Leitsatz
[1] a) Beantragt ein Sozialversicherungsträger die Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen eines Arbeitgebers wegen rückständiger Sozialversicherungsbeiträge, hat er zur Darlegung seiner Forderungen regelmäßig eine Aufschlüsselung nach Monat und Arbeitnehmer vorzulegen. Zur Glaubhaftmachung sind Leistungsbescheide oder Beitragsnachweise des Arbeitgebers genügend.
b) Der antragstellende Gläubiger darf die geltend gemachte Forderung im Insolvenzeröffnungsverfahren auswechseln.
c) Dem Gläubiger fehlt nicht allein deswegen das Rechtsschutzbedürfnis für einen Eröffnungsantrag, weil er zuvor nicht fruchtlos die Einzelzwangsvollstreckung versucht hat.
Gesetze: InsO § 14 Abs. 1
Instanzenzug: LG Siegen vom
Gründe
I.
Das Insolvenzgericht hat einen Antrag der Gläubigerin auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin mit der Begründung (als unzulässig) zurückgewiesen, daß die zugrundeliegende Forderung nach Antragstellung erfüllt worden sei. Die dagegen gerichtete sofortige Beschwerde der Gläubigerin hat das Landgericht zurückgewiesen. Zur Begründung hat es sich der Auffassung des Amtsgerichts angeschlossen und ergänzend angemerkt, daß der Antrag nicht dadurch wieder zulässig werde, daß sich neue Forderungen ergeben hätten. Denn diese seien nicht glaubhaft gemacht worden.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Rechtsbeschwerde der Gläubigerin.
II.
1. Mit ihrer gemäß § 574 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 7 InsO statthaften und nach den §§ 575, 576 ZPO frist- und formgerecht eingelegten und begründeten Rechtsbeschwerde rügt die Gläubigerin unter anderem, das Landgericht habe verkannt, daß es nach der obergerichtlichen Rechtsprechung in der Regel ausreiche, wenn der antragstellende Sozialversicherungsträger einen Kontoauszug vorlege, aus dem sich die Zahlungsansprüche im einzelnen ergeben.
2. Die Rechtsbeschwerde ist nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO zulässig, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Das Rechtsmittel führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.
Beschlüsse, die der Rechtsbeschwerde unterliegen, müssen den maßgeblichen Sachverhalt, über den entschieden wird, wiedergeben (Senatsbeschl. v. - IX ZB 56/01, NJW 2002, 2648; v. - IX ZB 51/02, WM 2002, 1894, 1895; vgl. auch Senatsurt. v. - IX ZR 439/99, WM 2000, 2437 f). Denn das Rechtsbeschwerdegericht hat grundsätzlich von demjenigen Sachverhalt auszugehen, den das Beschwerdegericht festgestellt hat (§ 577 Abs. 2 Satz 4, § 559 ZPO). Fehlen tatsächliche Feststellungen, so ist es zu einer rechtlichen Überprüfung nicht in der Lage. Ausführungen des Beschwerdegerichts, die eine solche Überprüfung nicht ermöglichen, sind keine Gründe im zivilprozessualen Sinne; sie ziehen die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nach sich (§ 576 Abs. 3, § 547 Nr. 6 ZPO). Der Verfahrensmangel ist von Amts wegen zu berücksichtigen (Senatsbeschl. v. aaO; BayObLG NZI 2000, 434; OLG Celle NZI 2001, 596; vgl. auch BGHZ 154, 99, 101; im Ergebnis ebenso , WM 2004, 50 f, z.V.b. in BGHZ; MünchKomm-ZPO/Wenzel, 2. Aufl. Aktualisierungsband § 557 Rn. 27, jeweils zur Revision).
Im vorliegenden Fall lassen die Ausführungen des Beschwerdegerichts nicht einmal erkennen, um welche neuen Forderungen es sich handelt. Zwar liegt es nicht fern, daß das Landgericht mit den "anderen", "weiteren" Forderungen angeblich neu eingetretene Rückstände bei der Abführung von Sozialversicherungsbeiträgen meint. Insoweit fehlt aber jede Feststellung dazu, ob und in welcher Weise die Gläubigerin diese neu eingetretenen Rückstände näher spezifiziert hat. Hiervon hängt ab, ob das Landgericht gegen § 14 Abs. 1 InsO verstoßen hat.
