Leitsatz
Hat das Oberverwaltungsgericht über den vor Ablauf der Frist zur Begründung der zugelassenen Berufung gestellten (ordnungsgemäßen) Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht vorab entschieden, darf es die Berufung nicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verwerfen.
Gesetze: VwGO § 60; VwGO § 125; VwGO § 124 Abs. 6; VwGO § 166
Instanzenzug: VG Aachen VG 6 K 1693/98 .A vom OVG Münster OVG 8 A 3366/01 .A vom
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet. Der Kläger rügt zu Recht als Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO), dass das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht als unzulässig hätte verwerfen dürfen, ohne zuvor über den innerhalb der Berufungsbegründungsfrist gestellten Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts entschieden zu haben und ggf. Wiedereinsetzung nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe zu gewähren. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung verweist der Senat die Sache gemäß § 133 Abs. 6 VwGO an das Berufungsgericht zurück.
Das Oberverwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss, mit dem es die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist nach § 124 a Abs. 6 VwGO versagt hat, ausgeführt, dass dem Kläger Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist nicht aus den von seiner Prozessbevollmächtigten im Wiedereinsetzungsgesuch vom geltend gemachten Gründen gewährt werden konnte. Das ist insofern nicht frei von Bedenken, als das Oberverwaltungsgericht die anwaltlich versicherten Angaben der Prozessbevollmächtigten des Klägers, sie habe das Original der Begründungsschrift vom "selbst in die Post gegeben", von vornherein als ungeeignet angesehen hat, eine unverschuldete Versäumnis zu begründen. Die Beschwerde macht dagegen geltend, dieses Vorbringen sei so zu verstehen gewesen, dass die Prozessbevollmächtigte des Klägers den Schriftsatz am Tag der Zustellung des Zulassungsbeschlusses "auch selbst in den Briefkasten der Post eingeworfen" hat. Falls das zutrifft, hätte eine Nachfrage bei der Prozessbevollmächtigten des Klägers ergeben können, dass die Fristversäumung unverschuldet war. Unter diesen Umständen spricht einiges dafür, dass das Oberverwaltungsgericht mit seiner Auffassung, der Wiedereinsetzungsvortrag sei unheilbar unzureichend und nicht ergänzungsfähig gewesen, die Anforderungen an die Darlegung eines Wiedereinsetzungsgrundes überspannt hat. Dagegen führen die weiteren mit der Beschwerde erhobenen Einwände nicht auf einen Verfahrensfehler. Namentlich kann sich der Kläger nicht darauf berufen, dass eine Berufungsbegründung nicht erforderlich gewesen wäre (vgl. BVerwG 1 B 11.02 - Buchholz 310 § 124 a VwGO Nr. 22 und BVerwG 1 B 429.02 - AuAS 2003, 94 = BayVBl 2003, 412).
Das Oberverwaltungsgericht hat jedenfalls nicht genügend beachtet, dass der Kläger innerhalb der Berufungsbegründungsfrist durch den am beim Oberverwaltungsgericht eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom Prozesskostenhilfe und die Beiordnung seiner Prozessbevollmächtigten beantragt und hierzu eine Erklärung über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie einen Bescheid über die Gewährung von Sozialhilfe eingereicht hatte. Ohne über diesen - ordnungsgemäß begründeten und vollständigen - Antrag vorab zu entscheiden, hätte das Oberverwaltungsgericht die Berufung nicht als unzulässig verwerfen dürfen (a.A. - AuAS 1999, 197; ähnlich für gerichtskostenfreie Verfahren ohne Anwalts- und Begründungszwang VGH Mannheim Beschluss vom - 7 S 646/01 - NVwZ-RR 2001, 802; vgl. demgegenüber zum sozialgerichtlichen Verfahren BVerfG, Kammer-Beschluss vom - 1 BvR 391/01 - FamRZ 2002, 531). Da auch für die Berufungsbegründung Vertretungszwang durch einen Rechtsanwalt besteht (§ 67 Abs. 1 Satz 1 VwGO und zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde vor dem Bundesverwaltungsgericht zuletzt etwa BVerwG 1 B 37.00 - <juris>), hätte das Oberverwaltungsgericht zunächst über den formell ordnungsgemäßen Prozesskostenhilfeantrag nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der vollständigen Einreichung des Gesuchs entscheiden und die