BGH Urteil v. - 3 StR 77/06

Leitsatz

[1] Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: StPO § 244 Abs. 3; StPO § 244 Abs. 4; StPO § 349 Abs. 2; StGB § 224 Abs. 1 Nr. 5

Instanzenzug: LG Lübeck vom

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten Vitali O. wegen Mordes zu einer Jugendstrafe von acht Jahren und neun Monaten und den Angeklagten Alex O. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Jugendstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben die Staatsanwaltschaft, die Nebenkläger und beide Angeklagte Revision eingelegt. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihren zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen mit Verfahrensrügen und der Sachrüge insbesondere, dass beim Angeklagten Alex O. kein Mord und beim Angeklagten Vitali O. kein von Anfang an bestehender Tötungsvorsatz angenommen worden ist. Die Nebenkläger erstreben mit der Sachrüge die Verurteilung des Angeklagten Alex O. wegen Mordes; hinsichtlich des Angeklagten Vitali O. haben sie die Revision zurückgenommen.

Soweit es den Angeklagten Alex O. betrifft, führen die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger zur Aufhebung des Urteils. Hinsichtlich des Angeklagten Vitali O. hat die Revision der Staatsanwaltschaft keinen Erfolg. Die Revisionen der Angeklagten hat der Senat mit Beschluss vom heutigen Tage gemäß § 349 Abs. 2 StPO verworfen.

I. Sachverhalt:

Dem Urteil liegen folgende Feststellungen zugrunde:

Der Angeklagte Alex O. besuchte die Realschule. Dort kam es auf Grund verschiedener Verstöße zu disziplinarischen Beanstandungen durch die als gerecht, aber streng geltende Klassenlehrerin Isolde F. , das spätere Tatopfer. Der Angeklagte Alex O. fühlte sich deswegen, aber auch wegen schulischer Bewertungen ungerecht behandelt und sah seinen Berufswunsch, sich als Gerätemechaniker bei der Bundeswehr verpflichten zu können, als gefährdet an. Er besprach die aus seiner Sicht "schikanöse" Behandlung mit seinem älteren Bruder, dem Angeklagten Vitali O. . Beide entschlossen sich, die Klassenlehrerin zu Hause aufzusuchen und durch "Bedrohung mit Gewaltanwendung" dazu zu bewegen, Alex O. besser zu behandeln und zu bewerten. Vitali O. hatte sich mit einem Messer mit 20 cm Klingenlänge bewaffnet und sich vorgenommen, ihr ein paar Schläge zu versetzen und sie mit dem Messer zu bedrohen; er hatte jedoch seinen jüngeren Bruder von dem Messer nichts berichtet. Dieser hatte lediglich Kenntnis davon, dass Vitali O. stets einen Schlagring mit sich führt. Als Alex O. die Klassenlehrerin durch die Bitte, er benötige ihre Hilfe, zum Öffnen der Türe veranlasst hatte, stürzte sich Vitali O. auf sie und versetzte ihr mehrere heftige Faustschläge mit aufgezogenem Schlagring ins Gesicht. Alex O. hatte dieses Geschehen mitverfolgt, die Korridortüre verschlossen, damit andere Mitbewohner des Hauses nichts sehen und hören konnten, und die Schläge gebilligt. Nachdem Isolde F. zu Boden gegangen war, entschloss sich Vitali O. , sie aus Rache für die schlechte Behandlung seines jüngeren Bruders zu töten. Er zog sein Messer und setzte insgesamt zehn Stiche und Schnitte gegen ihren Oberkörper und Hals, wobei einer der Schnitte in den Hals zu einer Durchtrennung der großen Halsgefäße mit schwallartiger Blutung führte. Diese Stiche und Schnitte hatten den Tod durch Verbluten zur Folge.

Die Jugendkammer vermochte sich weder zu überzeugen, dass die Tötung auf einem zuvor gefassten gemeinsamen Tatplan beruhte, noch dass der - unmittelbar daneben stehende - Angeklagte Alex O. sich aktiv am Tötungsgeschehen beteiligt hatte. Auch eine strafrechtliche Verantwortlichkeit des Alex O. für den Tod seiner Lehrerin durch Unterlassen hat das Landgericht verneint. Es könne weder festgestellt werden, dass die Zeit vom Erkennen des Messerangriffs bis zur Zufügung der ersten Verletzung ausreichend war, um diese zu verhindern, noch dass ein Eingreifen nach dem ersten Messerangriff den Tod noch hätte verhindern können. Denn die Reihenfolge der Stiche und Schnitte habe nicht geklärt werden können, weshalb möglicherweise bereits der erste Messerangriff zu der Stich-/Schnittverletzung am Hals führte, die das Tatopfer aber nicht hätte überleben können.

II. Angeklagter Alex O. :

Die Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger haben hinsichtlich dieses Angeklagten Erfolg.

1. Die Verfahrensrügen der Staatsanwaltschaft sind allerdings unbegründet.

a) Die Jugendkammer brauchte den Anträgen der Staatsanwaltschaft, mit denen die Ergebnisse eines Fallanalysegutachtens in der Hauptverhandlung eingeführt werden sollten, nicht nachzugehen. Denn es handelte sich nicht um Beweisanträge im Sinne des § 244 Abs. 3 und 4 StPO.

Die im Ermittlungsverfahren von einer Arbeitsgruppe Operative Fallanalyse des Landeskriminalamtes Schleswig-Holstein auf Grund einer Tatrekonstruktion erstellte Fallanalyse hatte nach der Vorbemerkung des mit der Revision vorgelegten Gutachtens vom auf der Grundlage der bis dahin gewonnenen Datenbasis Hypothesen über das Täterverhalten mit dem Ziel zu erarbeiten, für die weiteren Ermittlungen unterstützende Hinweise zu geben. Die Staatsanwaltschaft wollte diese für das Ermittlungsverfahren gewonnenen Arbeitshypothesen in der Hauptverhandlung für Beweiszwecke nutzen und beantragte zum Beweis der Tatsache, dass "zwei Personen am Tatort agiert haben und dass eine Isolde F. am Boden festgehalten hat, während die andere ihr Stichverletzungen beibrachte", die Vernehmung der Mitglieder dieser Arbeitsgruppe als sachverständige Zeugen, die Inaugenscheinnahme des Tatortes und die erneute Durchführung einer Rekonstruktion durch diese Zeugen sowie schließlich die Verlesung des Gutachtens vom .

Diese Anträge stellen keine Beweisanträge im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO dar. Wie ihrer Begründung zu entnehmen ist, haben die Mitglieder der Arbeitsgruppe, die sich aus vier Kriminalbeamten, einem Psychologen und einem Rechtsmediziner zusammengesetzt hat, nicht selbst Wahrnehmungen zum Tatgeschehen getroffen, auch nicht selbst Tatspuren oder sonstige Beweise gesichert, sondern für Zwecke des Ermittlungsverfahrens eine Bewertung der - anderweitig gewonnenen - Beweistatsachen im Zusammenhang mit einer Tatrekonstruktion vorgenommen, um zu einer Hypothese eines möglichen Tathergangs zu gelangen. Dementsprechend wird in der "Fallanalyse" im Anschluss an eine Darstellung der angewandten Methode sowie der sich aus den Ermittlungen ergebenden Anknüpfungstatsachen (wie Persönlichkeitsmerkmale und Lebensumstände des Tatopfers, Verletzungen und Todesursache, Tatort- und Spurensituation) das Ergebnis einer Rekonstruktion des Tathergangs in der Weise zusammengefasst, dass - auch sprachlich deutlich - Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen angestellt und vermutliche Abläufe geschildert werden ("Das Opfer dürfte vielmehr sofort ...", "Die Situation dürfte sich jetzt so darstellen, dass das weiterhin handlungsfähige Opfer zusammengekauert im Eckbereich hockt ...", "Das Ziel der Täter dürfte jetzt zunächst darin bestehen, das Opfer in eine Position zu bringen, in der ...", "Täter B dürfte vermutlich mit seiner linken Hand", "Das Opfer liegt vermutlich bereits jetzt ausgestreckt ... in der Auffindeposition" usw.).

Derartige Bewertungen vorzunehmen, die sich darauf beschränken, aus festgestellten Beweistatsachen Schlüsse auf Tatabläufe zu ziehen, obliegt jedoch im Hauptverfahren dem Tatgericht. Sie können grundsätzlich nicht Gegenstand eines Beweisantrags sein (BGHSt 39, 251, 253). Dem Zeugenbeweis, dessen Erhebung die Staatsanwaltschaft hier unter anderem beantragt hat, sind sie ohnehin nicht zugänglich. Nur zum Zwecke der Feststellung einzelner für die Beweiswürdigung erheblicher Tatsachen (etwa von Verletzungen des Tatopfers oder von Tatspuren) hätte die Staatsanwaltschaft, soweit das Landgericht die gebotene Aufklärung unterlassen hätte, die Erhebung von Beweisen (etwa durch die Vernehmung von Zeugen) mit Beweisanträgen im Sinne des § 244 Abs. 3 StPO verlangen können. Einen solchen - konkrete Tatsachen, nicht Bewertungen betreffenden - Beweisantrag hat die Staatsanwaltschaft indes nicht gestellt.

Auch soweit die Staatsanwaltschaft die unterbliebene Einführung der Operativen Fallanalyse in die Hauptverhandlung mit der Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO) beanstandet, kann das Rechtsmittel keinen Erfolg haben. Aus den dargestellten Gründen war unter Aufklärungsgesichtspunkten weder eine Verlesung des Gutachtens noch die Vernehmung der Mitglieder der Arbeitsgruppe geboten. Dass das Landgericht seiner Aufklärungspflicht nicht genügt hätte, indem es (etwa aus Überschätzung der eigenen Sachkunde) sich aufdrängende Beweise - beispielsweise zu den rechtsmedizinischen Befunden hinsichtlich der dem Tatopfer beigebrachten Schnitt- und Stichverletzungen oder zu Tatortspuren - nicht erhoben und dadurch Feststellungen zu Tatsachen nicht getroffen hätte, die weitergehende Rückschlüsse auf die Art der Tatbeteiligung des Angeklagten Alex O. erlaubt hätten, zeigt die Revision nicht auf. Einen rechtsmedizinischen Sachverständigen hat die Strafkammer - wie es geboten war - vernommen.

b) Entgegen der Auffassung des Generalbundesanwalts hat die Jugendkammer auch den Antrag auf Einnahme eines Ortsaugenscheins mit rechtsfehlerfreier Begründung abgelehnt, weil es sich Aufschluss über die örtlichen Verhältnisse durch Skizzen, Lichtbilder und Schilderungen von Zeugen verschafft hat.

2. Dagegen hat die Sachrüge Erfolg. Der Schuldspruch gegen den Angeklagten Alex O. hat bereits auf der Grundlage der von der Jugendkammer getroffenen Feststellungen keinen Bestand:

a) Das Landgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der Angeklagte Alex O. aus vorangegangenem Tun eine Garantenstellung hatte und grundsätzlich verpflichtet war, den Messerangriff seines Bruders zu verhindern. Es hat jedoch den festgestellten Sachverhalt im Hinblick auf ein durch Unterlassen begangenes Tötungsdelikt nicht ausreichend rechtlich gewürdigt.

Dabei kann offen bleiben, ob sich Alex O. unter den festgestellten Umständen eines durch Unterlassen verwirklichten vollendeten Tötungsdelikts im Hinblick darauf schuldig gemacht haben kann, dass der Tod des Tatopfers (in seiner konkreten Gestalt) nicht als Folge des Stichs in den Hals eingetreten ist, der allerdings auch für sich letztendlich den Tod herbeigeführt hätte, sondern als Folge der Stichverletzungen in Hals und Brust; in Anbetracht dessen könnte es den Angeklagten möglicherweise nicht entlasten, dass er den Stich in den Hals (nicht ausschließbar) nicht verhindern konnte. Jedenfalls aber hätte das Landgericht prüfen müssen, ob sich Alex O. eines versuchten Tötungsdeliktes durch Unterlassen schuldig gemacht hat. Ein aktiv handelnder Täter, der etwa auf ein bereits totes, aber noch für lebend gehaltenes Opfer in Tötungsabsicht einsticht, begeht den untauglichen Versuch eines Totschlags. Entsprechendes gilt für einen Garanten, der seiner Pflicht, einen weiteren Angriff seines Mittäters auf das Leben des Opfers zu verhindern, nicht nachkommt. Er kann sich - je nach seinen Vorstellungen - wegen versuchten Totschlags durch Unterlassen strafbar gemacht haben (vgl. zum Versuch eines unechten Unterlassungsdeliktes BGHSt 38, 356, 358). Dass der Angeklagte Alex O. schon nach dem ersten Stich auf das Tatopfer glaubte, dieses sei tödlich getroffen und könne nicht mehr gerettet werden, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen.

b) Dieser Rechtsfehler bedingt die umfassende Aufhebung des Urteils hinsichtlich des Angeklagten Alex O. . Auf die gegen die Beweiswürdigung gerichteten sachlich-rechtlichen Beanstandungen kommt es daher nicht mehr an. Der neue Tatrichter wird ohnehin das Gesamtgeschehen umfassend neu feststellen müssen und dabei insbesondere zu prüfen haben, ob nicht eine Gesamtschau aller belastenden Indizien dafür spricht, dass dem Vorgehen beider Brüder ein gemeinsamer Tatplan zugrunde gelegen oder Alex O. auch an dem zum Tode führenden Geschehen aktiv mitgewirkt hat.

III. Angeklagter Vitali O. :

Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hinsichtlich dieses Angeklagten ist unbegründet. Der Erörterung bedarf lediglich folgendes:

1. Soweit mit der Sachrüge beanstandet wird, die Jugendkammer habe zu Unrecht eine Vorplanung der Tötung und einen bereits beim Beginn des Zuschlagens gefassten Tötungsvorsatz verneint, zeigt die Revision einen Rechtsfehler nicht auf.

2. Das Vorliegen zweier selbständiger Taten und eines Verdeckungsmordes musste nicht geprüft werden. Bei einem eng zusammenhängenden, zäsurlosen Geschehen, das auf einer einheitlichen Motivation beruht (Rache für die vermeintlich schlechte Behandlung des Bruders), kann allein der Übergang vom Körperverletzungs- zum Tötungsvorsatz die Annahme zweier selbständiger Taten nicht rechtfertigen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 1999, 101 m. w. N.). Im Übrigen beruht die Annahme, der Tötungsvorsatz sei spätestens mit dem Beginn des Messereinsatzes gefasst worden, auf der Anwendung des Zweifelssatzes, da sich die Jugendkammer von einem früheren Zeitpunkt nicht mit der erforderlichen Sicherheit überzeugen konnte. Diese Annahme zu Gunsten des Angeklagten vermag die Annahme von ihm nachteiligen Rechtsfolgen nicht zu rechtfertigen.

3. Die Beanstandung, das Landgericht habe übersehen, dass der Mord mittels einer das Leben gefährdenden Behandlung im Sinne des § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB begangen worden sei, ist schlicht abwegig.

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
TAAAB-95538

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