EuGH Urteil v. - C-404/99

Einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage hinsichtlich der Besteuerung von Trinkgeldern im Dienstleistungsbereich

Leitsatz

[1]

Ein Mitgliedstaat, der unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt, dass die Preisaufschläge, die bestimmte Steuerpflichtige als Entgelt für die Bedienung in Rechnung stellen (Bedienungszuschläge"), von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden, verstößt gegen seine Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Nummer 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern.

Der Gesamtbetrag, der dem Kunden in Rechnung gestellt wird, stellt insgesamt die Gegenleistung für die Dienstleistung dar, die der Dienstleistende dem Kunden erbracht hat. Diese Gegenleistung, die den Bedienungszuschlag umfasst, wird per definitionem in Geld ausgedrückt.

( vgl. Randnrn. 39, 52 und Tenor )

Gesetze: Richtlinie 77/388 Art. 2 Nr. 1 ; Richtlinie 77/388 Art. 11 Teil A Abs. 1 Buchst. a

Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),

Gründe

1 Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) verstoßen hat, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt hat, dass die Bedienungszuschläge", die bestimmte Steuerpflichtige in Rechnung stellen, von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden.

Gemeinschaftsrecht

2 Artikel 2 Nr. 1 der Sechsten Richtlinie sieht vor:

"Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt..."

3 Artikel 11 Teil A Absätze 1 Buchstabe a und 3 der Sechsten Richtlinie bestimmt:

"(1) Die Besteuerungsgrundlage ist:

a) bei Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die nicht unter den Buchstaben b), c) und d) genannt sind, alles, was den Wert der Gegenleistung bildet, die der Lieferer oder Dienstleistende für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen;

...

(3) In die Besteuerungsgrundlage sind nicht einzubeziehen:

a) die Preisnachlässe durch Skonto für Vorauszahlungen;

b) die Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis, die dem Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger eingeräumt werden und die er zu dem Zeitpunkt erhält, zu dem der Umsatz bewirkt wird;

c) die Beträge, die ein Steuerpflichtiger von seinem Abnehmer oder dem Empfänger seiner Dienstleistung als Erstattung der in ihrem Namen und für ihre Rechnung verauslagten Beträge erhält und die in seiner Buchführung als durchlaufende Posten behandelt sind. Der Steuerpflichtige muss den tatsächlichen Betrag dieser Auslagen nachweisen und kann keinen Vorsteuerabzug für die Steuer vornehmen, die auf diese gegebenenfalls erhoben worden ist."

Nationales Recht und nationale Verwaltungspraxis

4 Das in den Randnummern 2 und 3 dieses Urteils zitierte Gemeinschaftsrecht ist durch die Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a und 267-I des Code général des impôts (Abgabenordnung) in französisches Recht umgesetzt worden.

5 Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a des Code général des impôts bestimmt:

"Besteuerungsgrundlage sind:

a) bei Lieferungen von Gegenständen, bei Dienstleistungen und beim innergemeinschaftlichen Erwerb sämtliche Beträge, Werte, Gegenstände oder Dienstleistungen, die der Lieferer oder Dienstleistende als Gegenleistung für diese Umsätze vom Abnehmer oder Dienstleistungsempfänger oder von einem Dritten erhält oder erhalten soll, einschließlich der unmittelbar mit dem Preis dieser Umsätze zusammenhängenden Subventionen..."

6 Artikel 267-I des Code général des impôts lautet:

"In die Besteuerungsgrundlage sind einzubeziehen:

1. die Steuern, Abgaben, Zölle und Abschöpfungen aller Art mit Ausnahme der Mehrwertsteuer selbst;

2. die Nebenkosten der Lieferungen von Gegenständen oder Dienstleistungen wie Provisionen, Zinsen, Verpackungs-, Beförderungs- und Versicherungskosten, die den Kunden in Rechnung gestellt werden."

7 Die vorliegende Vertragsverletzungsklage betrifft die Erhebung von Mehrwertsteuer auf Trinkgelder oder Bedienungszuschläge, d. h. die Preisaufschläge, die in dem dem Kunden in Rechnung gestellten Gesamtpreis enthalten sind und gewöhnlich vom Kunden in einer Reihe von Einrichtungen als Entgelt für die Bedienung" entrichtet werden (im Folgenden: Bedienungszuschlag). Der Bedienungszuschlag unterscheidet sich von Belohnungen oder freiwilligen Trinkgeldern, die der Kunde den Beschäftigen zusätzlich zu diesem Zuschlag spontan und direkt zahlt, um seiner Zufriedenheit Ausdruck zu verleihen.

8 Im französischen Recht ist Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer bei Dienstleistungen grundsätzlich der Gesamtpreis einschließlich der Bedienungszuschläge, den der Kunde als Gegenleistung für die ihm erbrachten Leistungen zahlt. So heißt es in einem im Bulletin officiel de la direction générale des impôts (BOGDI 3 B-4-76) erschienenen Text, der in den Leitlinien" (Datum vom , DB 3 B-1123, Nr. 31) abgedruckt wurde, die von der Direction générale des impôts (Generaldirektion für Steuern) veröffentlicht werden und der die Steuerpflichtigen den Umfang ihrer Steuerpflichten entnehmen können:

"Nach ständiger Rechtsauffassung der Verwaltung sind die Preisaufschläge, die gewerbliche Unternehmen (Hotels, Restaurants, Cafés, Brasserien, Bars, Teestuben, Friseursalons, Kliniken, Thermalanstalten, Transport- oder Umzugsunternehmen, Erholungs- oder Altersheime, Casinos, Unternehmen, die Produkte aller Art ins Haus liefern) den Kunden als Trinkgeld in Rechnung stellen, ein Teil des Preises, der der Mehrwertsteuer unterliegt."

9 Nach denselben Leitlinien können jedoch aufgrund einer behördlichen Vergünstigung, die seit 1923 von der französischen Verwaltung angewandt wird und durch eine Verwaltungsanordnung vom (DB 3 B-1123, Nr. 32, im Folgenden: Verwaltungsanordnung von 1976) bestätigt wurde, Bedienungszuschläge von der Besteuerungsgrundlage für die vom Arbeitgeber gezahlte Umsatzsteuer - der Vorgängerin der Mehrwertsteuer in Frankreich - ausgenommen werden. Damit die Vergünstigung Anwendung findet, sind vier Voraussetzungen zu erfuellen:

"- Der Kunde muss im Voraus darüber informiert worden sein, dass und in welcher prozentualen Höhe ein Betrag mit dem Wesen eines Bedienungszuschlags erhoben wird, der zu dem Preis Bedienung nicht inbegriffen" hinzukommt;

- die Einnahmen aus dieser Erhebung sind in voller Höhe zwischen dem Bedienungspersonal aufzuteilen;

- die Zahlung an das Personal ist durch Führung eines von jedem Begünstigten oder zumindest von einem Personalvertreter abgezeichneten speziellen Registers nachzuweisen;

- der Arbeitgeber hat in der jährlichen Erklärung der Arbeitslöhne den Betrag des von seinem Personal auf diese Weise tatsächlich erhaltenen Entgelts anzugeben."

Vorverfahren

10 Die Kommission war der Auffassung, dass die Befreiung des Bedienungszuschlags von der Mehrwertsteuer durch die mit der Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigte behördliche Vergünstigung gegen die Artikel 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie verstieß. Sie teilte das der französischen Regierung mit Schreiben vom mit und forderte diese auf, sich binnen zwei Monaten nach Eingang des Schreibens zu äußern.

11 Da die Kommission keine Antwort erhielt, sandte sie der Französischen Republik am eine mit Gründen versehene Stellungnahme mit der Aufforderung, alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Stellungnahme binnen zwei Monaten nachzukommen.

