Leitsatz
[1] Unterlässt es das Gericht entgegen § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO, Art. 103 Abs. 1 GG, die um Wiedereinsetzung nachsuchende Partei auf den für seine Entscheidung ausschließlich maßgebenden, von den Parteien ersichtlich für unerheblich erachteten Gesichtspunkt hinzuweisen, ist der in der Beschwerde nachgeholte Vortrag zu berücksichtigen.
Gesetze: ZPO § 233 B; ZPO § 139 Abs. 2 Satz 1; GG Art. 103 Abs. 1
Instanzenzug: LG Schweinfurt 24 O 653/02 vom OLG Bamberg 3 U 280/05 vom
Gründe
I. Das Landgericht hat die Beklagte durch Teilurteil vom verurteilt, den Klägern Auskunft über ihre Beteiligung an der Beklagten durch Vorlage einer Auseinandersetzungsbilanz zum zu erteilen. Gegen die ihr am zugestellte Entscheidung hat die Beklagte am Berufung eingelegt und zugleich Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der am 5. Oktober abgelaufenen Berufungsfrist beantragt.
Zur Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs hat die Beklagte vorgetragen:
In der Kanzlei ihrer mit der Durchführung des Berufungsverfahrens beauftragten Prozessbevollmächtigten bestehe für die Bearbeitung fristgebundener Schriftsätze die Anweisung, Fristen nebst zweiwöchiger Vorfrist in den Fristenkalender einzutragen, sie danach auf der ersten Seite des betreffenden Schriftstücks zu notieren und ihre Eintragung im Fristenbuch durch Anbringung eines mit dem Namenszeichen versehenen Vermerks zu bestätigen. Nach Eingang der Unterlagen in der Kanzlei ihrer zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten am habe die für die Fristennotierung zuständige, zuverlässig arbeitende Rechtsanwaltsfachgehilfin Frau F., die über eine mehrjährige Berufserfahrung verfüge, die Fristen für Berufung und Berufungsbegründung berechnet, auf dem Urteil beide Fristen mit Vorfristen vermerkt und - entgegen der in der Kanzlei für die Bearbeitung fristgebundener Schriftsätze bestehenden Anweisung - als notiert gekennzeichnet, obwohl sie aus unerklärlichen Gründen die Berufungseinlegungsfrist mit Vorfrist im Fristenkalender nicht eingetragen habe. Ihr Prozessbevollmächtigter, dem der Vorgang anschließend vorgelegt worden sei, habe nicht damit rechnen müssen, dass ihm die Handakte trotz der bestätigten Fristennotierung zur Vorfrist und zum Ablauf der Berufungsfrist nicht vorgelegt würde.
II. 1. Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Oberlandesgericht den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat es im Wesentlichen ausgeführt:
Die Beklagte habe nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass sie ohne Verschulden an der Einhaltung der Berufungsfrist verhindert gewesen sei. Ihr Vorbringen lasse nicht erkennen, dass ihre Prozessbevollmächtigten wegen der unterlassenen Notierung der Berufungsfrist im Fristenkalender nicht in der Lage gewesen seien, die Berufung rechtzeitig einzulegen. Ihrem Wiedereinsetzungsgesuch sei nicht zu entnehmen, wann die Akten ihren Prozessbevollmächtigten vorgelegt worden seien. Es könne jedoch angenommen werden, dass die am an ihre Prozessbevollmächtigten versandten Akten dem sachbearbeitenden Anwalt am 4. oder vorgelegen hätten.
Gegen diese Entscheidung des Berufungsgerichts wendet sich die Beklagte mit ihrer Rechtsbeschwerde.
2. Die Rechtsbeschwerde ist statthaft, §§ 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4, 238 Abs. 2 ZPO. Sie ist auch im Übrigen zulässig, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO).
