Leitsatz
[1] Der Arbeitnehmer hat einen Anspruch auf Vergütung für die Zeit der Rufbereitschaft gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT auch für die Zeiten der tatsächlichen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung während der angeordneten Rufbereitschaft.
Gesetze: BAT § 15 Abs. 6b Unterabs. 3; BAT § 15 Abs. 6b Unterabs. 1; BAT § 15 Abs. 6b Unterabs. 2; BAT § 35 Abs. 1 Satz 2; BAT § 35 Abs. 3; BGB aF § 284; BGB aF § 288; EGBGB Art. 229 § 5; EGBGB Art. 229 § 7 Abs. 1 Nr. 1
Instanzenzug: ArbG Essen 1 Ca 885/02 vom
Tatbestand
Die Parteien streiten über die Vergütung für die während einer Rufbereitschaft erfolgte Heranziehung zur Arbeit.
Die Klägerin ist seit dem bei der Beklagten als Krankenschwester beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis der Parteien findet der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) Anwendung. Die Klägerin ist in die Vergütungsgruppe Kr. VI Stufe 6 der Anlage 1b nach dem BAT eingruppiert. Im BAT heißt es:
"§ 15 Regelmäßige Arbeitszeit. ...
(6 b) Der Angestellte ist verpflichtet, sich auf Anordnung des Arbeitgebers außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten, um auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (Rufbereitschaft). Der Arbeitgeber darf Rufbereitschaft nur anordnen, wenn erfahrungsgemäß lediglich in Ausnahmefällen Arbeit anfällt.
Zum Zwecke der Vergütungsberechnung wird die Zeit der Rufbereitschaft mit 12,5 v.H. als Arbeitszeit gewertet und mit der Überstundenvergütung (§ 35 Abs. 3 Unterabs. 2) vergütet.
Für angefallene Arbeit einschließlich einer etwaigen Wegezeit wird daneben die Überstundenvergütung gezahlt. Für eine Heranziehung zur Arbeit außerhalb des Aufenthaltsortes werden mindestens drei Stunden angesetzt. Wird der Angestellte während der Rufbereitschaft mehrmals zur Arbeit herangezogen, wird die Stundengarantie nur einmal, und zwar für die kürzeste Inanspruchnahme, angesetzt.
...
§ 35 Zeitzuschläge, Überstundenvergütung. (1) Der Angestellte erhält neben seiner Vergütung (§ 26) Zeitzuschläge. Sie betragen je Stunde
a) für Überstunden in den Vergütungsgruppen
X bis V c, Kr. I bis Kr. VI 25 v.H.,
...
(3) Die Stundenvergütung wird für jede Vergütungsgruppe im Vergütungstarifvertrag festgelegt.
Die Stundenvergütung zuzüglich des Zeitzuschlages nach Absatz 1 Satz 2 Buchst. a ist die Überstundenvergütung.
..."
Die regelmäßige Arbeitszeit der Klägerin ist auf die Wochentage Montag bis Freitag von jeweils 7.00 Uhr bis 15.30 Uhr verteilt. Darüber hinaus wird die Klägerin zur Rufbereitschaft herangezogen. Diese ist montags bis freitags für die Zeit von 15.30 Uhr bis 7.00 Uhr des Folgetages sowie samstags und sonntags für die Zeit von 7.00 Uhr bis 7.00 Uhr des Folgetages angeordnet. Während einer Rufbereitschaft am wurde die Klägerin für 9,5 Stunden und während einer Rufbereitschaft am 2., am 3., am 4., am 15. und am für insgesamt 32 Stunden zur Arbeit herangezogen. Die Beklagte zahlte für die während der Rufbereitschaft geleisteten tatsächlichen Arbeitsstunden die Überstundenvergütung gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 3 Satz 1 iVm. § 35 Abs. 3 Unterabs. 2 BAT, jedoch nicht die Rufbereitschaftsvergütung gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT.
Die Klägerin ist der Ansicht, nach den tariflichen Vergütungsvorschriften sei für die Zeit der tatsächlichen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung während einer Rufbereitschaft neben der Überstundenvergütung zusätzlich die Rufbereitschaftsvergütung zu zahlen.
Die Klägerin hat beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an sie 85,68 Euro brutto nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz der Europäischen Zentralbank seit zu zahlen,
2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, 12,5 % der Zeiten der tatsächlichen Inanspruchnahme während der angeordneten Rufbereitschaft zusätzlich mit der Überstundenvergütung von 125 % (§ 15 Abs. 6b, § 35 Abs. 3 Unterabs. 2 BAT) zu vergüten.
Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt.
Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Mit der vom Arbeitsgericht nachträglich durch Beschluss zugelassenen Sprungrevision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter. Die Klägerin beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Gründe
Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Zahlungs- und der Feststellungsklage zu Recht stattgegeben. Der Klägerin steht der geltend gemachte Vergütungsanspruch in Höhe von 85,68 Euro zu. Die Rufbereitschaftsvergütung nach § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 iVm. § 35 Abs. 3 BAT ist auch für die Zeiten einer tatsächlichen Inanspruchnahme des Angestellten während der Rufbereitschaft zu zahlen.
1. Die Pflicht der Beklagten zur Zahlung der Rufbereitschaftsvergütung auch für die Dauer einer tatsächlichen Arbeitsleistung während einer Rufbereitschaft folgt bereits aus dem Wortlaut der Tarifbestimmungen, von der bei der Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages zunächst auszugehen ist (vgl. - BAGE 73, 364 = AP TVG § 1 Auslegung Nr. 144 = EzA TVG § 1 Auslegung Nr. 28; - 6 AZR 108/01 - AP BAT-O § 23a Nr. 2 = EzA EG-Vertrag 1999 Art. 141 Nr. 10, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, jeweils mwN). Gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT ist die Zeit der Rufbereitschaft zum Zwecke der Vergütungsberechnung stets mit 12,5 vH als Arbeitszeit zu werten und mit der Überstundenvergütung (§ 35 Abs. 3 Unterabs. 2 BAT) zu vergüten. Für während der Rufbereitschaft angefallene Arbeit einschließlich einer etwaigen Wegezeit ist nach § 15 Abs. 6b Unterabs. 3 Satz 1 BAT "daneben" die Überstundenvergütung zu zahlen. "Daneben" bedeutet nach allgemeinem Sprachgebrauch "außerdem, darüber hinaus, gleichzeitig" (Duden Deutsches Universalwörterbuch 5. Aufl. S. 350). Die Tarifvertragsparteien haben durch die Aufnahme dieses Zusatzes in § 15 Abs. 6b Unterabs. 3 Satz 1 BAT ausdrücklich das Verhältnis der - für angefallene Arbeit während der Rufbereitschaft zu zahlenden - Überstundenvergütung zu der im vorhergehenden Unterabs. 2 geregelten Vergütung für die gesamte Zeit der Rufbereitschaft klargestellt. Danach bleibt die Bewertung und Vergütung der gesamten Zeit der Rufbereitschaft nach Unterabs. 2 von der zusätzlichen Vergütungspflicht für angefallene Arbeit während der Rufbereitschaft nach Unterabs. 3 Satz 1 unberührt. Folgerichtig ist die Überstundenvergütung nach Unterabs. 3 zusätzlich zu der Rufbereitschaftsvergütung nach Unterabs. 2 - und nicht statt deren - zu zahlen.
2. Der Gesamtzusammenhang der Tarifbestimmungen sowie der Zweck der jeweiligen Vergütungspflicht bestätigen dieses Ergebnis.
a) Die für einen bestimmten Zeitraum angeordnete Rufbereitschaft nach § 15 Abs. 6b Unterabs. 1 Satz 1 BAT wird nicht dadurch suspendiert oder unterbrochen, indem der Angestellte während der Rufbereitschaft seine Arbeitsleistung auf einen entsprechenden Abruf des Arbeitgebers hin tatsächlich erbringt. Die Rufbereitschaft beginnt in dem Zeitpunkt, von dem an der Angestellte verpflichtet ist, auf Abruf die Arbeit aufzunehmen (vgl. - AP BAT § 15 Nr. 33). Sie endet zu dem vom Arbeitgeber in der Anordnung im Voraus bestimmten Zeitpunkt. Erst eine solche Anordnung verpflichtet den Angestellten dazu, sich außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitszeit an einer dem Arbeitgeber anzuzeigenden Stelle aufzuhalten und auf gesonderten Abruf hin eine Arbeit aufzunehmen (§ 15 Abs. 6b Unterabs. 1 Satz 1 BAT). Sie allein ist Rechtsgrund für die Erbringung einer Arbeitsleistung außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit.
Entgegen der Auffassung der Beklagten befindet sich der Angestellte während einer tatsächlichen Inanspruchnahme der Arbeitsleistung noch innerhalb der Rufbereitschaft. Mit der vergütungspflichtigen "Zeit der Rufbereitschaft" bezeichnet § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT den Zeitraum, für den die Rufbereitschaft angeordnet ist. Die tatsächliche Aufnahme der Arbeit auf einen entsprechenden Abruf des Arbeitgebers hin während der angeordneten Rufbereitschaft unterbricht nicht die festgelegte Zeit der Rufbereitschaft, die als rechtliche Grundlage der Arbeitsleistung fortbesteht. In diesem Zusammenhang kann sich die Beklagte nicht auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom (- 6 AZR 455/91 - BAGE 72, 26 = AP BAT § 17 Nr. 20 = EzA BGB § 611 Arbeitsbereitschaft Nr. 2) zur Abgrenzung von Rufbereitschaft und Überstunden iSd. § 17 BAT berufen. Danach ist eine Weisung des Arbeitgebers, die Arbeit im unmittelbaren Anschluss an die Beendigung der Arbeitszeit fortzusetzen, kein Abruf zur Aufnahme der Arbeit, sondern die Anordnung von Überstunden. Denn ein Abruf zur Arbeit setzt nach der tariflichen Regelung voraus, dass er außerhalb der regelmäßigen Arbeitszeit in der Zeit der Rufbereitschaft erfolgt und der Arbeitnehmer seinen Aufenthaltsort zuvor selbst wählen konnte. Die Klägerin wurde jedoch außerhalb ihrer regelmäßigen Arbeitszeit von ihrem zuvor selbst gewählten Aufenthaltsort - und damit auf Grund eines Arbeitsabrufs iSd. § 15 Abs. 6b Unterabs. 1 Satz 1 BAT - zur Erbringung der Arbeitsstunden herangezogen. Das betrifft keine Anordnung von Überstunden iSd. § 17 BAT, sondern von Rufbereitschaft.
b) Ein gegenteiliges Auslegungsergebnis folgt auch nicht aus dem Zweck der Vergütung für die Zeit der Rufbereitschaft. Diese ist nach § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT ein finanzieller Ausgleich für die sich aus der Rufbereitschaft für den Angestellten ergebenden Einschränkungen und Beeinträchtigungen in der Nutzung seiner arbeitsfreien Zeit, die nicht dadurch beseitigt werden, dass er während der Rufbereitschaft zur Arbeitsleistung herangezogen wird. Demgegenüber soll mit der Vergütung für die während der Rufbereitschaft angefallene Arbeit einschließlich einer etwaigen Wegezeit nach § 15 Abs. 6b Unterabs. 3 Satz 1 BAT die Inanspruchnahme des Angestellten - außerhalb seiner regelmäßigen Arbeitszeit - abgegolten werden. Dafür haben die Tarifvertragsparteien eine zusätzliche Vergütungspflicht bestimmt. Diese verringert nicht die Gesamtstundenzahl der angeordneten und allein aus diesem Grund vergütungspflichtigen Rufbereitschaft (Böhm/Spiertz/Sponer/Steinherr BAT Stand März 2003 § 15 Rn. 80 f.).
3. Dieses Ergebnis führt entgegen der Ansicht der Beklagten zu keiner unzulässigen Mehrfachbezahlung von Überstundenzuschlägen.
Die Tarifvertragsparteien haben in § 15 Abs. 6b BAT die Vergütung der gesamten Zeit der Rufbereitschaft (Unterabs. 2) und die Vergütung der angefallenen Arbeit in der Rufbereitschaft (Unterabs. 3) jeweils gesondert und unabhängig voneinander geregelt. Lediglich hinsichtlich des anzusetzenden Geldfaktors haben sie einheitlich auf die Überstundenvergütung iSd. § 35 Abs. 3 Unterabs. 2 BAT verwiesen, die sich demnach aus der Stundenvergütung (Abs. 3 Unterabs. 1) und dem Überstundenzuschlag (Abs. 1 Satz 2 Buchst. a) zusammensetzt. Insoweit handelt es sich um eine bloße Rechtsfolgenverweisung zur Bestimmung der Höhe des Stundensatzes bei der Vergütungsberechnung. Die hierfür anzusetzende Überstundenvergütung ist lediglich eine erhöhte Stundenabgeltung, jedoch keine Vergütung für Überstunden iSd. § 17 BAT (Uttlinger/Breier/Kiefer/Hoffmann/Dassau BAT Stand September 2003 § 15 Rn. 30).
4. Die Klageforderung ist auch der Höhe nach begründet.
Die maßgebliche Stundenvergütung ist gemäß § 35 Abs. 3 Unterabs. 1 BAT für jede Vergütungsgruppe im Vergütungstarifvertrag festgesetzt. Nach dem Vergütungstarifvertrag Nr. 34 zum BAT für den Bereich des Bundes und für den Bereich der Tarifgemeinschaft deutscher Länder vom beträgt die Stundenvergütung in der Vergütungsgruppe der Klägerin (Kr. VI BAT) bis August 2001 25,37 DM brutto (§ 6a) und ab (bis ) 25,98 DM brutto (§ 6b). Der Zeitzuschlag nach § 35 Abs. 1 Satz 2 Buchst. a BAT beläuft sich je Stunde auf 25 vH. Daraus folgt eine Überstundenvergütung iHv. 31,71 DM brutto (25,37 DM x 125 %) je Stunde bis und iHv. 32,48 DM brutto (25,98 DM x 125 %) je Stunde ab . Die Klägerin hat im August und im November 2001 insgesamt 41,5 Stunden während der angeordneten Rufbereitschaft gearbeitet, ohne für diese Arbeitszeit die Rufbereitschaftsvergütung gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT zu erhalten. Für August 2001 errechnet sich daraus eine Vergütung gemäß § 15 Abs. 6b Unterabs. 2 BAT iHv. 37,66 DM brutto (9,5 Stunden x 12,5 vH x 31,71 DM) und für November 2001 eine solche von 129,92 DM brutto (32 Stunden x 12,5 vH x 32,48 DM).
5. Der Zinsanspruch beruht auf §§ 284, 288 BGB aF (Art. 229 § 5 EGBGB). Gemäß Art. 229 § 7 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB ist mit Wirkung vom an die Stelle des Basiszinssatzes nach dem Diskontsatz-Überleitungs-Gesetz vom der Basiszinssatz des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 247 BGB nF) getreten.
Fundstelle(n):
BB 2004 S. 1172 Nr. 21
DB 2004 S. 654 Nr. 12
EAAAB-94519
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