BVerwG Beschluss v. - 4 B 83.02

Leitsatz

Die Weiterleitung eines fristgebundenen Schriftsatzes vom erstinstanzlichen Verwaltungsgericht zum Berufungsgericht durch einen gerichtseigenen Kurierdienst entspricht nicht dem "ordentlichen Geschäftsgang", wenn die Übermittlung auf diesem Wege erfahrungsgemäß länger dauert als die Versendung mittels Brief oder Paket durch die Post.

Gesetze: VwGO § 60 Abs. 1; VwGO § 124 a Abs. 6 Satz 1

Instanzenzug: VG Leipzig VG 5 K 2120/99 vom OVG Bautzen OVG 1 B 497/02 vom

Gründe

I.

Der Kläger wendet sich gegen eine der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung. Das Verwaltungsgericht Leipzig hat seiner Klage (teilweise) stattgegeben.

Mit Beschluss vom , der der Beklagten am zugestellt worden ist, hat das Sächsische Oberverwaltungsgericht die Berufung zugelassen. Die Beklagte hat ihre Berufung mit einem an das Oberverwaltungsgericht adressierten Schriftsatz vom begründet. Die Begründung ist am (Donnerstag) beim Verwaltungsgericht Leipzig eingegangen und am (Mittwoch) beim Sächsischen Oberverwaltungsgericht eingetroffen. Auf Seite 1 des Schriftsatzes ist angegeben, dass es sich um eine Berufungsbegründung handele, "nachdem der Senat die Berufung mit Beschluss vom , zugestellt am , zugelassen hat". Wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist hat die Beklagte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt.

Das Berufungsgericht hat die Berufung der Beklagten verworfen, weil die Berufungsbegründungsfrist nicht gewahrt und eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht möglich sei; denn die Beklagte sei nicht ohne Verschulden an der Wahrung der gesetzlichen Frist gehindert gewesen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision wendet sich die Beklagte. Mit ihrer auf sämtliche Zulassungsgründe des § 132 Abs. 2 VwGO gestützten Beschwerde rügt sie, dass das Berufungsgericht ihr wegen der Fristversäumung nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt habe. Die Beigeladene unterstützt die Beschwerde. Der Kläger beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen; er tritt dem Beschwerdevortrag entgegen.

II.

Die Beschwerde ist nur insoweit zulässig und begründet, als sie gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO als Verfahrensmangel rügt, dass das Berufungsgericht keine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt habe. Die materiellen Rügen müssen dagegen erfolglos bleiben.

1. Für rechtsgrundsätzlich bedeutsam hält die Beschwerde die Frage, "was genau unter einer fristgerechten Weiterleitung eines fristgebundenen Schriftsatzes an das Rechtsmittelgericht im 'ordentlichen Geschäftsgang'" zu verstehen sei, insbesondere, ob "die Inanspruchnahme des gerichtseigenen Kurierdienstes, welcher vom VG Leipzig noch einmal Zwischenstation am LG Dresden macht und dann erst die Post zum OVG Bautzen bringt", noch dazugehöre.

Diese Frage ist zwar entscheidungserheblich. Denn das Berufungsgericht lehnt die Wiedereinsetzung ab, weil die Beklagte an der Wahrung der gesetzlichen Frist nicht "ohne Verschulden" i.S. von § 60 Abs. 1 VwGO gehindert gewesen sei. Dabei geht es davon aus, dass die Beklagte bei der Absendung der Berufungsbegründung diejenige Sorgfalt außer Acht gelassen habe, die geboten und zumutbar gewesen sei. Das Verschulden der Beklagten wäre aber mangels Kausalität unbeachtlich, wenn ihr Schriftsatz bei Weiterleitung im "ordentlichen Geschäftsgang" das Berufungsgericht noch fristgerecht erreicht hätte.

Gleichwohl rechtfertigt die Frage die Zulassung der Revision nicht.

Soweit sie rechtgrundsätzlich klärungsfähig ist, ist sie nämlich bereits durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. Nach der Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts folgt aus der auf dem Gebot eines fairen Verfahrens beruhenden Fürsorgepflicht des erstinstanzlichen Gerichts für die Prozessparteien, dass es fristgebundene Schriftsätze des Rechtsmittelverfahrens, die bei ihm eingereicht werden, im Zuge des ordentlichen Geschäftsgangs an das Rechtsmittelgericht weiterleiten muss ( - NJW 1995, 3173 <3175>). Da es um die Einhaltung von Fristen geht, gebietet die Fürsorgepflicht die Weiterleitung ohne schuldhaftes Zögern (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 476/01 - NJW 2002, 3692 <3693>). Allerdings braucht das unzuständige Gericht den Parteien und ihren Prozessbevollmächtigten nicht die Verantwortung für die Einhaltung der Formalien abzunehmen. Mit der Formulierung "ordentlicher Geschäftsgang" ist deshalb gemeint, dass die Vorinstanz zu Eilmaßnahmen rechtlich nicht verpflichtet ist. So muss sie weder die Partei, die ihren Schriftsatz irrtümlich bei ihr eingereicht hat, durch Telefonat oder Telefax auf diesen Irrtum hinweisen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des 1. Senats vom - 1 BvR 2147/00 - NJW 2001, 1343), noch muss sie den Schriftsatz selbst per Telefax an das Rechtsmittelgericht weiterleiten. Die Fürsorgepflicht wird jedoch verletzt, wenn das vorinstanzliche Gericht den Schriftsatz auf einem Wege weiterleitet, der seine Fristgebundenheit unberücksichtigt lässt und deshalb vernünftigerweise für die Übersendung fristgebundener Schriftsätze "ohne schuldhaftes Zögern" nicht in Betracht kommt. Danach erscheint die Weiterleitung eines Schriftsatzes durch einen gerichtseigenen Kurierdienst zwar nicht von vornherein als ausgeschlossen. Sie muss aber ausscheiden, wenn die Übermittlung auf diesem Wege erfahrungsgemäß länger dauert als die im Regelfall auch heute noch vorherrschende Versendung mit der Post. Nur dann kann die bei einem Gericht übliche Versendungsart mit dem "ordentlichen Geschäftsgang" im Sinne der genannten verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gleichgesetzt werden, wenn sie im Ergebnis nicht deren Ziel vereitelt, den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts nicht durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften zu unterlaufen (vgl. auch a.a.O.).

Eine weitergehende rechtsgrundsätzliche Klärung ist dagegen nicht möglich. Soweit die Frage die rechtliche Einordnung des gerichtlichen Kurierdienstes zwischen dem Verwaltungsgericht Leipzig und dem Sächsischen Oberverwaltungsgericht betrifft, stellt sie auf die besonderen Verhältnisse der Versendung von Akten und Schriftstücken zwischen sächsischen Gerichten ab; hierfür fehlt ihr die über den vorliegenden Einzelfall hinausgehende allgemeine Bedeutung.

2. Die Rüge, die Entscheidung des Berufungsgerichts weiche von dem - (NJW 1995, 3173 ff.) ab, muss schon deshalb erfolglos bleiben, weil die Beschwerde selbst nicht geltend macht, das Berufungsgericht habe einen abstrakten Rechtsgrundsatz aufgestellt, der im Widerspruch zu einem solchen Rechtssatz in der zitierten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts stehe. Vielmehr rügt die Beschwerde sinngemäß nur, dass sich das Berufungsgericht mit wichtigen Aussagen des Bundesverfassungsgerichts "nicht beschäftigt" habe; eine Abweichung i.S. von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO ist damit nicht dargetan.

3. Zu Recht rügt die Beschwerde jedoch, dass das Berufungsgericht der Beklagten nicht Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gewährt hat. Die Beklagte war ohne Verschulden verhindert, die Frist des § 124 a Abs. 6 Satz 1 VwGO einzuhalten (§ 60 Abs. 1 VwGO). Denn ihr Schriftsatz vom mit der Berufungsbegründung wäre rechtzeitig bis zum Ende der Begründungsfrist am Montag, dem , beim Berufungsgericht eingetroffen, wenn er sofort nach seinem Eingang am Donnerstag, dem , beim Verwaltungsgericht unter Beachtung der oben dargelegten Grundsätze an das Berufungsgericht geschickt worden wäre. Aus der prozessualen Fürsorgepflicht der Vorinstanzen ergibt sich, dass ein offensichtlich fehlgeleiteter Schriftsatz, dessen Fristgebundenheit ohne weiteres erkennbar ist, noch am selben Tage weitergeleitet wird. Wäre dies geschehen, so wäre die Berufungsbegründung bei Benutzung der Post sowohl bei gesonderter Weiterleitung als einzelner Brief als auch bei einer möglicherweise in Betracht kommenden Versendung in einem Sammelpaket regelmäßig am nächsten Tag, spätestens aber am zweiten Arbeitstag nach der Absendung - und damit rechtzeitig - beim Berufungsgericht eingetroffen. Des gerichtseigenen Kurierdienstes durfte sich das Verwaltungsgericht in diesem Fall nur bedienen, wenn er keinen größeren Zeitraum für die Übermittlung benötigte. Wenn die Weiterleitung eines Schriftsatzes innerhalb eines Bundeslandes von einem Gericht zu einem anderen Gericht sechs Tage dauert, kann von einem "ordentlichen Geschäftsgang" nicht mehr gesprochen werden.

Zu Unrecht ist das Berufungsgericht der Auffassung, es sei nicht erkennbar gewesen, dass es sich bei dem Schreiben vom um einen fristgebundenen, eiligen Schriftsatz gehandelt habe. Unrichtig ist, dass anhand der Berufungsbegründung nicht erkennbar gewesen sei, wann die Berufungsbegründungsfrist ende. Denn auf der ersten Seite des Schriftsatzes wird angegeben, wann der Zulassungsbeschluss zugestellt worden ist; danach konnte das Ende der Frist ohne weiteres errechnet werden. Das Berufungsgericht weist ferner darauf hin, das die Begründungsfrist verlängert werden könne; es deutet damit an, dass die Frist möglicherweise hätte verlängert gewesen sein können. Das Berufungsgericht meint schließlich, dass nicht erkennbar gewesen sei, ob der Schriftsatz die Frist habe wahren sollen; es sei nicht klar gewesen, ob dies nicht bereits durch ein Telefax geschehen sei. Diese Gründe gehen von einem falschen rechtlichen Ansatz aus. Das Berufungsgericht schränkt mit ihnen die Weiterleitungspflicht des vorinstanzlichen Gerichts in unzulässiger Weise ein. Für diese Pflicht reicht es aus, dass die Berufungsbegründung kraft gesetzlicher Vorschrift fristgebunden ist. Dass es sich hier um eine Berufungsbegründung handelte, ergab sich ohne weiteres aus dem Text ihrer ersten Seite. Auch das Berufungsgericht stellt dies nicht in Abrede. Alle weiteren Überlegungen des Berufungsgerichts waren überflüssig. Das Verwaltungsgericht brauchte nicht zu prüfen, ob der Schriftsatz ausnahmsweise nicht eilig war, weil die Begründungsfrist verlängert oder weil das Schreiben schon per Telefax übermittelt worden war. Wenn die Weiterleitungspflicht im ordentlichen Geschäftsgang vom Fehlen derartiger (negativer) Ausnahmen abhängig wäre, würde das "allgemeine Prozessgrundrecht" auf ein faires Verfahren ( a.a.O., S. 1343) vielfach leer laufen. Den Gerichten ist es verwehrt, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Vorschriften den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen. Dies ist auch bei der Prüfung, ob Wiedereinsetzung zu gewähren ist, zu berücksichtigen ( a.a.O., S. 3693, m.w.N.).

Die angefochtene Entscheidung beruht auf diesem Verfahrensfehler; sie ist deshalb aufzuheben. Der Senat macht von der Möglichkeit des § 133 Abs. 6 VwGO Gebrauch und verweist die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurück.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

Fundstelle(n):
LAAAC-12626