Bei den von der Gläubigerin eingeforderten Sozialversicherungsbeiträgen handelt es sich um Forderungen öffentlich-rechtlicher Hoheitsträger. Diese sind bei Ausübung ihrer Tätigkeit an Gesetz und Recht gebunden (Art. 20 Abs. 3 GG). An die Glaubhaftmachung ihrer Forderungen sind daher keine nach dem Zweck des Gesetzes (vgl. MünchKomm-InsO/Schmahl, § 14 Rn. 2) nicht veranlaßten formalen Anforderungen zu stellen. Allerdings verlangt eine schlüssige Darlegung auch ihrer Forderungen regelmäßig eine Aufschlüsselung nach Monat und Arbeitnehmer. Zur Glaubhaftmachung müssen Sozialversicherungsträger Leistungsbescheide oder Beitragsnachweise der Arbeitgeber vorlegen. Stellt ein Sozialversicherungsträger bei Ausübung der Einzugstätigkeit seine Forderungen an den Arbeitgeber nach Monaten und Arbeitnehmer geordnet in einem Konto zusammen und legt er die genannten Belege vor, ergibt dies im Hinblick auf die Richtigkeit der dort ermittelten Gesamtbeträge einen deutlich höheren Grad an Wahrscheinlichkeit als eine schlichte, im Eröffnungsverfahren aufgestellte schriftsätzliche Behauptung bestimmter offener Forderungen. Demgegenüber reicht die bloße Vorlage eines Kontoauszugs nicht aus, um die ausgewiesenen Forderungen im Sinne von § 14 Abs. 1 InsO glaubhaft zu machen (AG Duisburg NZI 1999, 507; AG Hamburg NZI 2001, 163; AG Potsdam NZI 2001, 495; 2003, 155, 156; vgl. auch LG Hamburg ZInsO 1999, 651 f; a.A. OLG Zweibrücken ZIP 2000, 2260, 2262 f). Im Gegenteil kann es erforderlich sein, daß der antragstellende Sozialversicherungsträger zur Glaubhaftmachung weitere Beweismittel vorlegt, wenn erhebliche Anhaltspunkte gegen die Richtigkeit seiner Forderungszusammenstellung sprechen (Kübler/Prütting/Pape, InsO § 14 Rn. 6, 6a, 7). Das kommt - neben anderen Unrichtigkeiten (vgl. z.B. Nerlich/Römermann/Mönning, InsO § 14 Rn. 35) - etwa in Betracht, wenn die Zahl oder das Gehalt der versicherten Arbeitnehmer reduziert worden ist oder der Arbeitgeber Ansprüche auf Ausgleich seiner Aufwendungen nach dem Lohnfortzahlungsgesetz hat. Wird in einem solchen Fall die Existenz der noch nicht bestandskräftig festgestellten Forderung insgesamt in Frage gestellt, ist eine weitergehende Glaubhaftmachung durch den antragstellenden Sozialversicherungsträger erforderlich (vgl. OLG Köln ZIP 1988, 664 f; HK-InsO/Kirchhof, 3. Aufl. § 14 Rn. 10, 11, 37; Uhlenbruck, InsO 12. Aufl. § 14 Rn. 92). Die Glaubhaftmachung eines Teilbetrags kann aber genügen (OLG Naumburg NZI 2000, 263, 264; AG Göttingen ZInsO 2002, 592, 593). Wie es sich in dem hier gegebenen Fall verhält, vermag der Senat mangels entsprechender Feststellungen des Beschwerdegerichts nicht zu überprüfen.
Auch die Beschlüsse des Insolvenzgerichts vom und vom , auf die das Landgericht verwiesen hat, enthalten keine Feststellungen zu den ersichtlich erst im Erstbeschwerdeverfahren nachgeschobenen "neuen Forderungen" der Gläubigerin, so daß auf sich beruhen kann, inwieweit das Beschwerdegericht auf erstinstanzliche Feststellungen oder bestimmte Aktenbestandteile Bezug nehmen darf (vgl. § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).
III.
Für das weitere Verfahren weist der Senat auf folgendes hin:
1. Mit Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, daß mit der vollständigen Tilgung der Forderung nach Antragstellung und vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens das Antragsrecht des Gläubigers erlischt, weil eine gesetzliche Voraussetzung für die Zulässigkeit des Antrags im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr erfüllt ist (LG Aachen ZIP 2003, 1264; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 14 Rn. 8, 11, 41; Uhlenbruck, aaO § 14 Rn. 81; Nerlich/Römermann/Mönning, aaO § 14 Rn. 65; Smid, InsO 2. Aufl. § 14 Rn. 22). Aus dem Urteil des Senats in BGHZ 149, 178, 182 ergibt sich nichts Abweichendes.
Allerdings stellt die Gläubigerin die Erfüllung ihrer dem Antrag ursprünglich zugrundeliegenden Forderung in Frage: Ihre Forderung bestehe solange, als nicht nachgewiesen sei, daß die Zahlung durch die Schuldnerin zu ihrer endgültigen Befriedigung geführt habe. Hierzu sei aber erforderlich, daß die Schuldnerin ihre Zahlungsfähigkeit nachweise. Dies trifft nicht zu; die Schuldnerin hat durch die Zahlung der ursprünglich rückständig gewordenen Sozialversicherungsbeiträge die gegen sie gerichtete Forderung erfüllt. Die Argumentation der Gläubigerin übersieht, daß nach § 14 Abs. 1 InsO die Glaubhaftmachung der Forderung und des Eröffnungsgrundes zwei voneinander unabhängige Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eröffnungsantrags sind. Ist die Forderung nicht (mehr) glaubhaft gemacht - etwa weil wie hier die Gläubigerin deren Ausgleich einräumt -, wird der Antrag unzulässig. Dem steht nach dem Gesetz nicht entgegen, daß die Gläubigerin weiterhin den Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit glaubhaft gemacht haben mag. Ob sie Gefahr läuft, daß die Zahlung der Schuldnerin an sie im Falle einer späteren Insolvenzeröffnung von einem Insolvenzverwalter angefochten wird, kann dahinstehen. Solches ist bislang nicht geschehen. Das Anfechtungsrecht des Insolvenzverwalters entsteht frühestens mit und deshalb nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (BGHZ 15, 333, 337; 113, 98, 105; 130, 38, 40; HK-InsO/Kreft, 3. Aufl. § 129 Rn. 79). Die Erfüllungswirkung der Zahlung der Schuldnerin an die Gläubigerin steht daher nicht in Frage (vgl. Fischer, Festschrift für Kirchhof 2003 S. 73, 80). Im übrigen bestünde die Gefahr einer Anfechtung erst recht, wenn das Insolvenzverfahren auf den Antrag der Gläubigerin eröffnet würde. Denn die aufgrund eines Insolvenzantrags erzielte Deckung ist stets inkongruent (, ZIP 2004, 319, 320 ff, z.V.b. in BGHZ).
2. Der Gläubiger darf im Eröffnungsverfahren die geltend gemachte Forderung auswechseln (AG Köln NZI 2000, 94, 95; FK-InsO/Schmerbach, InsO 3. Aufl. § 14 Rn. 20; Breutigam/Blersch/Goetsch, Insolvenzrecht § 14 InsO Rn. 24); das gilt auch dann, wenn der Schuldner vorher diejenige Forderung, auf die der Antrag gestützt war, getilgt hatte (LG Göttingen ZIP 1993, 446, 447; HK-InsO/Kirchhof, aaO Rn. 8; Kübler/Prütting/Pape, aaO § 14 Rn. 5; Smid, aaO § 14 Rn. 22, 25; für die Konkursordnung auch Kilger/K. Schmidt, Insolvenzgesetze 17. Aufl. § 105 KO Anm. 1 a). Denn maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist im schriftlichen Beschlußverfahren der Zeitpunkt der letzten tatrichterlichen Entscheidung über die Eröffnung. Auch wäre es eine nicht durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Förmelei, den Gläubiger zu veranlassen, den ursprünglich gestellten Antrag für erledigt zu erklären und gleichzeitig einen neuen Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen des Schuldners zu stellen. Der Schuldner ist ausreichend dadurch geschützt, daß für die nachgeschobene Forderung sämtliche Voraussetzungen des § 14 InsO neu zu prüfen sind (so auch Uhlenbruck, aaO § 14 Rn. 49). Mißbrauchsfällen kann dadurch begegnet werden, daß erhöhte Anforderungen an die Darlegung des rechtlichen Interesses im Sinne des § 14 Abs. 1 InsO gestellt werden; in der Sache besteht nämlich kein Unterschied zu dem Fall der Wiederholung eines zuvor für erledigt erklärten Eröffnungsantrags (vgl. hierzu OLG Celle OLG-Report 1998, 178, 180; LG Koblenz Rpfleger 1975, 318; LG Bonn ZIP 1985, 1342 f; AG Burgsteinfurt MDR 1968, 1020; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 14 Rn. 24). Das Nachschieben von Forderungen zusätzlich davon abhängig zu machen, daß dies einem sorgfältigen und auf Förderung des Verfahrens bedachten Handeln entspricht (so Uhlenbruck, aaO; MünchKomm-InsO/Schmahl, § 14 Rn. 52), ist danach nicht gerechtfertigt.
3. Soweit das Landgericht gemeint hat, die Unzulässigkeit des Eröffnungsantrags ergebe sich auch daraus, daß die Gläubigerin einen fruchtlosen Vollstreckungsversuch nicht glaubhaft gemacht habe, ist noch auf folgendes hinzuweisen: Ist der antragstellende Gläubiger in der Lage, den Eröffnungsgrund der Zahlungsunfähigkeit (auf andere Weise) glaubhaft zu machen, kann das Rechtsschutzbedürfnis für den Eröffnungsantrag nicht deshalb verneint werden, weil er vor Antragstellung nicht fruchtlos die Einzelzwangsvollstreckung versucht hat (LG Göttingen aaO; AG Göttingen aaO S. 594; Unger KTS 1962, 205, 214; HK-InsO/Kirchhof, aaO § 14 Rn. 27; Nerlich/Römermann/Mönning, aaO § 14 Rn. 18; Kübler/Prütting/Pape, aaO § 14 Rn. 11; Uhlenbruck, aaO § 14 Rn. 8; FK-InsO/Schmerbach, aaO § 14 Rn. 32; a.M. OLG Köln ZIP 1989, 789, 791 mit insoweit abl. Anm. Gerhardt EWiR 1989, 701, 702). Mit dem Gesetz (§§ 13, 14 InsO) ist die Annahme einer allgemeinen Subsidiarität des Insolvenzverfahrens gegenüber anderen Vollstreckungsmöglichkeiten nicht vereinbar. Die Einzelzwangsvollstreckung gewährt nicht dieselben Sicherungsmöglichkeiten wie ein Insolvenzverfahren. Ist die Krise des Schuldners so weit fortgeschritten, daß der Eröffnungsgrund glaubhaft gemacht werden kann, so sind dem Gläubiger solche Verzögerungen und etwa hierdurch verursachte Verfahrenskosten nicht zuzumuten (Gerhardt aaO; MünchKomm-InsO/Schmahl, § 14 Rn. 49; vgl. OLG Celle OLG-Report 2000, 126, 128). Ob etwas anderes gilt, wenn der antragstellende Gläubiger der einzige Gläubiger des Schuldners ist (so Nerlich/Römermann/Mönning, aaO), kann hier dahinstehen.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BB 2004 S. 2024 Nr. 37
DB 2004 S. 2693 Nr. 50
DStZ 2006 S. 423 Nr. 12
LAAAB-99871
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja