Überprüfung von Verwaltungsanweisungen durch Gerichte
Leitsatz
1. Hat die Verwaltung in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob sich die Behörden an die Richtlinien gehalten haben und ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen.
2. Dabei ist für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie das FG eine solche Verwaltungsanweisung versteht, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das FG darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf prüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist.
Gesetze: FGO § 102,AO § 163,UStG § 15a,UStG § 24
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) war Inhaber eines landwirtschaftlichen Betriebs, dessen Umsätze nach Durchschnittsätzen besteuert wurden.
Daneben war er gemeinsam mit seiner Ehefrau Gesellschafter einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die ein der Regelbesteuerung unterliegendes landwirtschaftliches Lohnunternehmen betrieb. Die GbR hatte aus dem Erwerb von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens den Vorsteuerabzug in Anspruch genommen.
Am übertrug die Ehefrau des Klägers diesem unentgeltlich ihren Anteil an der GbR. Das Anlagevermögen der GbR nutzte der Kläger in der Folgezeit in seinem land- und forstwirtschaftlichen Betrieb.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) sah hierin eine Änderung der Verhältnisse i.S. des § 15a des Umsatzsteuergesetzes 1980/1991/1993 (UStG) und nahm nach dieser Vorschrift Vorsteuerberichtigungen für die Jahre 1990 bis 1994 (Streitjahre) vor.
Der Kläger beantragte eine abweichende Steuerfestsetzung aus Billigkeitsgründen unter Verzicht auf die vorgenommenen Vorsteuerkorrekturen. Der Antrag und der hiergegen gerichtete Einspruch blieben ohne Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es führte zur Begründung im Wesentlichen aus:
Das FA sei verpflichtet, die Steuer niedriger festzusetzen, und zwar in Höhe der vorgenommenen Vorsteuerberichtigungen, weil es das ihm in § 163 der Abgabenordnung (AO 1977) eingeräumte Ermessen falsch ausgeübt habe und das Ermessen auf Null reduziert gewesen sei. Denn das FA habe die Billigkeits-/Übergangsregelung gemäß den Absätzen 3 und 5 des Schreibens des Bundesministeriums der Finanzen (BMF) vom (BStBl I 1995, 831) nicht angewandt, obwohl der vorliegende Sachverhalt unter diese Regelung falle.
Das BMF-Schreiben in BStBl I 1995, 831 (Vorsteuerberichtigung nach § 15a UStG bei Land- und Forstwirten; Auswirkungen des sog. Mähdrescher-, BFHE 173, 265, BStBl II 1994, 339) regele in Absatz 3, dass der Übergang von der Regelbesteuerung zur Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG zwar eine Änderung der Verhältnisse hinsichtlich der Wirtschaftsgüter darstelle, deren Berichtigungszeitraum nach § 15a UStG noch nicht abgelaufen sei. Die sich daraus ergebenden Rechtsfolgen sollten nach der in Absatz 5 getroffenen Regelung aber erst für Wirtschaftsgüter gelten, die —anders als hier— nach dem erstmals verwendet worden seien.
Im Streitfall liege ein derartiger Wechsel der Besteuerungsform vor, weil die Wirtschaftsgüter zunächst im Unternehmen der GbR, für das die Regelbesteuerung gegolten habe, und nach Auflösung der GbR im land- und forstwirtschaftlichen Unternehmen des Klägers, das der Durchschnittsatzbesteuerung unterlegen habe, verwendet worden seien.
Das Urteil des FG ist in „Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst” (DStRE) 2004, 834 veröffentlicht.
Mit der Revision rügt das FA Verletzung materiellen Rechts und macht im Wesentlichen geltend:
Der Kläger habe die Wirtschaftsgüter nach der Übernahme in seinem der Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG unterliegenden land- und forstwirtschaftlichen Betrieb genutzt. Es habe bezüglich der Wirtschaftsgüter ein Wechsel von einem gewerblichen Unternehmensbereich mit Regelbesteuerung (beim Gesamtrechtsvorgänger des Klägers) in einen der Durchschnittsatzbesteuerung unterliegenden land- und forstwirtschaftlichen Unternehmensbereich (beim Gesamtrechtsnachfolger) stattgefunden. Die Absätze 3 und 5 des bezeichneten BMF-Schreibens in BStBl I 1995, 831 seien deswegen nicht anwendbar. Denn diese Regelung gelte nach Verwaltungsauslegung nur für den bloßen Wechsel der Besteuerungsform, wenn also ein Land- und Forstwirt von der Regelbesteuerung zur Durchschnittsatzbesteuerung (oder umgekehrt) wechsle, nicht jedoch, wenn sich —wie hier— die Verwendung eines Wirtschaftsguts zwischen gewerblichem Unternehmensteil und pauschal versteuerndem land- und forstwirtschaftlichen Unternehmensteil ändere.
Das FA beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Er trägt zur Begründung im Wesentlichen vor:
Die Rechtsauffassung der Finanzverwaltung bis zum BFH-Urteil in BFHE 173, 265 BStBl II 1994, 339 ergebe sich aus Abschn. 215 Abs. 8 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 der Umsatzsteuer-Richtlinien (UStR) 1988/1992. Danach sei eine Vorsteuerberichtigung (nur) durchzuführen gewesen, wenn sich die Verhältnisse aus Sicht des § 15 Abs. 2 und 3 UStG geändert hatten. Ein Wechsel der Besteuerungsform sei kein Grund für eine Vorsteuerberichtigung gewesen. Es treffe nicht zu, dass die Finanzverwaltung unter Geltung der UStR bis 1992 nur dann keine Vorsteuerberichtigung durchgeführt habe, wenn die Besteuerungsform für den gesamten landwirtschaftlichen Betrieb gewechselt worden sei, dagegen eine Änderung der Verhältnisse i.S. von § 15a UStG angenommen habe, wenn sich für einzelne Wirtschaftsgüter die Verwendung für regelbesteuerte und pauschalbesteuerte Umsätze geändert habe.
Weil aber die Finanzverwaltung früher die Änderung der Verhältnisse nur aus Sicht des § 15 Abs. 2 und 3 UStG beurteilt, der BFH aber in dem Urteil in BFHE 173, 265, BStBl II 1994, 339 zusätzlich auch eine Verwendungsänderung für durchschnittsbesteuerte Umsätze einbezogen habe, habe die Finanzverwaltung ihre in Abschn. 215 Abs. 8 Sätze 1 und 2 i.V.m. Nr. 1 UStR 1988/1992 niedergelegte Rechtsauffassung geändert und in dem BMF-Schreiben in BStBl I 1995, 831 eine Billigkeitsregelung erlassen.
Falls diese Billigkeitsregelung der Finanzverwaltung tatsächlich nur auf den Wechsel der Besteuerungsform für den gesamten Betrieb beschränkt sei und somit die Verwendungsänderung für einzelne Wirtschaftsgüter nicht erfasse —obwohl sich durch das BFH-Urteil in BFHE 173, 265, BStBl II 1994, 339 für beide Sachverhalte die Rechtslage gegenüber der überkommenen Verwaltungsauffassung geändert habe—, hätte er (der Kläger) einen Anspruch auf Gleichbehandlung, weil nach ständiger Rechtsprechung des BFH eine Übergangsregelung sämtliche Fälle erfassen müsse, die von einer Rechtsänderung, d.h. einer gegenüber der Verwaltungsauffassung verschärfenden Rechtsprechung, betroffen seien.
II.
Die Revision des FA ist begründet. Die Vorentscheidung ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
Das angefochtene Urteil verletzt § 102 FGO.
1. Nach § 163 AO 1977 können Steuern niedriger festgesetzt werden, wenn die Erhebung der Steuer nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Entscheidung über den Erlass von Steuern i.S. des § 163 AO 1977 ist eine Ermessensentscheidung (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFH/NV 1992, 787).
Soweit die Behörden ermächtigt sind, nach ihrem Ermessen zu entscheiden, hat sich die gerichtliche Prüfung darauf zu beschränken, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist (§ 102 FGO). Hat die Verwaltung —wie im Streitfall— in Ausfüllung des ihr zustehenden Ermessensspielraums Richtlinien erlassen, so haben die Gerichte grundsätzlich nur zu prüfen, ob sich die Behörden an die Richtlinien gehalten haben und ob die Richtlinien selbst einer sachgerechten Ermessensausübung entsprechen (vgl. z.B. , BFH/NV 2000, 691, m.w.N.). Dabei ist für die Auslegung einer Verwaltungsvorschrift nicht maßgeblich, wie das FG eine solche Verwaltungsanweisung versteht, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte. Das FG darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf prüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (vgl. z.B. , BFHE 208, 389, BStBl II 2005, 460, unter II.3., m.w.N.).
2. Bei Beachtung dieser Grundsätze hätte das FG der Klage nicht stattgeben dürfen. Entgegen seiner Auffassung sind die Absätze 3 und 5 des BMF-Schreibens in BStBl I 1995, 831 im Streitfall nicht anwendbar.
a) Das bezeichnete BMF-Schreiben trifft in Absatz 3 und 5 folgende Regelungen:
„(3) Der Übergang von der Regelbesteuerung zur Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG oder von der Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG zur Regelbesteuerung stellt eine Änderung der Verhältnisse hinsichtlich der Wirtschaftsgüter dar, deren Berichtigungszeitraum nach § 15a UStG noch nicht abgelaufen ist. Somit ist der Vorsteuerabzug für derartige bewegliche und unbewegliche Wirtschaftsgüter nach § 15a UStG zu berichtigen.
Beispiel 4:
Ein Landwirt, der nach § 24 Abs. 4 UStG zur Regelbesteuerung optiert hat, erwirbt Anfang Januar des Jahres 01 einen Mähdrescher für 200 000 DM zuzüglich 30 000 DM Umsatzsteuer. Ab dem Jahr 02 geht er zur Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG über.
Im Jahr 01 sind sämtliche Vorsteuern (30 000 DM) abziehbar. In den Jahren 02 bis 05 sind jeweils 6 000 DM (1/5 von 30 000 DM) nach § 15a UStG an das Finanzamt zurückzuzahlen.
Beispiel 5:
Ein Landwirt, der nach § 24 Abs. 4 UStG zur Regelbesteuerung optiert hat, errichtet ein Stallgebäude für 500 000 DM zuzüglich 75 000 DM Umsatzsteuer, das Anfang Januar des Jahres 01 erstmals verwendet wird. Ab dem Jahr 02 geht er zur Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG über.
Bis zum Jahr 01 sind sämtliche Vorsteuern (75 000 DM) abziehbar. In den Jahren 02 bis 10 sind jeweils 7 500 DM (1/10 von 75 000 DM) nach § 15a UStG an das Finanzamt zurückzuzahlen.
Beispiel 6:
Ein Landwirt, der die Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG anwendet, erwirbt im Januar des Jahres 01 einen Mähdrescher für 200 000 DM zuzüglich 30 000 DM Umsatzsteuer. Ab dem Jahr 02 optiert er nach § 24 Abs. 4 UStG zur Regelbesteuerung.
Im Jahr 01 entfällt der Vorsteuerabzug (§ 24 Abs. 1 Satz 4 UStG). In den Jahren 02 bis 05 erhält der Unternehmer eine Vorsteuererstattung nach § 15a UStG von jeweils 6 000 DM (1/5 von 30 000 DM).
Beispiel 7:
Ein Landwirt, der die Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG anwendet, errichtet ein Stallgebäude für 500 000 DM zuzüglich 75 000 DM Umsatzsteuer, das Anfang des Jahres 01 erstmals verwendet wird. In den Jahren 02 bis 10 optiert er nach § 24 Abs. 4 UStG zur Regelbesteuerung.
Bis zum Jahr 01 entfällt der Vorsteuerabzug (§ 24 Abs. 1 Satz 4 UStG). In den Jahren 02 bis 10 erhält der Unternehmer eine Vorsteuererstattung nach § 15a UStG von jeweils 7 500 DM (1/10 von 75 000 DM).
(4) ...
(5) Die Absätze 3 und 4 dieses Schreibens sind bei Wirtschaftsgütern anzuwenden, die nach dem erstmals verwendet werden.”
b) Aus den Beispielen 4 bis 7 —und auch aus dem Vergleich mit den übrigen in dem BMF-Schreiben getroffenen Regelungen und dort aufgeführten Beispielen— folgt, dass die Regelung in Absatz 3 nach dem Willen der Finanzverwaltung nur auf diejenigen Fälle angewendet werden sollte, in denen (lediglich) ein Übergang von der Regelbesteuerung zur Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG oder von der Durchschnittsatzbesteuerung nach § 24 UStG zur Regelbesteuerung vorliegt. Ein solcher Sachverhalt ist —entgegen der Auffassung des FG— vorliegend nicht gegeben.
Indem die Ehefrau des Klägers diesem unentgeltlich ihren Anteil an der GbR übertrug, wurde das bisherige Gesellschaftsvermögen durch Anwachsung Alleinvermögen des Klägers als dem übernehmenden Gesellschafter (vgl. , BFHE 132, 384, BStBl II 1981, 293; vom V R 135/89, BFH/NV 1994, 354; , BFH/NV 1994, 355). Zu diesem Zeitpunkt hatte der Kläger zwei Unternehmensteile. Indem er sich entschloss, das landwirtschaftliche Lohnunternehmen nicht fortzuführen, sondern das Anlagevermögen in seinen land- und forstwirtschaftlichen Betrieb zu überführen und dort zu nutzen, hat er nicht lediglich die Besteuerungsform gewechselt. Die Absätze 3 und 5 des BMF-Schreibens in BStBl I 1995, 831 sind damit nicht einschlägig.
c) Die Einwendungen des Klägers rechtfertigen kein anderes Ergebnis.
Es ist unerheblich, wie die Praxis der Finanzverwaltung vor Ergehen des BFH-Urteils in BFHE 132, 384, BStBl II 1981, 293 war und ob die Regelung in Absatz 3 des BMF-Schreibens in BStBl I 1995, 831 veranlasst war. Denn die dort in Verbindung mit Absatz 5 des BMF-Schreibens getroffene Billigkeitsregelung erfasst —wie dargelegt— nach der insoweit maßgebenden Auffassung der Finanzverwaltung den vorliegenden Sachverhalt nicht.
Eine Ausdehnung dieser Regelung auf den im Streitfall gegebenen Sachverhalt vermag auch der Anspruch auf Gleichbehandlung (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes) nicht zu rechtfertigen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2006 II Seite 466
AO-StB 2006 S. 88 Nr. 4
AO-StB 2006 S. 88 Nr. 4
BB 2006 S. 706 Nr. 13
BB 2006 S. 760 Nr. 14
BFH/NV 2006 S. 1014 Nr. 5
BStBl II 2006 S. 466 Nr. 10
BStBl II 2006 S. 466 Nr. 10
DB 2006 S. 934 Nr. 17
DStR 2006 S. 511 Nr. 12
DStRE 2006 S. 511 Nr. 8
DStZ 2006 S. 247 Nr. 8
GStB 2006 S. 13 Nr. 4
HFR 2006 S. 482 Nr. 5
INF 2006 S. 331 Nr. 9
KÖSDI 2006 S. 15036 Nr. 4
NJW 2006 S. 3024 Nr. 41
NWB-Eilnachricht Nr. 12/2006 S. 921
SJ 2006 S. 12 Nr. 10
StB 2006 S. 163 Nr. 5
StBW 2006 S. 5 Nr. 7
StuB-Bilanzreport Nr. 23/2006 S. 940
UR 2006 S. 294 Nr. 5
UVR 2006 S. 131 Nr. 5
OAAAB-79665