Leitsatz
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Gesetze: GG Art. 19 Abs. 4; GG Art. 33 Abs. 2; BVerfGG § 94
Instanzenzug: OVG Niedersachsen 2 ME 40/02 vom OVG Niedersachsen 2 B 423/02 vom
Gründe
A.
Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, welche Anforderungen die Verwaltungsgerichte im einstweiligen Anordnungsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs stellen dürfen, wenn Gegenstand des Verfahrens die Sicherung des Anspruchs des abgelehnten Bewerbers auf effektiven gerichtlichen Schutz seines Rechts auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Befähigung, Eignung und fachlicher Leistung gemäß Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG im Rahmen der Überprüfung einer beamtenrechtlichen Auswahlentscheidung (Konkurrentenstreit) ist.
I.
Der Beschwerdeführer steht als Regierungsamtsrat (Besoldungsgruppe A 12 BBesO) im Dienst des Niedersächsischen Ministeriums für Frauen, Arbeit und Soziales. Nachdem er sich ohne Erfolg auf eine von vier Beförderungsstellen beworben hatte, nahm er vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch. Das Verwaltungsgericht Hannover gab dem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit dem Ziel des Freihaltens einer der Beförderungsstellen statt, weil die letztlich allein nach dem Beförderungsdienstalter getroffene Auswahlentscheidung gegen den Leistungsgrundsatz verstoße. Da alle 21 Bewerber unabhängig von ihrer tatsächlichen Leistung mit der Höchstnote dienstlich beurteilt worden seien, fehle es an der für die Bestenauslese erforderlichen Grundlage.
Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht änderte den erstinstanzlichen Beschluss und lehnte den Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ab, weil er - ungeachtet der möglichen Rechtswidrigkeit der Auswahlentscheidung - jedenfalls nicht die realistische Möglichkeit glaubhaft gemacht habe, dass in einem erneuten Auswahlverfahren bei Vermeidung des unterstellten Fehlers er anstelle eines Mitbewerbers ausgewählt werden würde.
II.
1. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer die Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 33 Abs. 2 GG durch den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts. Zur Begründung führt er an, dass die angegriffene Entscheidung nicht mit dem Leistungsgrundsatz vereinbar sei, weil der Dienstherr den Beförderungsbewerbern undifferenziert Bestnoten erteilt habe, um dann bei der Auswahl auf das Dienstalter zurückzugreifen. Außerdem verweigere das Oberverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer effektiven Rechtsschutz. Es sei ihm nicht möglich, einen für ihn günstigen Ausgang eines erneuten Auswahlverfahrens in dem Sinne, wie es das Oberverwaltungsgericht fordere, glaubhaft zu machen.
2. Den gemäß § 94 BVerfGG Äußerungsberechtigten wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Die Niedersächsische Staatskanzlei hält den angegriffenen Beschluss für verfassungsgemäß. Die Beurteilung aller 21 Bewerber mit der Höchstnote habe sachliche und systemimmanente Gründe. Das Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung sei nicht verletzt, weil der Beschwerdeführer nicht habe geltend machen können, dass gerade er aus der Gruppe der Beförderungsbewerber hätte ausgewählt werden müssen.
B.
Die Kammer nimmt die zulässige Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt ist (§ 93b in Verbindung mit § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), und gibt ihr statt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen zu Art. 19 Abs. 4 GG hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 44, 302 <305>; 77, 275 <284>; 79, 69 <74 f.>; 84, 34 <49>; 93, 1 <13>; 101, 106 <122 f.>; 103, 142 <156>). In diesem - die Kompetenz der Kammer begründenden - Sinne ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet.
I.
Der angegriffene Beschluss des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom verletzt den Beschwerdeführer in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG.
1. a) Art. 33 Abs. 2 GG gewährt jedem Deutschen ein grundrechtsgleiches Recht auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichen Amt nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung (vgl. BVerfGE 1, 167 <184>). Daraus folgt der Anspruch eines Beförderungsbewerbers auf ermessens- und beurteilungsfehlerfreie Entscheidung über seine Bewerbung (vgl. BVerwGE 101, 112 <114>). Dieser Anspruch (Bewerbungsverfahrensanspruch) lässt sich nach der bisherigen, verfassungsrechtlich nicht beanstandeten verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung nur vor einer Ernennung des ausgewählten Konkurrenten mittels einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO effektiv sichern. Wird hingegen die im Streit stehende Stelle besetzt, bleibt dem unterlegenen Bewerber sowohl die erfolgreiche Inanspruchnahme gerichtlichen Eilrechtsschutzes als auch primärer Rechtsschutz in der Hauptsache in Form der Bescheidungsklage nach § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO versagt (vgl. BVerwGE 80, 127 <129 f.>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des -, NJW 1990, S. 501 f.; vgl. hierzu allerdings jetzt auch BVerwG, DVBl 2002, S. 203 <204>).
b) Aufgrund dieser Verfahrensabhängigkeit des sich aus Art. 33 Abs. 2 GG ergebenden subjektiven Rechts sind die Verwaltungsgerichte bei der Auslegung und Anwendung des § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO im so genannten beamtenrechtlichen Konkurrentenstreit gehalten, den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes gerade im Eilverfahren besonders Rechnung zu tragen. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert nicht nur das formelle Recht und die theoretische Möglichkeit, die Gerichte anzurufen, sondern auch eine tatsächlich wirksame gerichtliche Kontrolle (vgl. BVerfGE 35, 263 <274>; 40, 272 <275>; 61, 82 <110 f.>; 77, 275 <284>; 79, 69 <74 f.>; 93, 1 <13>; 97, 298 <315>; 101, 106 <122 f.>; 103, 142 <156>; stRspr). Droht dem Antragsteller bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über den Randbereich hinausgehende Verletzung in seinen Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, so ist - erforderlichenfalls unter eingehender tatsächlicher und rechtlicher Prüfung des im Hauptverfahren geltend gemachten Anspruchs - einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, wenn nicht ausnahmsweise gewichtige Gründe entgegenstehen. Hierbei muss das Gericht das Verfahrensrecht in einer Weise auslegen und anwenden, die dem Gebot effektiven Rechtsschutzes Rechnung trägt (vgl. BVerfGE 79, 69 <75>; 97, 298 <315>).
2. Diesen Vorgaben aus Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Er überspannt die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs zu Lasten des Beschwerdeführers, indem er für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht nur die Glaubhaftmachung einer Fehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung fordert, sondern darüber hinaus auch die Glaubhaftmachung der realistischen, nicht nur entfernten Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer bei Vermeidung des Fehlers einem der ausgewählten Mitbewerber vorgezogen wird. Dadurch wird dem Beschwerdeführer die Möglichkeit einer erfolgreichen Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes, der nach der bisherigen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Abwendung vollendeter Tatsachen und somit zur effektiven Sicherung des Anspruchs aus Art. 33 Abs. 2 GG ausschließlich in Betracht kommt, in unzumutbarer Weise erschwert.
a) Der Maßstab, der an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs und damit des zu sichernden Rechts, dessen Verwirklichung ohne den Erlass einer einstweiligen Anordnung vereitelt oder wesentlich erschwert würde, anzulegen ist, hat sich an dem Rechtsschutzziel zu orientieren, das der Beschwerdeführer mit seinem Begehren verfolgt. Ist die geltend gemachte materielle Rechtsposition grundsätzlich sicherungsfähig, hängt die Bejahung eines Anordnungsanspruchs nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte regelmäßig davon ab, welche Erfolgsaussichten im Hauptsacheverfahren bestehen. Diese verwaltungsgerichtliche Praxis ist verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenklich (vgl. BVerfGE 79, 69 <74 f.>).
aa) Im Rahmen einer auf Art. 33 Abs. 2 GG gestützten Bescheidungsklage, mit der sich der unterlegene Beamte gegen die Ablehnung seiner Bewerbung richtet, ist die gerichtliche Überprüfung der Auswahlentscheidung - verfassungsrechtlich unbeanstandet - regelmäßig darauf beschränkt, ob der Dienstherr ermessens- und beurteilungsfehlerfrei über die Bewerbung entschieden hat. Dagegen kann der unterlegene Bewerber - von dem unwahrscheinlichen Fall einer Reduzierung des Beurteilungsspielraumes bzw. des Ermessens auf Null abgesehen - unter Berufung auf Art. 33 Abs. 2 GG nicht gerichtlich feststellen lassen, dass er an Stelle des ihm vorgezogenen Konkurrenten hätte ausgewählt werden müssen. Streitgegenstand ist mithin nicht ein möglicher Anspruch auf Beförderung, sondern allein das dahinter zurückbleibende Recht auf fehlerfreie Entscheidung über die Bewerbung. Wird dieses subjektive Recht aus Art. 33 Abs. 2 GG durch eine fehlerhafte Auswahlentscheidung des Dienstherrn verletzt, folgt daraus, dass der unterlegene Beamte eine erneute Entscheidung über seine Bewerbung zumindest dann beanspruchen kann, wenn seine Aussichten, beim zweiten Mal ausgewählt zu werden, offen sind, d.h. wenn seine Auswahl möglich erscheint. Dementsprechend wird der Dienstherr mit einer der Klage stattgebenden Entscheidung verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut über die Bewerbung des Klägers zu entscheiden.
bb) Derselbe Maßstab wie im Hauptsacheverfahren ist auch anzulegen, wenn der bei der Auswahl eines Beförderungsbewerbers unterlegene Beamte verwaltungsgerichtlichen Eilrechtsschutz zur vorläufigen Sicherung seines Anspruchs aus Art. 33 Abs. 2 GG begehrt. Da hier effektiver Rechtsschutz letztlich nur im Wege einer einstweiliger Anordnung zu leisten ist, dürfen die Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG nicht über das hinausgehen, was für ein Obsiegen des unterlegenen Bewerbers im Hauptsacheverfahren gefordert werden könnte.
b) aa) Das Postulat des Oberverwaltungsgerichts in der angegriffenen Entscheidung, der Beschwerdeführer habe glaubhaft zu machen, dass er in einem erneuten Auswahlverfahren bei Vermeidung des unterstellten Fehlers anstelle eines ausgewählten Mitbewerbers zum Zuge komme, führt zu dem Ergebnis, dass dem Beschwerdeführer auch bei unterstellter Verletzung von Art. 33 Abs. 2 GG - und dementsprechend gegebener Erfolgsaussicht in der Hauptsache - vorläufiger Rechtsschutz versagt bleibt. Die unterstellte Rechtsverletzung könnte jedoch im Hauptsacheverfahren nach erfolglos durchgeführtem Eilverfahren und einer sich daran anschließenden Ernennung der ausgewählten Mitbewerber nicht mehr korrigiert werden, weil nach dem gegenwärtigen Stand der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung das Rechtsschutzinteresse an einer erneuten Entscheidung entfallen wäre. Die nach der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts im verwaltungsgerichtlichen Eilverfahren zu überwindende Hürde ist wegen der Anforderungen an die Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs zu hoch; zu einer Entscheidung in der Hauptsache könnte es allein aus prozessualen Gründen nicht mehr kommen, so dass der Beschwerdeführer letztlich schutzlos bleibt.
bb) An diesem Ergebnis ändert auch die Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts nichts, es bestehe nicht die realistische Möglichkeit, dass der Beschwerdeführer bei einer neuen, das Spektrum der Beurteilungsnoten besser ausnutzenden Beurteilungsaktion im Vergleich zu den ausgewählten Mitbewerbern um eine ganze Notenstufe besser abschneiden würde, weil sich die bessere Eignung des Beschwerdeführers weder aus den Texten der zuletzt erteilten Beurteilung noch aus den davor erteilten Beurteilungen ergebe. Zum einen erscheint es nicht tragfähig, dass das Oberverwaltungsgericht die Chancen des Beschwerdeführers in einem erneuten Auswahlverfahren aufgrund der vorhandenen dienstlichen Beurteilungen überprüft, obwohl es deren Rechtswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen den Leistungsgrundsatz unterstellt. Zum anderen ist es im Hinblick auf den dem Dienstherrn bei der Auswahlentscheidung zustehenden Beurteilungs- und Ermessensspielraum grundsätzlich nicht Aufgabe des Gerichts, den besser geeigneten Bewerber zu bestimmen und eine eigene Prognose der Erfolgsaussichten der Bewerbung vorzunehmen.
Die angegriffene Entscheidung, die auf die Aussichten des Bewerbers im erneuten Auswahlverfahren abstellt, wäre gemessen an Art. 19 Abs. 4 GG nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn der Beschwerdeführer - über den regelmäßigen Gewährleistungsinhalt des Art. 33 Abs. 2 GG hinausgehend - als Rechtsschutzziel ausdrücklich seine Beförderung beansprucht hätte; das ist aber nicht der Fall.
c) Ob - wie der Beschwerdeführer meint - die Beurteilungspraxis des Niedersächsischen Ministeriums für Arbeit, Frauen und Soziales rechtswidrig ist und die Auswahlentscheidung gegen den Leistungsgrundsatz verstößt, bedarf hier keiner Entscheidung. Die festgestellte Verletzung von Art. 19 Abs. 4 GG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 2 GG beruht darauf, dass das Oberverwaltungsgericht die Rechtmäßigkeit der Auswahlentscheidung offen gelassen und den Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes trotz unterstellter Rechtswidrigkeit unter Heranziehung eines gegen den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz verstoßenden Prüfungsmaßstabs abgelehnt hat.
II.
Der Beschluss des Niedersächsischen Oberwaltungsgerichts vom ist daher aufzuheben. Die Sache ist an das Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
QAAAB-87400