BAG Urteil v. - 2 AZR 237/03

Leitsatz

[1] Bei der Berechnung des Schwellenwerts nach § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG ist der gekündigte Arbeitnehmer auch dann mit zu berücksichtigen, wenn Kündigungsgrund die unternehmerische Entscheidung ist, den betreffenden Arbeitsplatz nicht mehr neu zu besetzen.

Gesetze: KSchG § 23

Instanzenzug: ArbG Siegburg 5 Ca 2325/01 vom LAG Köln 11 Sa 342/02 vom

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer betriebsbedingten ordentlichen Kündigung des Beklagten vom 30. Juli zum , dabei vor allem um die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes.

Der 1951 geborene Kläger (verheiratet, zwei Kinder) ist seit 1996 bei dem beklagten Dachdeckermeister als Dachdecker (Vorarbeiter) beschäftigt. Sein Bruttomonatsverdienst betrug zuletzt ca. 6.800,00 DM. Unstreitig sind im Betrieb des Beklagten neben dem Kläger ein weiterer Vorarbeiter, zwei Dachdeckergesellen und die Ehefrau des Beklagten beschäftigt. Außerdem war im Kündigungszeitpunkt ein Praktikant, der bei der zuständigen Kreishandwerkerschaft einen Förderlehrgang gem. §§ 97 ff. SGB III absolvierte, im Rahmen dieses Praktikums im Betrieb des Beklagten tätig. Nach Behauptung des Klägers beschäftigte der Beklagte darüber hinaus eine Reinigungskraft. Als Kündigungsgrund hat der Beklagte angegeben, er habe sich entschlossen, in Zukunft nur noch mit einem Vorarbeiter und zwei Gesellen zu arbeiten.

Der Kläger hat geltend gemacht, das Kündigungsschutzgesetz sei auf das Arbeitsverhältnis anwendbar. Die Kündigung sei jedenfalls wegen fehlerhafter Sozialauswahl nach § 1 KSchG unwirksam. Er sei nie als Vorarbeiter eingesetzt gewesen. Deshalb seien die beiden Gesellen, die erheblich jünger und erheblich kürzer als er im Betrieb beschäftigt seien, in die Sozialauswahl einzubeziehen gewesen. Selbst wenn das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung finde, habe die getroffene Auswahl zwischen ihm und den beiden Gesellen nicht einmal dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz des Arbeitsplatzes entsprochen.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die arbeitgeberseitige Kündigung vom aufgelöst worden ist, sondern über den fortbesteht, und

den Beklagten zu verurteilen, ihn über den hinaus bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten arbeitsvertraglichen Bedingungen als Vorarbeiter im Dachdeckerhandwerk weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat zur Stützung seines Klageabweisungsantrages vorgetragen, im Zeitpunkt der Kündigung seien in seinem Betrieb einschließlich des Klägers lediglich fünf Arbeitnehmer beschäftigt gewesen. Die vom Kläger benannte Frau B. sei nicht, wie vom Kläger behauptet, vor und nach dessen Kündigung über Jahre hinweg mindestens fünf Stunden in der Woche als Reinigungskraft für den Betrieb tätig gewesen. Sie habe vielmehr lediglich im Mai 2000 ca. 1 - 1 1/2 Monate bei der Ehefrau des Beklagten als Putzfrau gearbeitet. Die Kündigung sei im Übrigen unter jedem denkbaren Gesichtspunkt wirksam. Der Arbeitsplatz des Klägers sei nicht wieder besetzt worden. Mit den beiden Gesellen sei der Kläger als Vorarbeiter nicht vergleichbar. Seine Kündigung beruhe zudem darauf, dass er häufig arbeitsunfähig erkrankt und deshalb für den Betrieb wirtschaftlich nicht mehr tragbar gewesen sei.

Das Arbeitsgericht hat nach Durchführung einer Beweisaufnahme die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit der vom Senat zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine Klageanträge weiter.

Gründe

Die Revision ist begründet. Mangels hinreichender Tatsachenfeststellungen kann der Senat noch nicht abschließend beurteilen, ob die Kündigung des Beklagten das Arbeitsverhältnis der Parteien aufgelöst hat. Dies führt zur Zurückverweisung.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger genieße keinen Kündigungsschutz. Der Praktikant sei bei der Berechnung des Schwellenwerts nicht mit zu berücksichtigen. Darauf, ob der Beklagte noch eine Reinigungskraft beschäftige, komme es nicht an. Bei einer betriebsbedingten Kündigung wegen endgültiger Streichung eines Arbeitsplatzes sei der auf diesem Arbeitsplatz beschäftigte Arbeitnehmer nicht mehr als ein "in der Regel Beschäftigter" anzusehen und deshalb nach § 23 KSchG nicht mit zu berücksichtigen.

II. Dem folgt der Senat nicht. Die Revision rügt zutreffend eine Verletzung des § 23 Abs. 1 KSchG.

1. Mit der vom Landesarbeitsgericht gegebenen Begründung lässt sich die Anwendbarkeit des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes auf das Arbeitsverhältnis der Parteien nicht verneinen. Nach § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG (hier und im Folgenden: in der Fassung zur Zeit des Kündigungsausspruchs) gelten die Vorschriften des Ersten Abschnitts des KSchG nicht für Betriebe und Verwaltungen, in denen in der Regel fünf oder weniger Arbeitnehmer ausschließlich der zu ihrer Berufsbildung Beschäftigten beschäftigt werden. Im Gegensatz zu der Rechtsauffassung des Landesarbeitsgerichts ist bei der Berechnung dieses Schwellenwerts der gekündigte Arbeitnehmer als ein "in der Regel" beschäftigter Arbeitnehmer mit zu berücksichtigen.

a) Zutreffend geht das Landesarbeitsgericht davon aus, dass es bei der Feststellung der Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 Satz 2 KSchG zur Ermittlung der für den Betrieb im Allgemeinen kennzeichnenden regelmäßigen Beschäftigtenzahl - bezogen auf den Kündigungszeitpunkt - grundsätzlich eines Rückblicks auf die bisherige personelle Situation und einer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung bedarf ( - AP KSchG 1969 § 23 Nr. 11 = EzA KSchG § 23 Nr. 11). Die zufällige tatsächliche Beschäftigtenzahl zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs soll nach der gesetzlichen Regelung unbeachtlich sein, es soll vielmehr auf die Beschäftigungslage ankommen, die im Allgemeinen für den Betrieb kennzeichnend ist.

b) Dies bedeutet jedoch nicht, wovon das Landesarbeitsgericht auszugehen scheint, dass der bloße Entschluss des Arbeitgebers, seinen Betrieb künftig auf Dauer mit nicht mehr als fünf Arbeitnehmern fortzuführen, dazu führen kann, dass die Kündigungen, mit denen er dieses Ziel erreichen will, nicht mehr dem Ersten Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes unterliegen. Wenn das Landesarbeitsgericht im Anschluss an eine Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Rheinland-Pfalz ( - 3 Sa 870/95 - AP KSchG 1969 § 23 Nr. 14; ebenso KR-Weigand 6. Aufl. § 23 KSchG Rn. 38) annimmt, auf einen höheren Beschäftigtenstand in der Vergangenheit komme es nicht an, wenn der Betrieb auf Dauer mit einer verringerten Belegschaft fortgeführt werden solle, so ist dem in dieser Allgemeinheit nicht zu folgen (einschränkend auch Stahlhacke/Preis/Vossen Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 8. Aufl. Rn. 896; Kittner/Däubler/Zwanziger Kündigungsschutzrecht 5. Aufl. § 23 KSchG Rn. 14; - LAGE KSchG § 23 Nr. 18). Wird etwa wegen Betriebsstilllegung gekündigt, so kommt nur ein Rückblick auf die bisherige Belegschaftsstärke in Frage. Entscheidend ist dann, wann der Arbeitgeber noch eine regelmäßige Betriebstätigkeit entwickelt und wie viele Arbeitnehmer er hierfür eingesetzt hat (so zu der vergleichbaren Problematik des § 17 Abs. 1 KSchG Senat - 2 AZR 624/88 - AP KSchG 1969 § 17 Nr. 6 = EzA KSchG 17 Nr. 4). Gleiches gilt für die Betriebseinschränkung. Die Betriebseinschränkung führt nur dazu, dass künftig eine andere, regelmäßige Arbeitnehmerzahl gegeben sein soll; im Kündigungszeitpunkt ist jedoch für den Betrieb noch die bisherige Beschäftigtenzahl kennzeichnend, da nicht absehbar ist, ob die Unternehmerentscheidung, die der Kündigungsabsicht zugrunde liegt, sich tatsächlich auch verwirklichen lässt, insbesondere also die beabsichtigten Kündigungen wirklich zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führen (von Hoyningen-Huene/Linck KSchG 13. Aufl. § 17 Rn. 23; ebenso zur Betriebsstilllegung KR-Weigand 6. Aufl. KSchG § 17 Rn. 28a). Bei der Berechnung des Schwellenwerts nach § 23 KSchG ist die Rechtsprechung bisher - ohne dies besonders zu problematisieren - als selbstverständlich davon ausgegangen, dass bei einer beabsichtigten Betriebseinschränkung oder Betriebsstilllegung die zur Kündigung anstehenden Arbeitnehmer bei der Berechnung der "in der Regel Beschäftigten" mit zu berücksichtigen sind. Es würde dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung eklatant widersprechen, wenn sich der Arbeitgeber durch den bloßen Entschluss, wegen Betriebseinschränkung bzw. Betriebsstilllegung einzelnen oder allen Arbeitnehmern zu kündigen, der Überprüfung der entsprechenden Kündigungen am Maßstab des Kündigungsschutzgesetzes entziehen könnte. Im Rahmen des § 23 Abs. 1 KSchG kann kein anderer Maßstab gelten als bei den vergleichbaren Regelungen der §§ 17 ff. KSchG und 111 ff. BetrVG. Dort ist anerkannt, dass bei der Betriebsstilllegung und der Betriebseinschränkung nur der Rückblick auf die bisherige Beschäftigtenzahl zur Berechnung des Schwellenwerts maßgeblich ist (Senat aaO; - AP BetrVG 1972 § 111 Nr. 37 = EzA BetrVG 1972 § 111 Nr. 33; GK-Fabricius/Oetker BetrVG 7. Aufl. § 111 Rn. 49; KR-Weigand 6. Aufl. KSchG § 17 Rn. 28a).

Würde man dem Landesarbeitsgericht folgen, so würde dies auch zu dem kaum mehr vertretbaren Ergebnis führen, dass schon bei der Berechnung des Schwellenwerts nach § 23 Abs. 1 KSchG die Sozialwidrigkeit der Kündigung inzident geprüft werden müsste, denn eine sozialwidrige Kündigung, die zum Verlust des Kündigungsschutzprozesses durch den Arbeitgeber führt, ist jedenfalls nicht geeignet, die für den Betrieb kennzeichnende Beschäftigtenzahl abzusenken (so in anderem Zusammenhang HaKo/ Pfeiffer KSchG § 23 Rn. 27).

2. Danach lässt sich anhand der Feststellungen des Landesarbeitsgerichts noch nicht abschließend beurteilen, ob der Erste Abschnitt des Kündigungsschutzgesetzes auf das Arbeitsverhältnis der Parteien Anwendung findet. Einschließlich des Klägers sind beim Beklagten unstreitig zumindest fünf Arbeitnehmer tätig.

Zwar geht die Rüge der Revision fehl, das Landesarbeitsgericht habe nicht hinreichend aufgeklärt, ob der Teilnehmer der Fördermaßnahme nach § 97 SGB III nach § 23 KSchG bei der Berechnung des Schwellenwerts mit zu berücksichtigen sei. Das Landesarbeitsgericht hat im Gegenteil ohne erkennbaren Rechtsfehler darauf abgestellt, der Praktikant habe nach den vorgelegten Unterlagen nicht einmal in einem Vertragsverhältnis zum Beklagten gestanden, sondern sei durch die Kreishandwerkerschaft als Träger der Maßnahme pflichtversichert gewesen und habe beim Beklagten nur eine betriebliche Unterweisung erfahren, durch die zwischen den Parteien nicht einmal ein Ausbildungsverhältnis, erst recht kein Arbeitsverhältnis begründet worden sei. Betriebspraktika, die nicht in einem Arbeitsverhältnis abgeleistet werden, sind bei der Berechnung des Schwellenwerts (§ 23 Abs. 1 KSchG) eben sowenig zu berücksichtigen wie bei der Berechnung der Wartezeit nach § 1 Abs. 1 KSchG (vgl. Senat - 2 AZR 89/99 - AP KSchG 1969 § 1 Wartezeit Nr. 11 = EzA KSchG § 1 Nr. 52).

Das Landesarbeitsgericht hat aber - von seinem rechtlichen Standpunkt aus konsequent - nicht aufgeklärt, ob im Betrieb regelmäßig noch eine Reinigungskraft beschäftigt war. Diese wäre auch als Teilzeitkraft nach § 23 Abs. 1 Satz 3 KSchG zu berücksichtigen gewesen, so dass mit ihr im Betrieb des Beklagten mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt gewesen wären. Der Kläger hat für seine Behauptung, die Zeugin B. sei vor und nach der Kündigung des Klägers als Reinigungskraft über Jahre hinweg mindestens fünf Stunden in der Woche im Betrieb des Beklagten tätig gewesen, Beweis angetreten. Das Landesarbeitsgericht hat insoweit auch zunächst einen Beweisbeschluss erlassen, die Durchführung des Beweisbeschlusses allerdings später, ohne dass die Parteien ausweislich des Sitzungsprotokolls übereinstimmend auf eine weitere Beweisaufnahme verzichtet hätten, unterlassen. Diese Beweiserhebung wird nach der Zurückverweisung nachzuholen sein.

3. Die angefochtene Entscheidung stellt sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig dar (§ 561 ZPO nF). Ob, wie der Beklagte mit der Revisionserwiderung geltend macht, die Kündigung bei Anwendbarkeit des Ersten Abschnitts des Kündigungsschutzgesetzes jedenfalls nicht als sozialwidrig iSv. § 1 KSchG anzusehen wäre, lässt sich mangels entsprechender Tatsachenfeststellungen noch nicht abschließend beurteilen. Es ist insbesondere nicht festgestellt, wie der Kreis der im Rahmen der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG mit dem Kläger vergleichbaren Arbeitnehmer abzugrenzen ist, ob also der Kläger lediglich mit dem anderen Vorarbeiter oder auch mit den nach seinem Vorbringen sozial weniger schutzbedürftigen Gesellen vergleichbar war.

4. Auch zu Lasten des Beklagten ist dem Senat nicht - wie der Kläger meint - eine abschließende Entscheidung möglich. Die Rüge des Klägers, die Kündigung verletze auch bei Nichtanwendbarkeit des § 1 KSchG den verfassungsrechtlich gebotenen Mindestschutz des Arbeitnehmers vor Kündigungen, greift nicht durch, jedenfalls ist insoweit die Sache nicht zur Endentscheidung reif (§ 563 Abs. 3 ZPO nF). Ohne entsprechende Feststellungen der Tatsacheninstanz ist nicht davon auszugehen, dass der Beklagte bei der Auswahl des Klägers auch im Vergleich zu den beiden Gesellen soziale Gesichtspunkte nicht hinreichend berücksichtigt hat (vgl. - AP BGB § 242 Kündigung Nr. 12 = EzA BGB § 242 Kündigung Nr. 1). Eine Vergleichbarkeit des Klägers mit den beiden Gesellen ist nicht festgestellt, und außerdem hat sich der Beklagte zur Rechtfertigung der Kündigung nicht nur auf betriebliche Gründe, sondern ua. auch auf erhebliche Krankheitszeiten des Klägers und dadurch verursachte wirtschaftliche Probleme berufen, was ggf. einer Berücksichtigung der Unterschiede in der sozialen Schutzbedürftigkeit entgegenstehen könnte ( - aaO).

5. Die Zurückverweisung betrifft auch den von der Frage der Wirksamkeit der Kündigung abhängigen Weiterbeschäftigungsantrag.

Fundstelle(n):
BB 2004 S. 1059 Nr. 19
DB 2004 S. 1946 Nr. 36
MAAAB-93660

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