Erfolgsaussichten in der Hauptsache prüfen müssen. Nur so konnte es den nach seinen Angaben auf Prozesskostenhilfe angewiesenen Kläger in die Lage versetzen, sich durch einen ihm beigeordneten Rechtsanwalt im Berufungsverfahren - und damit auch zur Abgabe der Berufungsbegründung nach § 124 a Abs. 6 Satz 1 VwGO - vertreten zu lassen (oder - nach einer etwaigen Ablehnung des Antrags - selbst zu entscheiden, ob er die Berufung zurücknimmt oder das Verfahren unter Beantragung von Wiedereinsetzung in die abgelaufene Begründungsfrist auf eigene Kosten fortsetzt [vgl. BVerfG, Kammer-Beschluss vom - 2 BvR 306/94 - <juris>]). Wäre das Oberverwaltungsgericht so vorgegangen, dann hätte es hier Prozesskostenhilfe - im Hinblick auf den vorgelegten Sozialhilfebescheid und den erfolgreichen Antrag auf Zulassung der Berufung - bewilligen und dem Kläger mit Rücksicht hierauf nach § 60 VwGO Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungsbegründungsfrist gewähren müssen (vgl. zuletzt BVerwG 3 B 137.01 - DVBl 2002, 1050 zur Gewährung von Wiedereinsetzung in die Einlegungs- und Begründungsfrist m.w.N.; vgl. etwa auch BVerfG, Kammer-Beschlüsse vom - 1 BvR 1419/01 - NVwZ 2003, 341 = DVBl 2003, 130 und vom - 2 BvR 871/92 - NJW 1993, 720). Denn der unbemittelte Kläger, der während des Laufs der Rechtsmittelfrist (oder - wie hier - Rechtsmittelbegründungsfrist) ein formell ordnungsgemäßes Prozesskostenhilfegesuch eingereicht hat, hat alles getan, was von ihm zur Wahrung der Frist erwartet werden kann (vgl. BVerwG 1 B 3.99 - Buchholz 310 § 166 VwGO Nr. 38 unter Hinweis auf BGH, NJW-RR 1993, 451 m.w.N.). Solange das Oberverwaltungsgericht über den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Berufungsverfahren nicht entschieden hatte, durfte es danach die Berufung nicht aus formalen Gründen als unzulässig verwerfen und dem Kläger damit endgültig die Berufungsinstanz verschließen. Der Umstand, dass der Kläger seine Prozessbevollmächtigte möglicherweise schon vor der Beantragung von Prozesskostenhilfe für die zweite Instanz bzw. ohne Rücksicht auf den Erfolg des Prozesskostenhilfeantrags mit der Durchführung des Verfahrens beauftragt hatte, rechtfertigt keine abweichende Beurteilung. Die unbemittelte Partei darf nicht schlechter gestellt werden, als wenn sie sich so verhalten hätte, wie es das Verfahrensrecht zulässt. Schließlich hätte der Kläger Prozesskostenhilfe beantragen können, ohne eine Berufungsbegründung vorzulegen; in diesem Falle hätte der Prozesskostenhilfeantrag nicht mit der vom Oberverwaltungsgericht gegebenen formalen Begründung abgelehnt werden können (vgl. BVerfG, Kammer-Beschluss vom a.a.O.; vgl. auch Kammer-Beschluss vom - 1 BvR 99/90 - NJW-RR 1993, 382). Durch die Vorgehensweise des Oberverwaltungsgerichts, das eine Wiedereinsetzung ohne Rücksicht auf den Prozesskostenhilfeantrag ablehnt und gleichzeitig Prozesskostenhilfe mangels Erfolgsaussicht wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist versagt, wird der unbemittelte Kläger im Ergebnis gleich doppelt benachteiligt. Ihm wird nicht nur der Zugang zur Berufungsinstanz endgültig versperrt, sondern auch die Freistellung vom Vergütungsanspruch des Rechtsanwalts, auf die er bei richtiger Sachbehandlung Anspruch gehabt hätte, verweigert.
Die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts verletzt Verfahrensrecht und im Hinblick auf die Verweigerung des Zugangs zur Berufungsinstanz zugleich den Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO, Art. 103 Abs. 1 GG) und auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG).
Dem Kläger ist nunmehr auf der Grundlage des vollständigen und an sich begründeten Prozesskostenhilfegesuchs vom Wiedereinsetzung in die Berufungsbegründungsfrist zu gewähren und die Berufung im Hinblick auf die mit dem Wiedereinsetzungsantrag nachgeholte Berufungsbegründung (durch Einreichung der Begründungsschrift vom , die - wie regelmäßig so auch hier - in zulässiger Weise auf die erfolgreiche Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung Bezug nimmt <vgl. das BVerwG 1 C 33.00 - BVerwGE 114, 155>) als zulässig zu behandeln.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BAAAC-12022