Der angefochtene Beschluss verletzt in entscheidungserheblicher Weise den verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch der Beklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Unter Verstoß gegen § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO hat das Berufungsgericht seine Entscheidung - ohne die Beklagte vorher darauf hinzuweisen und ihr Gelegenheit zur Äußerung zu geben - ausschließlich auf einen Gesichtspunkt gestützt, dem die Beklagte - wie aus der Begründung ihres Wiedereinsetzungsantrags ersichtlich - keine Bedeutung beigemessen hatte und den auch die Kläger nicht aufgegriffen hatten. Zwar hat die Partei im Wiedereinsetzungsantrag das fehlende Verschulden darzulegen und glaubhaft zu machen, § 236 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Aus Sicht der Beklagten bestand jedoch kein Anlass, in ihrem Wiedereinsetzungsgesuch den - erst nach Ablauf der Berufungsfrist liegenden - Zeitpunkt vorzutragen, zu dem ihren zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten die Gerichtsakten erstmals zur Einsichtnahme vorlagen. Wenn das Berufungsgericht auf diesen - von den Parteien nicht beachteten - Gesichtspunkt maßgebend abstellen wollte, hätte es den genauen Zeitpunkt aufklären müssen und seine Entscheidung nicht auf Mutmaßungen stützen dürfen (, NJW 2000, 1872).
3. Der Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren; denn die Fristversäumung beruht nicht auf einem - ihr nach § 85 Abs. 2 ZPO zuzurechnenden - Verschulden ihrer Prozessbevollmächtigten.
Der Anwalt, dem nach Eingang der Berufungsunterlagen die Handakten vorgelegt wurden mit der Bestätigung, dass die dort notierten Fristen in den Fristenkalender eingetragen sind, darf sich darauf verlassen, dass ihm die Handakten spätestens am Tag des Ablaufs der Berufungsfrist wieder vorgelegt werden (vgl. , NJW 1997, 3243 zur Begründungsfrist; v. - VIII ZB 2/95, NJW 1995, 1682). Er hat nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes den Fristenlauf nicht bei jeder Vorlage der Handakten, sondern nur, aber auch immer dann eigenverantwortlich zu überprüfen, wenn ihm die Handakten im Zusammenhang mit einer fristgebundenen Prozesshandlung vorgelegt werden, wenn sie ihm selbst bis zum Fristablauf oder einem ihm nahen Zeitpunkt vorliegen (, ZIP 2003, 1050, 1051 m.w.Nachw.). Nach der vom Bundesverfassungsgericht bestätigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ist ein Anwalt allerdings bei Übernahme eines neuen Mandats verpflichtet, die Gerichtsakten unverzüglich in eigener Verantwortung auf die laufenden Fristen zu überprüfen (, NJW 2000, 1633 f.; , NJW 1997, 1708, 1709; Beschl. v. - XII ZB 28/00, FamRZ 2001, 1143).
Das Berufungsgericht ist jedoch zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Gerichtsakten den zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten der Beklagten noch vor Ablauf der Berufungsfrist erstmals zur Einsichtnahme vorgelegen haben und der sachbearbeitende Rechtsanwalt deshalb entsprechend diesen Grundsätzen zur Prüfung der Fristen verpflichtet und in der Lage war. Dies war nach dem in der Rechtsbeschwerde ergänzten und glaubhaften Vortrag der Beklagten nicht der Fall. Denn aus dem Eingangsstempel auf der - mit der Beschwerdebegründung in Kopie vorgelegten - Mitteilung des Landgerichts Schweinfurt an die Prozessbevollmächtigten der Beklagten ist ersichtlich, dass die vom Landgericht Schweinfurt übersandten Gerichtsakten erst am beim Amtsgericht Chemnitz eingetroffen sind; von dort mussten sie noch an das Landgericht Chemnitz - zum Fach der Prozessbevollmächtigten der Beklagten - weitergeleitet werden.
Der nachgeholte Vortrag ist zu berücksichtigen. Erkennbar unklare oder ergänzungsbedürftige Angaben, deren Aufklärung nach § 139 ZPO geboten gewesen wäre, können noch nach Ablauf der Antragsfrist mit der Beschwerde ergänzt werden ( aaO; v. - VII ZB 6/99, NJW 1999, 2284; v. aaO). Dies ist zur Wahrung des rechtlichen Gehörs umso mehr geboten, wenn es das Berufungsgericht - wie hier - entgegen § 139 Abs. 2 Satz 1 ZPO unterlassen hat, die um Wiedereinsetzung nachsuchende Partei auf den für seine Entscheidung ausschließlich maßgebenden, von dieser jedoch erkennbar übersehenen Gesichtspunkt hinzuweisen und ihr Gelegenheit zur Äußerung zu geben.
Fundstelle(n):
DStR 2006 S. 1614 Nr. 36
NJW-RR 2006 S. 1501 Nr. 21
CAAAB-97625
1Nachschlagewerk: ja; BGHZ: nein; BGHR: ja