BGH Urteil v. - VI ZR 174/03

Leitsatz

[1] Wenn der Patient im Arzthaftungsprozeß im einzelnen darlegt, warum er bei vollständiger und richtiger Aufklärung hinsichtlich seiner Einwilligung in den ärztlichen Eingriff in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter in aller Regel die Plausibilität dieses Vortrags nicht beurteilen, ohne den Patienten persönlich dazu angehört zu haben. Der Tatrichter darf seine eigene Beurteilung des Konflikts nicht an die Stelle derjenigen des Patienten setzen.

Gesetze: BGB § 823 Abs. 1 (Aa); BGB § 847 Abs. 1 a.F.

Instanzenzug: Thüringer OLG Jena vom LG Meiningen

Tatbestand

Die Klägerin nimmt die Beklagten wegen ärztlicher Behandlungsfehler und fehlerhafter Aufklärung auf Zahlung von Schmerzensgeld und Ersatz materiellen Schadens in Anspruch. Die Klägerin behauptet, seit der operativen Exzision einer Analfistel im Juni 1998 im Krankenhaus der Beklagten zu 1 durch den Beklagten zu 2 als Operateur an einer Inkontinenz II. Grades (unkontrollierter Abgang von Winden und dünnflüssigem Stuhl) zu leiden. Sie führt dies auf einen Behandlungsfehler bei der Operation zurück.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen: Zur Begründung hat es ausgeführt, dem Beklagten zu 2 sei kein ärztlicher Kunstfehler unterlaufen; aus einem vorliegenden Mangel der Aufklärung ergäben sich keine Ansprüche, weil die Klägerin der Operation auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung zugestimmt hätte. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.

Gründe

I.

Das Berufungsgericht verneint in Übereinstimmung mit dem Landgericht das Vorliegen eines Behandlungsfehlers. Das Landgericht habe sich insoweit auf das eingeholte Sachverständigengutachten stützen können. Die Voraussetzungen für Beweiserleichterungen zugunsten der Klägerin lägen nicht vor. Aus einem Aufklärungsfehler könne die Klägerin keine Ansprüche herleiten. Hier sei zwar nicht über alternative Behandlungsmethoden, wohl aber über das Risiko einer bleibenden Stuhlinkontinenz aufzuklären gewesen. Eine solche Aufklärung habe nach dem Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Zeugenvernehmung nicht stattgefunden. Die Beklagten hätten aber vorgetragen, daß die Klägerin auch bei korrekter Aufklärung in den Eingriff, wie er vorgenommen worden sei, eingewilligt hätte. Die gegenteilige Behauptung der Klägerin überzeuge nicht. Sie habe nicht vorgetragen, welche Erwägungen von ihr vorgenommen worden wären, wenn sie damit konfrontiert worden wäre, daß es bei der geplanten Operation ein Inkontinenzrisiko gebe. Angesichts dessen, daß eine Zustimmung nahegelegen habe, reiche die pauschale Behauptung einer Zustimmungsverweigerung nicht aus. Auch unter Berücksichtigung der vorliegenden Umstände, insbesondere der sensiblen Reaktion der Klägerin auf den Schaden, und der Tatsache, daß die Operation nur relativ indiziert gewesen sei, dränge sich eine Zustimmung der Klägerin auf. Von einer persönlichen Anhörung der Klägerin habe abgesehen werden können, weil die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlaubten.

II.

Das Berufungsurteil hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.

1. Es ist bereits zweifelhaft, ob es den Anforderungen entspricht, die nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an den Inhalt eines Berufungsurteils zu stellen sind. Findet gegen ein Berufungsurteil die Nichtzulassungsbeschwerde statt, muß aus dem Urteil zu ersehen sein, von welchem Sach- und Streitstand das Gericht ausgegangen ist, welches Rechtsmittelbegehren die Parteien verfolgt haben und welche tatsächlichen Feststellungen der Entscheidung zugrunde liegen (vgl. Senatsurteile BGHZ 156, 216 ff.; vom - VI ZR 94/03 - VersR 2004, 881 f. und vom - VI ZR 362/03 - EBE/BGH 2004, BGH-Ls 979/04 (Leitsatz); ferner BGHZ 154, 99 ff; 158, 37 ff.; - NJW-RR 2003, 1290, 1291; vom - VIII ZR 122/03 - NJW-RR 2004, 494; vom - XI ZR 5/03 - NJW-RR 2004, 573 f.; vom - V ZR 249/03 - NJW 2004, 1666, 1667). Gemessen an diesen Anforderungen liegt es nahe, die Mitteilung, daß "klageerweiternd eine erhöhte Schmerzensgeldrente begehrt" werde, als nicht ausreichend anzusehen, zumal sie unvollständig ist, weil die Klägerin in der Berufungsbegründung auch ihren Antrag auf Rentenzahlung erhöht hat. Dem muß indes nicht weiter nachgegangen werden.

2. Das angefochtene Urteil kann jedenfalls deshalb keinen Bestand haben, weil seine Ausführungen zum Entscheidungskonflikt der Klägerin von Verfahrensfehlern beeinflußt sind.

Feststellungen darüber, wie sich ein Patient bei ausreichender Aufklärung entschieden hätte, und ob er in einen Entscheidungskonflikt geraten wäre, darf der Tatrichter grundsätzlich nicht ohne persönliche Anhörung des Patienten treffen (vgl. - VersR 1990, 1238, 1240 = AHRS 6180/38; vom - VI ZR 151/90 - VersR 1991, 315, 316 = AHRS 1050/49; vom - VI ZR 104/92 - VersR 1993, 749, 750 = AHRS 1050/104; vom - VI ZR 260/93 - VersR 1994, 1302 f. = AHRS 1050/128; vom - VI ZR 95/94 - VersR 1995, 1055, 1057 = AHRS 1050/144). Ein Ausnahmefall kann vorliegen, wenn schon die unstreitigen äußeren Umstände eine sichere Beurteilung der hypothetischen Entscheidungssituation erlauben. Der Auffassung des Berufungsgerichts, dies sei hier der Fall, vermag der erkennende Senat nicht zu folgen.

Freilich trifft den Patienten die Verpflichtung, plausibel darzulegen, weshalb er aus seiner Sicht bei Kenntnis der aufklärungspflichtigen Umstände vor einem Entscheidungskonflikt gestanden hätte, ob er die ihm empfohlene Behandlung gleichwohl ablehnen solle (Senatsurteil vom - VI ZR 289/89 - aaO). Dieser Verpflichtung ist die Klägerin jedoch in dem Schriftsatz vom nachgekommen. Dort ist im einzelnen dargelegt, weshalb sie im Hinblick auf ihre bestehenden Beeinträchtigungen und in Anbetracht ihres bisherigen Lebenswegs ein Inkontinenzrisiko keineswegs akzeptiert hätte. Diese Ausführungen genügen den Anforderungen, die der erkennende Senat an die Substantiierung des Vortrags des Patienten stellt (BGHZ 90, 103, 111 ff. = AHRS 1050/11). Von einer "pauschalen Behauptung einer Zustimmungsverweigerung" kann insoweit nicht die Rede sein.

Bei dieser Sachlage durfte das Berufungsgericht nicht von der grundsätzlich gebotenen persönlichen Anhörung der Klägerin absehen, ohne in unzulässiger Weise seine eigene Beurteilung des Konflikts an die Stelle derjenigen der Klägerin zu setzen. Gerade angesichts der vom Berufungsgericht selbst angesprochenen besonderen Lebensgeschichte und Sensibilität der Klägerin bedarf es zum Erfassen ihrer besonderen persönlichen Situation und ihrer Einstellung eines persönlichen Eindrucks und konkreter Nachfragen.

Fundstelle(n):
OAAAC-02730

1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja