Instanzenzug:
Gründe
I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) versandte im Juli 2001 ein Paket aus Indonesien nach Deutschland, das u.a. drei Packungen zu je neunzig Stück des Präparats „Vitacor Plus TM” sowie zwei Packungen zu je neunzig Stück des Präparats „ImmunoCell TM” enthielt. Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Hauptzollamt —HZA—) lehnte insoweit mit Bescheid vom die Annahme einer Zollanmeldung mit der Begründung ab, dass es sich nach dem Ergebnis einer gesundheitsbehördlichen Begutachtung bei diesen Produkten um Arzneimittel handele, die nicht ohne Zulassung eingeführt werden dürften. Zugleich wurden die Waren vom HZA sichergestellt.
Die nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhobene Klage, mit der die Klägerin die Aufhebung der Sicherstellungsverfügung und die Herausgabe der Waren mit der Begründung begehrt, dass es sich bei diesen nicht um Arzneimittel, sondern um Nahrungsergänzungsmittel handele, wies das Finanzgericht (FG) aufgrund mündlicher Verhandlung vom ab. Das FG urteilte, dass die Sicherstellung der Waren gemäß Art. 75 Buchst. a Anstrich 4 des Zollkodex i.V.m. § 2 Abs. 1, § 21 und § 74 des Arzneimittelgesetzes (AMG) zu Recht erfolgt sei, da es sich bei den fraglichen Präparaten um Arzneimittel handele. Ihre Arzneimitteleigenschaft folge aus dem funktionalen Arzneimittelbegriff des § 2 Abs. 1 AMG, für welchen —in Abgrenzung zu den Lebens- und Nahrungsergänzungsmitteln— nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) die an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung des Produkts, wie sie sich nach der Verkehrsauffassung darstelle, maßgebend sei. Für eine pharmakologische Wirkung der Zusammenstellung der Inhaltsstoffe des Präparats „Vitacor Plus TM” spreche die Beurteilung des Mittels durch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. Auch nach der Verkehrsauffassung handele es sich um ein komplexes, ausbalanciertes Präparat, dem nach seiner Zweckbestimmung vornehmlich eine pharmakologische Wirkung zugedacht sei. Diese pharmakologische Zweckbestimmung und Wirkung bestehe auch nach Einschätzung der niederländischen Herstellerfirma, die dem Mediziner Dr. X zuzurechnen sei. Nach einem Bericht der Tageszeitung „Die Welt” vom enthalte „Vitacor Plus TM” eine Mikro-Nährstoffkombination, die unter der Produktgruppe „Vitaminpräparate des Dr. X” bekannt sei und von den Niederlanden aus vertrieben werde. Diese hochdosierten Vitaminpräparate würden von Dr. X seit Jahren als ein alternatives Heilmittel u.a. gegen Herztod, Krebs und Diabetes propagiert. Dr. X und seine Herstellerfirma begründeten die sog. „Zellular-Medizin” als eine von der Schulmedizin noch nicht anerkannte Heilrichtung, auf deren Grundlage eine Klinik, ein Versandhandel, eine Stiftung und eine Fortbildungs-Akademie betrieben würden. Diese Institutionen beeinflussten ausnahmslos und gewollt die Vorstellungen des Verbrauchers in Richtung auf eine arzneiliche Wirkung der Produktgruppe „Vitaminpräparate des Dr. X”. Auch auf dem für das Produkt mitgelieferten Behälter finde sich die Aufschrift „Zellular-Medizin Formula TM”. Ebenso sei für die Zuordnung des Präparats „ImmunoCell TM” zu den Arzneimitteln die Verkehrsauffassung ausschlaggebend, die auf eine überwiegend arzneiliche Zweckbestimmung dieses Produkts verweise, welche über die Funktion eines bloßen Nahrungsergänzungsmittels hinausgehe. Dies folge bei diesem Mittel weniger aus seiner objektiven Zusammensetzung als aus seiner Einbettung in das Gesamtkonzept der sog. „Zellular-Medizin”, die für den Durchschnittsverbraucher zu der Überzeugung führen müsse, dass dieses Mittel im Zusammenwirken mit anderen Präparaten dieser Herstellerfirma eine überwiegend arzneiliche Zweckbestimmung habe.
Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin, welche sie auf sämtliche Zulassungsgründe des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) stützt.
II. Die Beschwerde führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des Urteils des FG und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung. Der von der Beschwerde in zulässiger Weise geltend gemachte Verfahrensmangel der Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes, § 96 Abs. 2 FGO) liegt vor und das Urteil des FG beruht auch auf diesem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, § 119 Nr. 3 FGO).
Die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör stellt einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar (vgl. Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 80). Mit der Beschwerde wird der Verfahrensmangel der Gehörsverletzung durch das FG in schlüssiger Weise (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) dargelegt. Die Beschwerde rügt, dass sich das FG in seinem Urteil auf einen Artikel in der Tageszeitung „Die Welt” vom gestützt habe, ohne dass der Klägerin eine Stellungnahme zu diesem Artikel möglich gewesen sei. Die Beschwerde legt auch substantiiert dar, wozu sich die Klägerin im finanzgerichtlichen Verfahren nicht hat äußern können, und führt aus —indem sie zu den vom FG aus dem Zeitungsartikel übernommenen Tatsachen im Einzelnen Stellung nimmt— was sie insoweit bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs vorgetragen hätte.
Die zulässige Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs ist auch begründet. Aus den Urteilsgründen ergibt sich, dass das FG seine Beurteilung, dass dem Präparat „Vitacor Plus TM” nach der Verkehrsauffassung eine vornehmlich pharmakologische Zweckbestimmung zugedacht sei, u.a. darauf gestützt hat, dass dieses Mittel zu der Produktgruppe „Vitaminpräparate des Dr. X” der dem Mediziner Dr. X zuzurechnenden niederländischen Herstellerfirma gehöre, dass diese hochdosierten Vitaminpräparate von Dr. X seit Jahren als ein alternatives Heilmittel propagiert würden und dass die diese Präparate anwendenden Institutionen die Vorstellungen des Verbrauchers in Richtung auf eine arzneiliche Wirkung dieser Produkte beeinflussten. In gleicher Weise hat das FG das Präparat „ImmunoCell TM” beurteilt, indem es davon ausging, dass dieses Präparat in das Gesamtkonzept der von Dr. X propagierten sog. „Zellular-Medizin” eingebettet sei. Die insoweit zugrunde gelegten Tatsachen hat das FG —wie in den Urteilsgründen ausgeführt— einem Artikel der Tageszeitung „Die Welt” vom entnommen, während das FG-Urteil aufgrund mündlicher Verhandlung vom ergangen ist. Entgegen § 96 Abs. 2 FGO, der der Verwirklichung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dient, hatten die Beteiligten im Streitfall daher keine Gelegenheit, sich zu den Tatsachen, die Grundlage für die Entscheidung des FG waren, äußern zu können; eine entsprechende Rüge vor dem FG (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 12) kam wegen der zeitlichen Abfolge von mündlicher Verhandlung und dem Erscheinen des Zeitungsartikels nicht in Betracht.
Das Urteil des FG beruht auch auf diesem Verfahrensmangel, da nach § 119 Nr. 3 FGO ein Urteil stets auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist, wenn einem der Beteiligten das rechtliche Gehör versagt war. Dieser Grundsatz gestattet zwar Ausnahmen, wenn das rechtliche Gehör in Bezug auf einzelne Tatsachenfeststellungen verletzt worden ist, auf die es für die Entscheidung unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommen kann (vgl. Gräber/Ruban, a.a.O., § 119 Rz. 11, m.w.N.); so verhält es sich im Streitfall jedoch nicht. Das FG ist zutreffend von dem Arzneimittelbegriff gemäß § 2 Abs. 1 AMG und dessen Definition durch den BGH ausgegangen, wonach es auf die an objektive Merkmale anknüpfende überwiegende Zweckbestimmung des Produkts ankommt, wie sie sich für einen durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher darstellt (vgl. , BGHZ 151, 286; vom I ZR 275/01, Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht —GRUR— 2004, 793). Die Vorstellungen der Verbraucher von der Zweckbestimmung eines Produkts können u.a. durch Werbeangaben des Herstellers, Gebrauchsanweisungen sowie die Aufmachung beeinflusst sein, in der das Produkt dem Verbraucher allgemein entgegentritt (BGH-Urteile in BGHZ 151, 286, und in GRUR 2004, 793). Es kommt daher auch in Betracht, darauf abzustellen, in welcher Weise das Produkt durch den Hersteller in der Öffentlichkeit dargestellt wird (vgl. Rehmann, Arzneimittelgesetz, § 2 Rz. 2), ob es z.B. —wie im Streitfall vom FG angenommen— als Mittel einer neuen, von der Schulmedizin noch nicht anerkannten Heilrichtung propagiert wird. Ein solcher Hinweis ist einer von mehreren denkbaren Gesichtspunkten in einer vom Gericht anzustellenden Gesamtbetrachtung (vgl. BGH-Urteil in GRUR 2004, 793), die zur Beurteilung der nach der Verkehrsauffassung bestehenden Zweckbestimmung des Produkts führt.
Es kann daher nicht angenommen werden, dass es auf die dem Zeitungsartikel vom entnommenen Hinweise, die das FG im Rahmen einer für jedes streitige Produkt angestellten Gesamtbetrachtung verwertet hat, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ankommen kann und dass deshalb die unter Verletzung des rechtlichen Gehörs getroffenen Feststellungen in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO hinweggedacht werden könnten, ohne das Ergebnis der Entscheidung in Frage zu stellen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 1309 Nr. 7
LAAAB-83239