12 Die französische Regierung beantwortete diese mit Gründen versehene Stellungnahme nicht. Die Kommission hielt daher die Voraussetzungen des Artikels 226 Absatz 2 EG für eine Anrufung des Gerichthofes für erfuellt. Sie hat die vorliegende Klage gegen die Französische Republik erhoben.

Begründetheit

Parteivorbringen

13 Die Kommission trägt in ihrer Klageschrift vor, dass zwar die Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a und 267-I des Code général des impôts die Artikel 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ordnungsgemäß umsetzten, die durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigte behördliche Vergünstigung aber eine Befreiung von der Mehrwertsteuer aufrechterhalte, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße.

14 Zunächst ergebe sich aus ständiger Rechtsprechung (Urteil vom in der Rechtssache C-16/93, Tolsma, Slg. 1994, I-743, Randnr. 13, und dort zitierte Rechtsprechung), dass die Besteuerungsgrundlage einer Dienstleistung alles sei, was als Gegenleistung für den geleisteten Dienst empfangen werde, und dass die in Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie definierte Besteuerungsgrundlage die tatsächlich erhaltene Gegenleistung sei.

15 Der Bedienungszuschlag sei aber unbestreitbar Bestandteil des Gesamtpreises, den der Kunde als Gegenleistung für die vom Dienstleistenden erbrachte Dienstleistung zahle. Somit sei es dieser Gesamtpreis einschließlich des Bedienungszuschlags, der die tatsächlich erhaltene Gegenleistung" darstelle, die nach der erwähnten Rechtsprechung der Mehrwertsteuer unterliege.

16 Ihre Klage betreffe ausschließlich den Bedienungszuschlag, zu dessen Zahlung der Kunde verpflichtet sei und dessen Höhe im Voraus festgesetzt werde, nicht aber das Trinkgeld, das der Kunde dem einen oder anderen Beschäftigten spontan und nach seinem Belieben gebe. Dieses - vollkommen freiwillige - Trinkgeld sei insofern mit einer Vergütung vergleichbar, die Passanten einem Drehorgelspieler zahlten, als es sich dabei ebenfalls um eine vom Zufall abhängige Zahlung aus völlig freien Stücken handele, deren Höhe sich praktisch nicht bestimmen lasse und die nach dem Urteil Tolsma (Randnr. 19) nicht der Mehrwertsteuer unterliege.

17 Sodann sei Artikel 11 Teil A Absatz 3 die einzige Bestimmung der Sechsten Richtlinie, nach der Beträge von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden könnten. Die durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigte behördliche Vergünstigung, die von den Regeln der Artikel 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie abweiche, entspreche keinem der in Artikel 11 Teil A Absatz 3 dieser Richtlinie genannten Fälle. Die französischen Steuerbehörden dürften daher Dienstleistenden nicht gestatten, die als Bedienungszuschlag eingenommenen Beträge von ihrer Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer auszunehmen.

18 Schließlich verletze die Anwendung der durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigten behördlichen Vergünstigung den Grundsatz der Neutralität des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems. Diese Neutralität, eine Wettbewerbsneutralität (Urteil vom in der Rechtssache 126/78, Nederlandse Spoorwegen, Slg. 1979, 2041, Randnr. 7), verlange, dass gleichartige Waren oder Dienstleistungen in allen Ländern steuerlich gleich belastet würden.

19 Der Grundsatz der steuerlichen Neutralität verbiete es, dass Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirkten, bei deren Besteuerung unterschiedlich behandelt würden (Urteil vom in der Rechtssache C-216/97, Gregg, Slg. 1999, I-4947, Randnr. 20).

20 Die Befreiung von der Mehrwertsteuer, die sich aus der Anwendung der durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigten behördlichen Vergünstigung ergebe, verzerre den Wettbewerb zwischen Dienstleistenden, die einen Bedienungszuschlag in Rechnung stellten. So werde eine von zwei konkurrierenden Dienstleistenden erbrachte vollkommen gleiche Dienstleistung unterschiedlich besteuert, wenn nur einer von ihnen die Voraussetzungen erfuelle, von denen die Verwaltung es abhängig mache, ob der Zuschlag in die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer einbezogen werde.

21 Diese Wettbewerbsverzerrung hänge damit zusammen, dass die Voraussetzungen, von denen die französische Regierung die Anwendung der Ausnahmeregelung abhängig mache, rein formal seien. Diesen Voraussetzungen fehle jegliche Rechtsgrundlage; sie seien mit dem Hauptkriterium für die Festsetzung der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer, nämlich der vom Dienstleistenden tatsächlich erhaltenen Gegenleistung, unvereinbar.

22 Die französische Regierung entgegnet in ihrer Klagebeantwortung erstens, dass die Kommission in Nummer 7 ihrer Klageschrift einräume, dass Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a des Code général des impôts die Artikel 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie ordnungsgemäß umsetze. Dass Bedienungszuschläge von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen würden, sei keine Regel, die Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a des Code général des impôts abändere, sondern eine bloße behördliche Vergünstigung, die den Unternehmen angeboten werde.

23 Folglich sei bei den Umsätzen von Unternehmen grundsätzlich der gesamte von den Kunden gezahlte Preis die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer, doch sei bei einigen Unternehmen zugelassen worden, dass das Entgelt für die Bedienung nicht der Mehrwertsteuer unterworfen werde.

24 Diese Vergünstigung gehe auf eine Ministerialentscheidung vom zurück. Der Zweck der Vergünstigung werde durch ihren historischen Kontext verständlich. Die Befreiung der Trinkgelder von der Umsatzsteuer sei zu einer Zeit beschlossen worden, als das Entgelt des Bedienungspersonals hauptsächlich aus den von den Kunden gezahlten Trinkgeldern bestanden habe. Dieses Personal habe zwar gelegentlich einen geringen Festlohn erhalten, meistens aber insbesondere im Gaststätten- und Friseurgewerbe keine Lohngarantie gehabt. Daher habe die französische Verwaltung sicherstellen wollen, dass die Arbeitnehmer, wenn die Trinkgelder ihnen nicht unmittelbar gezahlt worden seien, tatsächlich sämtliche vom Arbeitgeber zu ihren Gunsten empfangenen Beträge erhielten.

25 Die durch einen Runderlass vom geänderte Ministerialentscheidung vom habe somit dem Schutz der Arbeitnehmerinteressen gedient. Nach diesen Bestimmungen seien Dienstleistende, die sich verpflichtet hätten, sämtliche von den Kunden gezahlten Beträge an ihre Arbeitnehmer weiterzuleiten, nicht besteuert worden, um sicherzustellen, dass sie nicht von den von ihnen eingenommenen Trinkgeldern den der Steuerlast entsprechenden Teil abzögen, bevor sie sie an ihre Arbeitnehmer weiterleiteten.

26 Diese behördliche Vergünstigung sei in der Folge Gegenstand einer Ministerialentscheidung vom gewesen, die in der Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigt und kommentiert worden sei. Sie hänge von vier Voraussetzungen ab, wodurch ihre Anwendung auf die Fälle beschränkt sei, in denen der Arbeitgeber sämtliche als Bedienungszuschlag gezahlten Trinkgelder zwischen dem Bedienungspersonal aufteile; unter Berufung auf diese Voraussetzungen könnten Anträge auf eine Erweiterung der Vergünstigung abgelehnt werden, die wiederholt von Dienstleistenden gestellt worden seien, die kein Bedienungspersonal beschäftigten, weil sie z. B. keine Tischbedienung hätten.

27 Aufgrund dieser Voraussetzungen könnten also nur die Dienstleistenden, die Bedienungspersonal beschäftigten, das durch einen Bedienungszuschlag entlohnt werde, der in dem vom Kunden entrichteten Preis enthalten sei - hauptsächlich Restaurants und Friseursalons -, von dieser Vergünstigung tatsächlich Gebrauch machen.

28 Zweitens verletze die Beibehaltung einer Befreiung der Bedienungszuschläge von der Mehrwertsteuer, die gegen die Sechste Richtlinie verstoße, den Grundsatz der Neutralität der Mehrwertsteuer nicht dadurch, dass Verzerrungen des Wettbewerbs zwischen den Dienstleistenden verursacht würden.

29 Dass Bedienungszuschläge von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden könnten, sei, wie bereits gesagt, keine Regel, sondern eine bloße behördliche Vergünstigung, die den Unternehmen angeboten werde. Dass nicht alle Dienstleistenden von dieser Maßnahme Gebrauch machten, beeinträchtige nicht den Wettbewerb. Zum einen wollten nämlich nicht alle Dienstleistenden von dieser Vergünstigung Gebrauch machen; zum anderen übten diejenigen, die von ihr keinen Gebrauch machen könnten, ihre Tätigkeit von vornherein unter anderen Bedingungen aus.

30 Somit sei die Klage der Kommission unbegründet.

31 In ihrer Erwiderung hält die Kommission ihr Klagevorbringen in vollem Umfang aufrecht. Zunächst sei das Vorbringen der französischen Regierung im Wesentlichen eine Darstellung der Entwicklung der französischen Regelung betreffend die Zahlung von Trinkgeldern und enthalte keine Ausführungen zu der vorgeworfenen Vertragsverletzung.

32 Sodann seien die in der Verwaltungsanordnung von 1976 enthaltenen Voraussetzungen für die Befreiung von der Mehrwertsteuer, selbst wenn sie sich entsprechend dem Vorbringen der französischen Regierung aus dem historischen Kontext erklären ließen, für das Mehrwertsteuerrecht der Gemeinschaft irrelevant. Auch dem Vorbringen der französischen Regierung, aufgrund dieser Voraussetzungen könnten Anträge auf eine Erweiterung der behördlichen Vergünstigung abgelehnt werden, könne nicht gefolgt werden. Wenn diese Voraussetzungen es auch erlaubten, den Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht einzugrenzen, sei doch der Verstoß selbst nicht abgestellt.

33 Schließlich habe die französische Regierung in Wirklichkeit selbst eingeräumt, dass die Verwaltungspraxis eine Vergünstigung sei, die gegen die nationalen Vorschriften zur Umsetzung der Sechsten Richtlinie verstoße. Wenn die französische Regierung mit Genugtuung feststelle, dass die Artikel 266 Absatz 1 Buchstabe a und 267-I des Code général des impôts nach Auffassung der Kommission die Sechste Richtlinie ordnungsgemäß umsetzten, müsse sie zwangsläufig zu dem Schluss gelangen, dass die fragliche Vergünstigung, die gegen den Wortlaut des Code verstoße, auch gegen das Gemeinschaftsrecht verstoße.

34 In ihrer Gegenerwiderung wiederholt die französische Regierung, dass der historische Kontext heranzuziehen sei, um zu verstehen, welchem Zweck die Befreiung der Bedienungszuschläge von der Mehrwertsteuer diene, nämlich dem Schutz der Interessen bestimmter Arbeitnehmer. Noch heute werde trotz der Einführung eines Mindestlohns die Vergütung des Bedienungspersonals im Gaststätten- und Friseurgewerbe zum Teil durch Bedienungszuschläge sichergestellt.

35 Würde somit die behördliche Vergünstigung aufgehoben, durch die die Bedienungszuschläge von der Mehrwertsteuer befreit würden, so bestuende die Gefahr, dass die Praxis freiwilliger Trinkgelder gefördert würde, was das Bedienungspersonal insbesondere in den Bereichen benachteiligen würde, in denen die Angabe des Preises Bedienung inbegriffen" nicht vorgeschrieben sei.

36 Bezüglich der eigentlichen Befreiung bestreitet die französische Regierung nicht, dass, wie die Kommission in ihrer Erwiderung geltend gemacht hat, die in der Verwaltungsanordnung von 1976 für die Befreiung von der Mehrwertsteuer vorgesehenen Voraussetzungen für das Gemeinschaftsrecht irrelevant seien. Sie macht lediglich geltend, dass der Umfang der Befreiung aufgrund dieser Voraussetzungen eingegrenzt sei.

37 Eine vom Ministerium für Wirtschaft, Finanzen und Industrie geleitete Untersuchung zur Anwendung dieser behördlichen Vergünstigung habe ergeben, dass im Gaststättengewerbe nur noch einige Dienstleistende, hauptsächlich Brasserien, die zahlreiche Arbeitskräfte beschäftigten, von der Vergünstigung Gebrauch machten.

Würdigung durch den Gerichtshof

38 Die Gegenleistung, die der Dienstleistende für eine Dienstleistung erhält oder erhalten soll und die nach Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie die Besteuerungsgrundlage bei diesem Umsatz bildet, ist nach ständiger Rechtsprechung als tatsächlich für die Dienstleistung erhaltene Gegenleistung zu verstehen, die einen subjektiven, vereinbarten und nicht einen nach objektiven Kriterien geschätzten Wert darstellt (vgl. Urteil vom in der Rechtssache C-258/95, Fillibeck, Slg. 1997, I-5577, Randnr. 13, und dort zitierte Rechtsprechung). Nach derselben Rechtsprechung muss diese Gegenleistung in Geld ausgedrückt werden können (vgl. Urteil Fillibeck, Randnr. 14, und zitierte Rechtsprechung).

39 Wie der Generalanwalt in den Nummern 36 bis 40 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, stellt in den von der Verwaltungsanordnung von 1976 erfassten Betrieben der Gesamtbetrag, der dem Kunden in Rechnung gestellt wird, insgesamt die Gegenleistung für die Dienstleistung dar, die der Dienstleistende dem Kunden erbracht hat. Diese Gegenleistung, die den Bedienungszuschlag umfasst, wird per definitionem in Geld ausgedrückt.

40 Des Weiteren ist Artikel 11 Teil A Absatz 3 die einzige Bestimmung der Sechsten Richtlinie, nach der Beträge von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden können. Nach dieser Bestimmung sind in die Besteuerungsgrundlage unter bestimmten Voraussetzungen nicht einzubeziehen die Preisnachlässe durch Skonto für Vorauszahlungen, die Rabatte und Rückvergütungen auf den Preis sowie die Beträge, die ein Steuerpflichtiger von seinem Abnehmer oder dem Empfänger seiner Dienstleistung als Erstattung der in ihrem Namen und für ihre Rechnung verauslagten Beträge erhält.

41 Die Befreiung von der Mehrwertsteuer, die die französischen Steuerbehörden im Rahmen der durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigten behördlichen Vergünstigung zulassen und die von den Regeln der Artikel 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie abweicht, entspricht keinem der in Artikel 11 Teil A Absatz 3 dieser Richtlinie genannten Fälle.

42 Folglich ist der in Prozenten ausgedrückte Bedienungszuschlag in die Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer der Dienstleistenden einzubeziehen; es darf Dienstleistenden nicht angeboten werden, diese Zuschläge von ihrer Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer auszunehmen.

43 Dabei sind die von den französischen Steuerbehörden für die Befreiung von der Mehrwertsteuer aufgestellten Voraussetzungen irrelevant. Für die Anwendung der Mehrwertsteuer ist es nämlich ohne Belang, ob die Kunden über den Bedienungszuschlag und seine prozentuale Höhe informiert wurden, ob die Beträge in voller Höhe zwischen dem Bedienungspersonal aufgeteilt werden, ob die Zahlungen in einem von jedem Begünstigen abgezeichneten speziellen Register vermerkt sind oder ob der Arbeitgeber in der jährlichen Erklärung der Arbeitslöhne den Betrag des von seinem Personal auf diese Weise tatsächlich erhaltenen Entgelts angibt.

44 Artikel 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie steht daher der Anwendung der Methode für die Berechnung der Besteuerungsgrundlage entgegen, die durch in der Verwaltungsanordnung vom 1976 bestätigte Verwaltungspraxis zugelassen wurde.

45 Somit ist der vorliegenden Klage stattzugegeben. Im Übrigen verbietet der Grundsatz der steuerlichen Neutralität, auf den sich die Kommission ebenfalls bezogen hat, nach ständiger Rechtsprechung, dass Wirtschaftsteilnehmer, die die gleichen Umsätze bewirken, bei deren Besteuerung unterschiedlich behandelt werden (Urteil Gregg, Randnr. 20).

46 Dieser Grundsatz ist folglich verletzt, da aufgrund der Verwaltungsanordnung von 1976 von Wirtschaftsteilnehmern, die die gleiche Dienstleistung zum gleichen Gesamtpreis erbringen, dann, wenn sie in ihrer Rechnung angeben, dass sie einen Bedienungszuschlag erheben, andere Mehrwertsteuerbeträge erhoben werden können, als wenn sie dies nicht tun: Die Besteuerungsgrundlage ist in den beiden Fällen eine andere, obwohl sowohl die Leistung als auch die Gegenleistung vollkommen gleich sind.

47 Die durch die Verwaltungsanordnung von 1976 bestätigte behördliche Vergünstigung verletzt daher den Grundsatz der steuerlichen Neutralität und führt zu einer Wettbewerbsverzerrung.

48 Schließlich kann den Argumenten, die die französische Regierung zur Verteidigung dieser behördlichen Vergünstigung vorbringt, nicht gefolgt werden.

49 So sind die Angaben zum historischen und zum politischen Kontext sowie zum sozialen Zweck der Befreiung des Bedienungszuschlags von der Mehrwertsteuer für die Beurteilung der Vereinbarkeit der fraglichen Vergünstigung mit der Sechsten Richtlinie irrelevant.

50 Desgleichen ist das Vorbringen zurückzuweisen, mit dem aufgezeigt werden soll, dass die unter Verstoß gegen die Sechste Richtlinie gewährte Befreiung von der Mehrwertsteuer einen beschränkten Umfang hat.

51 Nach ständiger Rechtsprechung ist nämlich das Vertragsverletzungsverfahren ein objektives Verfahren (Urteile vom in der Rechtssache 415/85, Kommission/Irland, 3097, Randnr. 9, und vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-209/89, Kommission/Italien, Slg. 1991, I-1575, Randnr. 6). Folglich ist der Verstoß gegen die Verpflichtungen, die den Mitgliedstaaten nach dem EG-Vertrag oder dem abgeleiteten Recht obliegen, unabhängig vom Umfang oder von der Häufigkeit der beanstandeten Situationen (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission/Italien, Randnr. 19, und Urteil vom in der Rechtssache C-105/91, Kommission/Griechenland, Slg. 1992, I-5871, Randnr. 20).

52 Somit ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 2 Nr. 1 und 11 Teil A Absatz 1 Buchstabe a der Sechsten Richtlinie verstoßen hat, dass sie unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt hat, dass die Preisaufschläge, die bestimmte Steuerpflichtige als Entgelt für die Bedienung in Rechnung stellen (Bedienungszuschläge"), von der Besteuerungsgrundlage für die Mehrwertsteuer ausgenommen werden.

Kostenentscheidung:

Kosten

53 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission die Verurteilung der Französischen Republik beantragt hat und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind der Französischen Republik die Kosten aufzuerlegen.

Fundstelle(n):
BFH/NV-Beilage 2001 S. 138 Nr. 2
QAAAB-79446

1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg