehenden Urteils auf eine zweite Tatsacheninstanz verzichten, wenn er unterliegen und die Berufung zugelassen würde. Es kann indessen nicht darauf vertraut werden, dass bereits vor Kenntnis des Urteils und der dieses tragenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen eine derart bedeutsame Erklärung mit sofortiger Bindungswirkung abgegeben werden soll. Mit Recht wird daher in der verwaltungsprozessualen Literatur, wie dargestellt, überwiegend angenommen, die Zustimmungserklärung sei bis zur Einlegung der Sprungrevision widerruflich. Zum Zivilprozessrecht wird diese Auffassung ebenfalls von einem Teil des Schrifttums vertreten (Grunsky in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1994, § 566a Rn. 5; Wieczorek, ZPO, 2. Aufl.1988, Bd. 3, § 566a Anm. B I c 2; a.A. Gummer in: Zöller, ZPO, 25. Aufl. 2005, § 566 Rn. 4; Kayser in: Saenger, ZPO, § 566 Rn. 3; Wenzel in: Münchener Kommentar zur ZPO, 2. Aufl. 2000, § 566a Rn. 7). Der Bundesgerichtshof hat zunächst, die Entscheidung nicht tragend, die Unwiderruflichkeit der Zustimmungserklärung angenommen ( - BGHZ 92, 76 <78>). In dem bereits angeführten Beschluss vom - III ZB 8/97 - (a.a.O.) hat er jedoch ausgeführt, dass die Einwilligung zur Sprungrevision erst dann als Berufungsverzicht wirkt, wenn der Gegner tatsächlich Sprungrevision einlegt.

Die Beklagte hat mit der Einlegung der Berufung deutlich gemacht, dass sie eine zweite Tatsacheninstanz für geboten erachtete. Nach ihrem Willen sollte also - entgegen dem Inhalt ihrer Zustimmungserklärung vom und sowohl für das Gericht als auch für die Klägerin erkennbar - der Verzicht auf die zweite Tatsacheninstanz, der gemäß § 134 Abs. 5 VwGO bei fortdauernder Zustimmung mit der nachfolgenden Einlegung der Sprungrevision durch die Klägerin verbunden gewesen wäre, nicht eintreten. Die Einlegung der Berufung ist demnach als ein rechtzeitiger konkludenter Widerruf der Zustimmung zur Sprungrevision zu bewerten. Dem kann mit Blick auf die Besonderheiten des vorliegenden Streitfalls nicht entgegengehalten werden, es lägen unterschiedliche Streitgegenstände vor. Streitgegenstand ist der prozessuale Anspruch, der durch die erstrebte, im Klageantrag zum Ausdruck kommende Rechtsfolge sowie den Sachverhalt, aus dem sich die Rechtsfolge ergeben soll, gekennzeichnet ist ( BVerwG 9 C 501.93 - BVerwGE 96, 24 <25>). Die mit der Klage verfolgte Nichtigerklärung und hilfsweise Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom und des Widerspruchsbescheids vom stehen in einem rechtlichen Stufenverhältnis und betreffen denselben Verwaltungsakt. Die Entscheidung über die Nichtigkeit der angefochtenen Verfügung hängt - wenn nicht mit dem Verwaltungsgericht bereits angenommen werden müsste, dass es jedenfalls an der dafür notwendigen Schwere und Offensichtlichkeit eines etwaigen Rechtsfehlers des angefochtenen Verwaltungsakts fehlt, was zur Unbegründetheit der Sprungrevision führen müsste - davon ab, ob die Verfügung der Beklagten rechtswidrig ist. Da andernfalls die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen bestünde, kann der vorliegende Rechtsstreit nicht, wie es der Klägerin vorschweben dürfte, gleichzeitig mit dem Nichtigkeitsfeststellungsantrag in der Revisionsinstanz und mit dem Anfechtungsantrag in der Berufungsinstanz anhängig sein. Das Verwaltungsgericht hat daher die Aussprüche über die Zulassung der Berufung und der Revision zu Recht auf das gesamte Verfahren bezogen.

Entgegen ihrer Auffassung erleidet die Klägerin keine prozessualen Nachteile. Hinsichtlich einer Versäumung der Berufungsfrist durch den Revisionsführer in Fällen der vorliegenden Art muss grundsätzlich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden. Nach Durchführung des Berufungsverfahrens kann, wenn die Voraussetzungen vorliegen, die Revision zugelassen werden, so dass eine Beantwortung der sich stellenden Rechtsfragen durch das Revisionsgericht auf dann geklärter Tatsachengrundlage erfolgen kann. Eine Kostenbelastung der Klägerin, welche sie ebenfalls anspricht, tritt nicht ein, wie sich aus den nachfolgenden Gründen ergibt.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 155 Abs. 4 VwGO. Die Beklagte hat sich dadurch, dass sie bereits vor Erlass des angefochtenen Urteils der Sprungrevision zugestimmt, nachfolgend jedoch selbst gegen das erstinstanzliche Urteil Berufung eingelegt und dadurch die Zustimmung zur Revision konkludent zurückgenommen hat, nicht widerspruchsfrei verhalten, was ihr zugerechnet werden muss. Dem steht nicht entgegen, dass der Vorstand der Klägerin, wie die Beklagte vorträgt, am bei Einlegung der Sprungrevision bereits Kenntnis von der Berufung der Beklagten gehabt haben soll. Daraus musste der vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht postulationsfähige Vorstand nicht ohne weiteres auf die Unzulässigkeit der Sprungrevision schließen. Jedenfalls ändert diese Kenntnis nichts an der prozessual unklaren Lage, welche die Beklagte verursacht hat. Daher macht der Senat von dem ihm eingeräumten Ermessen dahingehend Gebrauch, dass der Beklagten die Kosten des Revisionsverfahrens auferlegt werden.

Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.

Fundstelle(n):
NJW 2006 S. 2424 Nr. 33
PAAAC-13050