Leitsatz
[1] Haben sich die Vertragsparteien eines vor Inkrafttreten des Energiewirtschaftsgesetzes 2005 geschlossenen Stromnetznutzungsvertrages nicht über das vertragliche Durchleitungsentgelt geeinigt, steht dem Netzbetreiber das Recht zu, das Entgelt nach dem durch das Günstigkeitsprinzip und die Bedingungen guter fachlicher Praxis im Sinne des § 6 Abs. 1 EnWG 2003 konkretisierten Maßstab billigen Ermessens zu bestimmen.
Gesetze: BGB § 315; EnWG 2003 § 6
Instanzenzug: LG Stuttgart 41 O 37/03 KfH vom OLG Stuttgart 2 U 84/04 vom
Tatbestand
Die Klägerin beliefert Privat- und Gewerbekunden mit elektrischer Energie. Dazu nutzt sie seit dem im Netzgebiet der Beklagten, einer Tochtergesellschaft der E. AG, deren regionales Stromnetz. Zu einer Einigung der Parteien über das von der Klägerin zu zahlende Durchleitungsentgelt kam es nicht; einen ihr von der Beklagten unterbreiteten Rahmenvertrag unterzeichnete die Klägerin nicht. Mit der Begründung, sie könne die Angemessenheit der verlangten Entgelte derzeit noch nicht abschließend beurteilen, zahlte die Klägerin zunächst nur 70 % der von der Beklagten geforderten Beträge (6,15, später 6,02 Cent/kWh sowie einen Mess- und Verrechnungspreis von 28 € p.a. für Eintarifzähler für Kunden ohne registrierende Leistungsmessung), später unter Vorbehalt den vollen Betrag.
Die Klägerin hält beide geforderten Entgelte für überhöht und für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung.
Sie hat beantragt, das jeweilige billige Entgelt gerichtlich für die Zeit vom bis zum zu bestimmen, hilfsweise festzustellen, dass der Beklagten kein Netznutzungsentgelt zusteht, das 50 % der bis zum berechneten 6,15 Cent/kWh und 50 % der 2004 berechneten 6,02 Cent/kWh übersteigt, und kein Mess- und Verrechnungspreis für Eintarifzähler, der mehr als 15,33 € p.a. beträgt.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen; die Berufung ist ohne Erfolg geblieben (OLG Stuttgart ZNER 2005, 71).
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre zweitinstanzlichen Anträge weiter.
Gründe
Die zulässige Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I. Das Berufungsgericht hat seine Entscheidung im Wesentlichen wie folgt begründet: Ein Anspruch nach § 315 Abs. 3 BGB stehe der Klägerin nicht zu. Zwar möge der Klägerin darin beizutreten sein, dass die Unbilligkeit einer Leistungsbestimmung auch durch (Gestaltungs-)Klage geltend gemacht werden könne. Die Parteien hätten jedoch kein einseitiges Leistungsbestimmungsrecht der Beklagten vereinbart. Soweit nach höchstrichterlicher Rechtsprechung Tarife eines Energieversorgungsunternehmens generell der Billigkeitskontrolle nach § 315 Abs. 3 BGB unterworfen seien, sei diese für die Inanspruchnahme von Leistungen der Daseinsvorsorge entwickelte Rechtsprechung nicht auf den Streit zweier Handelsgesellschaften übertragbar. Auch § 6 Abs. 1 EnWG (a.F.) helfe der Klägerin nicht. Denn in erster Instanz sei unstreitig gewesen, dass die Beklagte bei der Tariferhebung dem Regelwerk der Verbändevereinbarung Strom II plus folge; soweit die Klägerin dies in der Berufungsinstanz bestreite, könne sie damit nicht gehört werden. Nach § 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG a.F. werde damit vermutet, dass die Tarife der Beklagten guter fachlicher Praxis entsprächen. Unbeschadet der gesetzlichen Befristung dieser Vermutung auf die Zeit bis zum habe die gesetzliche Wertung an ihrem Aussagegehalt in der Sache nichts verloren, weshalb auch nach dem davon auszugehen sei, dass der Verbändevereinbarung Strom II plus entsprechende Entgelte im Ansatz nicht beanstandungswürdig seien. Entspreche aber das Tarifwerk der Beklagten guter fachlicher Praxis, könne es auch keine Preisüberhöhung verkörpern, die Ausdruck einer missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung sei.
II. Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung in entscheidenden Punkten nicht stand.
1. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts findet auf die Bestimmung des Netznutzungsentgelts durch die Beklagte die Vorschrift des § 315 BGB Anwendung.
Zwar ist seine tatrichterliche Feststellung nicht zu beanstanden, dass sich die Parteien nicht auf ein Leistungsbestimmungsrecht der Beklagten geeinigt hätten. Das Berufungsgericht hat dies daraus hergeleitet, dass die Klägerin den ihr unterbreiteten Lieferantenrahmenvertrag mit der Begründung nicht unterzeichnet hat, sie könne die Angemessenheit der verlangten Entgelte derzeit nicht abschließend beurteilen. Dabei handelt es sich um ein mögliches und daher revisionsrechtlich hinzunehmendes Verständnis der Erklärungen und des Verhaltens der Parteien bei Aufnahme der Netznutzung durch die Klägerin; auch die Revision wendet sich hiergegen nicht.
Das Berufungsgericht geht jedoch gleichwohl stillschweigend davon aus, dass zwischen den Parteien ein Netznutzungsvertrag zustande gekommen ist, aufgrund dessen die Beklagte ein Entgelt für die Netznutzung sowie für Mess- und Verrechnungsleistungen beanspruchen kann. Auch das lässt keinen Rechtsfehler erkennen und entspricht der übereinstimmenden Auffassung der Parteien.
Zwar ist im Zweifel ein Vertrag über eine entgeltliche Leistung nicht geschlossen, solange sich die Parteien nicht über das Entgelt oder die Art und Weise seiner Bestimmung geeinigt haben (§ 154 Abs. 1 BGB). Bei Netznutzungsverträgen entspricht es jedoch regelmäßiger Übung der Vertragsparteien, die Netznutzung durch ein einseitig bestimmtes Entgelt abzugelten, das der Netzbetreiber nach Art eines Tarifs zu bestimmten Zeitpunkten festlegt und das - schon zur Vermeidung einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung - für eine bestimmte Zeitdauer sämtlichen Vertragsbeziehungen mit gleichen Nutzungsprofilen unabhängig davon zugrunde liegen soll, wann der Vertrag geschlossen wird. Die Netzbetreiber haben dabei - wie auch die Beklagte - jedenfalls in dem hier in Rede stehenden Zeitraum für sich in Anspruch genommen, bei der Ermittlung des Entgelts nach den Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarung Strom II plus zu verfahren und verfahren zu dürfen, was voraussetzt, dass das Entgelt von ihnen als denjenigen festgesetzt wird, denen die nach der Verbändevereinbarung maßgeblichen betriebswirtschaftlichen Grundlagen der Preisfindung zugänglich sind. Ein solches Preisbestimmungsrecht wird andererseits auch den Interessen des Netznutzers gerecht, da die einseitige Preisbestimmung an den Maßstab der Billigkeit gebunden ist. Auch im Streitfall hat die Klägerin ein Preisbestimmungsrecht der Beklagten nicht grundsätzlich abgelehnt, sondern lediglich die Angemessenheit der konkret verlangten Entgelte in Zweifel gezogen. Bei dieser Sachlage ist die Lücke, die der Vertrag hinsichtlich der Regelung des Netznutzungsentgelts aufweist, durch die Anwendung des § 315 BGB zu schließen. Ein Preisbestimmungsrecht der Beklagten nach dieser Vorschrift entspricht dem beiderseitigen Parteiinteresse und mutmaßlichen Willen und kann daher als das hierzu am besten geeignete gesetzliche Regelungsmodell zur Ausfüllung der Lücke dienen, die der Vertrag hinsichtlich der Regelung des Netznutzungsentgelts aufweist (vgl. BGHZ 41, 271, 276 - Werkmilchabzug; , NJW 1983, 1777).
Der Anwendung der Vorschrift steht auch nicht entgegen, dass die Beklagte wie jeder Netzbetreiber der Klägerin ihr Netz zu Bedingungen zur Verfügung zu stellen hatte, die nicht ungünstiger sind, als sie von ihr in vergleichbaren Fällen für Leistungen innerhalb ihres Unternehmens oder gegenüber verbundenen oder assoziierten Unternehmen tatsächlich oder kalkulatorisch in Rechnung gestellt werden (§ 6 Abs. 1 EnWG i.d.F. vom ) und seit dem zudem von Gesetzes wegen guter fachlicher Praxis zu entsprechen hatten (§ 6 Abs. 1 EnWG i.d.F. vom ). Hierdurch wird der allgemeine Maßstab des billigen Ermessens, den § 315 Abs. 1 BGB vorsieht, nicht ausgeschlossen, sondern vielmehr konkretisiert (, WRP 2006, 253, Tz. 12 f. - Stromnetznutzungsentgelt I, für BGHZ vorgesehen).
2. Das Berufungsgericht hätte daher prüfen müssen, ob die Entgeltbestimmung der Beklagten in diesem Sinne billigem Ermessen entspricht, da sie nach § 315 Abs. 3 BGB nur dann für die Klägerin verbindlich ist. Die Annahme des Berufungsgerichts, dieser Prüfung auch deshalb enthoben zu sein, weil in erster Instanz unstreitig gewesen sei und in zweiter Instanz von der Klägerin nicht mehr bestritten werden könne, dass die Beklagte das Netznutzungsentgelt nach den Preisfindungsprinzipien der Anlage 3 zur Verbändevereinbarung Strom II plus ermittle, und damit vermutet werde, dass das Netznutzungsentgelt guter fachlicher Praxis entspreche, ist in mehrfacher Hinsicht von Rechtsfehlern beeinflusst.
a) Zu Unrecht hat sich das Berufungsgericht an die tatbestandliche Feststellung des Landgerichts gebunden gesehen, die Beklagte habe ihre Preise nach der Verbändevereinbarung Strom II plus gebildet. Eine solche bindende Feststellung enthält das erstinstanzliche Urteil schon deshalb nicht, weil es insoweit widersprüchlich ist.
Zwar heißt es im Tatbestand des landgerichtlichen Urteils, nach dem Vorbringen der Klägerin berechne die Beklagte das Netznutzungsentgelt und das Entgelt für die Mess- und Verrechnungsdienstleistungen unzulässig und unzutreffend auf der Grundlage der Verbändevereinbarung. Bereits die Qualifikation dieser Berechnung als "unzutreffend" lässt jedoch das Verständnis zu, die Verbändevereinbarung sei nicht richtig angewandt worden. Zudem enthalten die Entscheidungsgründe die materiell einen Teil des Tatbestands darstellende Bemerkung, von der Klägerin sei von Anfang an in Unkenntnis der Kalkulationsgrundlagen der Beklagten in Zweifel gezogen worden, ob die Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarung von der Beklagten richtig angewandt worden seien.
b) Auch aus den vom Berufungsgericht ausgewerteten erstinstanzlichen Schriftsätzen der Klägerin ergibt sich nicht, dass sie die Beachtung der Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarung Strom II plus durch die Beklagte eingeräumt hätte. Wie im Berufungsurteil ausgeführt, hat die Klägerin dies vielmehr in Abrede gestellt, mag dies auch, wie das Berufungsgericht meint, "vereinzelt" geblieben sein.
c) Im Übrigen konnte die (richtige) Anwendung der Preisfindungsprinzipien der Verbändevereinbarung Strom II plus auch deshalb in erster Instanz nicht "unstreitig" sein, weil es sich hierbei nicht um eine Tatsache, sondern um eine - betriebswirtschaftliche Sachkunde erfordernde - rechtliche Wertung handelt (BGH WRP 2006, 253, Tz. 18 - Stromnetznutzungsentgelt I). Dass die Beklagte indessen Vortrag etwa zu den Einzelheiten der kalkulatorischen Kosten- und Erlösrechnung gehalten hätte, den die Klägerin hätte unstreitig stellen können (und der sodann die Wertung hätte erlauben können, dass die Beklagte das Netznutzungsentgelt in Übereinstimmung mit den Preisfindungsprinzipien der Anlage 3 zur Verbändevereinbarung Strom II plus ermittelt), ist dem erstinstanzlichen Urteil - und auch dem Berufungsurteil - nicht zu entnehmen und wird auch von der Revisionserwiderung nicht aufgezeigt.
d) Das Berufungsgericht war der Überprüfung des Entgelts am - durch § 6 Abs. 1 EnWG konkretisierten - Maßstab des § 315 Abs. 3 BGB auch nicht deshalb enthoben, weil die Klägerin zur Unbilligkeit nicht hinreichend vorgetragen hätte. Denn nicht die andere Vertragspartei hat die Unbilligkeit der Leistungsbestimmung darzulegen; vielmehr hat derjenige, dem das Leistungsbestimmungsrecht eingeräumt ist und der typischerweise auch allein dazu in der Lage ist, die Billigkeit seiner Bestimmung darzutun (, NJW 2003, 3131, 3132). Zahlt die andere Vertragspartei - wie hier die Klägerin - nur unter Vorbehalt, gilt dies auch im Rückforderungsprozess (, NJW 2005, 2919, 2922; BGH WRP 2006, 253, Tz. 19 - Stromnetznutzungsentgelt I).
III. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben. Da der Rechtsstreit nicht zur Endentscheidung durch den Senat reif ist, ist die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Für das weitere Verfahren weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung bestehen keine Bedenken gegen die hinreichende Bestimmtheit des Klageantrags (§ 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Entspricht die Leistungsbestimmung durch die Beklagte, wie von der Klägerin geltend gemacht, nicht der Billigkeit, wird die Bestimmung durch Urteil getroffen (§ 315 Abs. 3 Satz 2 BGB). Erst mit der Rechtskraft dieses Gestaltungsurteils wird die Forderung fällig (, NJW 1996, 1054, 1056; BGH NJW 2005, 2919, 2920). Da die Darlegungslast für die Angemessenheit des Entgelts bei der Beklagten liegt, kann von der Klägerin nicht erwartet werden, dass sie ein bestimmtes Ergebnis der Leistungsbestimmung in ihrem Antrag vorwegnimmt.
2. In der Sache muss zunächst die Beklagte Gelegenheit erhalten, zur Angemessenheit ihrer Tarife vorzutragen. Denn die Vorinstanzen hatten nach ihrem Rechtsstandpunkt keine Veranlassung, die Beklagte auf ihre Darlegungslast hinzuweisen.
3. Sollte das Berufungsgericht feststellen, dass die Beklagte der Ermittlung der von ihr verlangten Preise die Preisfindungsprinzipien der Anlage 3 zur Verbändevereinbarung Strom II plus zugrunde gelegt hat, wird es zu beachten haben, dass die Preisfindungsprinzipien, die die Erfordernisse guter fachlicher Praxis im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 EnWG a.F. konkretisieren sollen, ihrerseits im Lichte der Zielsetzung des § 6 Abs. 1 Satz 4 EnWG a.F. auszulegen und anzuwenden sind, und sich bei der Anwendung erforderlichenfalls sachverständiger Hilfe bedienen müssen. Da nach § 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG a.F. die Vermutungswirkung zugunsten guter fachlicher Praxis entfällt, wenn die Anwendung der Verbändevereinbarung insgesamt oder die Anwendung einzelner Regelungen der Vereinbarung nicht geeignet ist, wirksamen Wettbewerb zu gewährleisten, kann ferner keine Rede davon sein, dass der Gesetzgeber, wie das Berufungsgericht meint, der Verbändevereinbarung ein "Richtigkeitstestat" ausgestellt hätte. Vielmehr wird sich das Berufungsgericht mit den von der Klägerin vorgetragenen Einwendungen gegen die Eignung bestimmter Bestandteile der Preisfindungsprinzipien zur Gewährleistung wirksamen Wettbewerbs auseinandersetzen müssen. Schließlich wird das Berufungsgericht zu beachten haben, dass nach § 6 Abs. 1 Satz 5 EnWG a.F. nur bis zum bei Einhaltung der Verbändevereinbarung die Erfüllung der Bedingungen guter fachlicher Praxis vermutet wurde (BGH WRP 2006, 253, Tz. 25 ff. - Stromnetznutzungsentgelt I).
4. Soweit in die Prüfung am Maßstab des § 6 Abs. 1 EnWG a.F. nicht bereits alle kartellrechtlich relevanten Gesichtspunkte einfließen sollten, wird schließlich der Einwand der Klägerin zu erörtern sein, die Beklagte habe die marktbeherrschende Stellung missbraucht, die sie als Netzbetreiber innehat. Denn nach § 6 Abs. 1 Satz 6 EnWG a.F. bleiben § 19 Abs. 4 und § 20 Abs. 1 und 2 GWB unberührt; die kartellrechtliche Prüfung ist daher von der energiewirtschaftsrechtlichen grundsätzlich unabhängig (BGHZ 156, 379, 387 - Strom und Telefon I; , WuW/E DE-R 1513, 1514 - Stadtwerke Mainz). Erst recht bleibt - entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts - Art. 82 EG unberührt, dessen Anwendungsbereich nicht zur Disposition des nationalen Gesetzgebers steht.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
NJW-RR 2006 S. 915 Nr. 13
WM 2006 S. 1639 Nr. 34
IAAAC-01400
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja