BVerfG Beschluss v. - 1 BvR 728/01

Leitsatz

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.

Gesetze: GG Art. 1 Abs. 1 Satz 1; GG Art. 1 Abs. 1 Satz 2; GG Art. 20 Abs. 3; GG Art. 1 Abs. 1

Instanzenzug: BAG 2 AZR 324/00 LAG Hamburg 3 Sa 17/97 AG Hamburg 12 Ca 201/96

Gründe

A.

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Revisionsverfahren, gegen das Berufungsurteil eines Landesarbeitsgerichts, das der Beschwerdeführerin in vollständiger Fassung erst mehr als 13 Monate nach Verkündung zugestellt worden ist, und gegen ein arbeitsgerichtliches Urteil.

I.

1. Die Beschwerdeführerin ist seit Februar 1988 als Verwaltungsangestellte an der Universität des im Ausgangsverfahren beklagten Landes beschäftigt. Im April 1996 kehrte sie nach längerer Krankheit an ihren Arbeitsplatz zurück. Es kam zu Spannungen mit Vorgesetzten und Kollegen, die in wechselseitigen Vorwürfen und Beschuldigungen endeten. Das beklagte Land kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom außerordentlich fristlos sowie erneut mit Schreiben vom ordentlich fristgemäß zum . Gegen beide Kündigungen erhob die Beschwerdeführerin Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht.

Das Arbeitsgericht wies die Kündigungsschutzklage nach Vernehmung von zwei Zeugen durch Urteil vom vollen Umfangs ab. Schon die außerordentliche fristlose Kündigung sei wegen einer bewusst falschen Anschuldigung, Dienstaufsichtsbeschwerde und Strafanzeige gegen einen Vorgesetzten wirksam, sodass es auf die Wirksamkeit der ordentlichen Kündigung nicht mehr ankomme. Das Urteil des Arbeitsgerichts wurde den damaligen Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin am zugestellt.

Auf die Berufung der Beschwerdeführerin änderte das Landesarbeitsgericht das Urteil des Arbeitsgerichts durch Teilurteil vom ab und gab der Kündigungsschutzklage zunächst hinsichtlich der außerordentlichen fristlosen Kündigung statt. Im Übrigen sei der Rechtsstreit nicht entscheidungsreif.

2. Schließlich löste das Landesarbeitsgericht nach Vernehmung von zehn Zeugen durch ein als "Urteil" bezeichnetes Schlussurteil vom das Arbeitsverhältnis auf und verurteilte das im Ausgangsverfahren beklagte Land zur Zahlung einer Abfindung in Höhe von 40.000 DM; die Revision ließ es nicht zu. In vollständig abgefasster Form wurde das Schlussurteil des Landesarbeitsgerichts der Beschwerdeführerin zunächst nicht zugestellt.

Daraufhin legte die Beschwerdeführerin mit einem am beim Bundesarbeitsgericht eingegangenen Schreiben Revision ein. Mit Schreiben vom erhob die Beschwerdeführerin außerdem Verfassungsbeschwerde. Mit Schreiben vom legte die Beschwerdeführerin erneut Revision und "hilfsweise Nichtzulassungsbeschwerde" beim Bundesarbeitsgericht ein.

Das vollständig abgefasste Schlussurteil des Landesarbeitsgerichts wurde dem Prozessbevollmächtigten der Beschwerdeführerin erst mehr als 13 Monate nach der Verkündung, am , zugestellt.

Das Bundesarbeitsgericht verwarf durch Beschluss vom - 2 AZN 92/01 - die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin als unzulässig. Mit weiterem Beschluss vom - 2 AZR 324/00 - verwarf das Bundesarbeitsgericht auch die Revision als unzulässig, weil das Landesarbeitsgericht die Revision nicht zugelassen habe und die Nichtzulassungsbeschwerde der Beschwerdeführerin vom Bundesarbeitsgericht als unzulässig verworfen worden sei.

II.

1. Mit ihrer bereits am eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 1 Abs. 1 Satz 1 und 2 sowie Art. 20 Abs. 3 GG durch die Untätigkeit des Landesarbeitsgerichts. Seit der Verkündung des (Schluss-)Urteils seien inzwischen 11 Monate vergangen. Das Verhalten des Landesarbeitsgerichts widerspreche dem arbeitsgerichtlichen Beschleunigungsgrundsatz und Art. 20 Abs. 3 GG. Da das Landesarbeitsgericht die Beschwerdeführerin unzumutbar lange auf die Entscheidung habe warten lassen, sei auch Art. 1 Abs. 1 GG verletzt.

2. Mit weiterem, am eingegangenem Schreiben rügt die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Art. 1, Art. 2 und Art. 20 Abs. 3 GG durch das Urteil des Arbeitsgerichts und das Schlussurteil des Landesarbeitsgerichts sowie den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts im Revisionsverfahren. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts verstoße wegen des Zeitablaufs zwischen Verkündung und Zustellung gegen § 551 Nr. 7 ZPO und sei ein Urteil ohne Begründung. Da das Urteil des Landesarbeitsgerichts ein rechtliches Nullum sei, entfalle auch die Nichtzulassungsbeschwerde und deren Zurückweisung.

III.

Zur Verfassungsbeschwerde haben das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, die Senatorin der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Freien und Hansestadt Hamburg sowie das im Ausgangsverfahren beklagte Land Stellung genommen.

1. Das Bundesministerium hat mitgeteilt, dass es derzeit die Regelungen der Revisionszulassung im Arbeitsgerichtsgesetz (§§ 72, 72 a ArbGG) überprüfe. Es bestehe gesetzgeberischer Handlungsbedarf. Es werde überlegt, zumindest in gewissem Umfang auch bei Vorliegen von Verfahrensfehlern sowie bei Rechtssachen von grundsätzlicher Bedeutung, bei denen es sich nicht um tarifvertrags- oder koalitionsrechtliche Streitigkeiten handele, eine Zulassung der Revision zu ermöglichen. Die Gesetzesänderung müsse sowohl den Interessen der Recht suchenden Bürger gerecht werden als auch eine zu starke Belastung des Bundesarbeitsgerichts als Revisionsinstanz vermeiden. Allerdings werde das Vorhaben wegen seiner Bedeutung und Komplexität in der laufenden Legislaturperiode voraussichtlich nicht mehr abgeschlossen.

2. Die Senatorin der Behörde für Arbeit, Gesundheit und Soziales der Freien und Hansestadt Hamburg hat sich dahin geäußert, dass sie und das Landesarbeitsgericht die verspätete Urteilszustellung bedauerten. Es handele sich um einen seltenen Ausnahmefall, zu dessen künftiger Verhinderung der Präsident des Landesarbeitsgerichts bereits am Jahresanfang die erforderlichen und möglichen Schritte eingeleitet habe.

3. Das im Ausgangsverfahren beklagte Land hält die auf Untätigkeit des Landesarbeitsgerichts gestützte Verfassungsbeschwerde vom für unzulässig, weil sich das verfolgte Begehren durch die schließlich erfolgte Zustellung des Berufungsurteils erledigt habe. Die Verfassungsbeschwerde vom Mai 2001 gegen die Entscheidungen aller drei Instanzen der Arbeitsgerichtsbarkeit sei unzulässig, weil sie bei Anwendung der Grundsätze des Beschlusses der 2. Kammer des Ersten Senats des - (NZA 2001, S. 982) weder fristgerecht eingereicht noch ausreichend begründet worden sei. Im Übrigen sei die Verfassungsbeschwerde auch unbegründet, weil die angefochtenen Entscheidungen des Arbeits- und des Bundesarbeitsgerichts kein Verfassungsrecht verletzten.

B.

I.

Die Kammer nimmt gemäß § 93 b BVerfGG die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung des Anspruchs der Beschwerdeführerin auf wirkungsvollen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Der Verfassungsbeschwerde ist insoweit nach Maßgabe der Gründe stattzugeben. Die für die Beurteilung wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich des Urteils des Landesarbeitsgerichts zulässig und begründet.

1. Das Bundesverfassungsgericht hat die einschlägigen verfassungsrechtlichen Fragen zur Bedeutung des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) bereits entschieden.

Der Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes verbietet es den Gerichten, den Parteien den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht zu rechtfertigender Weise zu erschweren (vgl. BVerfGE 41, 23 <25 f.>; 69, 381 <385>). Gleichzeitig gebietet die aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Pflicht zur Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes und zur Herstellung von Rechtssicherheit, dass strittige Rechtsverhältnisse in angemessener Zeit geklärt werden (vgl. BVerfGE 60, 253 <269>; 88, 118 <124>).

2. Nach diesem Maßstab verletzt die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts die Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG).

Eine landesarbeitsgerichtliche Entscheidung, in der die Revision nicht zugelassen wurde und deren vollständige Gründe erst mehr als fünf Monate nach Verkündung unterschrieben der Geschäftsstelle übergeben worden sind, kann keine geeignete Grundlage mehr für das Revisionsgericht sein, um das Vorliegen von Revisionszulassungsgründen in rechtsstaatlicher Weise zu überprüfen. Ein Landesarbeitsgericht, das ein Urteil in vollständiger Fassung erst so spät absetzt, erschwert damit für die unterlegene Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise.

Wegen der weiteren Begründung wird verwiesen auf den Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats des -, AP Nr. 33 zu Art. 20 GG = NZA 2001, S. 982.

II.

1. Die angegriffene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist aufzuheben und die Sache - zur Vermeidung weiterer Verzögerungen - an eine andere Kammer des Landesarbeitsgerichts zurückzuverweisen.

2. Die ebenfalls angegriffene Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts wird damit gegenstandslos, sodass es keines weiteren Eingehens auf die insoweit erhobenen Rügen bedarf.

3. Die gegen das Urteil des Arbeitsgerichts gerichtete Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

a) Grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung kommt der Verfassungsbeschwerde insoweit nicht zu (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe a BVerfGG), weil sie keine Fragen aufwirft, die sich nicht ohne weiteres aus dem Grundgesetz beantworten lassen oder die noch nicht durch die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung geklärt sind (vgl. BVerfGE 90, 22 <24 f.>).

b) Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin angezeigt (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat. Sie ist unzulässig. Es fehlt an der erforderlichen Begründung (§ 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG). Dazu gehört, dass das angeblich verletzte Recht bezeichnet (BVerfGE 5, 1) und der seine Verletzung enthaltende Vorgang substantiiert dargelegt wird (BVerfGE 9, 109 <114 f.>; 81, 208 <214>; stRspr). Dabei hat der Beschwerdeführer auch darzulegen, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (BVerfGE 99, 84 <87>). Die Ausführungen der Beschwerdeführerin zum angeblichen Verfassungsverstoß im Urteil des Arbeitsgerichts erschöpfen sich aber in einfachrechtlichen Ausführungen.

4. Die Freie und Hansestadt Hamburg hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten, weil sich die Verfassungsbeschwerde im Wesentlichen als begründet erwiesen hat (§ 34 a Abs. 2 BVerfGG). Die Festsetzung des Wertes des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 113 Abs. 2 Satz 3 BRAGO.

Fundstelle(n):
AAAAB-86134