Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge, Frist von 90 Tagen, Effektivitätsgrundsatz
Leitsatz
[1] Es verstößt nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts, wenn für den Antrag auf Erstattung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgabe eine Ausschlussfrist von 90 Tagen nach Ablauf der Frist für die freiwillige Zahlung dieser Abgabe festgesetzt wird.
Gesetze: Richtlinie 69/335/EWG Art. 10 Buchst c; Richtlinie 69/335/EWG Art. 12 Abs. 1 Buchst. e
Gründe
1. Das Tribunal Tributário de Primeira Instância Lissabon hat mit Beschluss vom , der am beim Gerichtshof eingegangen ist, gemäß Artikel 234 EG drei Fragen nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet der Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2. Diese Fragen stellten sich in einem Rechtsstreit zwischen der Recheio - Cash & Carry SA (im Folgenden: Recheio) und der Fazenda Pública/Registo Nacional de Pessoas Colectivas (Finanzverwaltung/Nationales Register für juristische Personen) wegen der Erstattung von Registereintragungsgebühren, die Recheio nach Artikel 3 Absatz 4 der durch die Portaria Nr. 366/89 vom (Diário da República I, Serie A, Nr. 117 vom ) eingeführten Gebührentabelle des Nationalen Registers für juristische Personen gezahlt hatte.
Ausgangsverfahren und rechtlicher Rahmen
3. Mit am in Lissabon erstellter notarieller Urkunde nahm die Recheio eine Erhöhung ihres Gesellschaftskapital von 100 000 000 PTE auf 1 000 000 000 PTE vor.
4. Am ließ sie diese Kapitalerhöhung in das Nationale Register für juristische Personen eintragen. Am selben Tag zahlte sie die von ihr nach Artikel 3 Absatz 4 der Gebührentabelle des Nationalen Registers für juristische Personen geforderten Registereintragungsgebühren in Höhe von 2 251 000 PTE.
5. Am erhob die Recheio beim Tribunal Tributário de Primeira Instância Lissabon Klage auf Feststellung eines Anspruchs auf Erstattung von 2 250 000 PTE. Sie machte geltend, die Gebührenerhebung verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht, und zwar gegen die Artikel 10 Buchstabe c und 12 Absatz 1 Buchstabe e der Richtlinie 69/335/EWG des Rates vom betreffend die indirekten Steuern auf die Ansammlung von Kapital (ABl. L 249, S. 25).
6. Die Recheio stützte diesen Antrag auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach Gebühren für die Eintragung der Erhöhung des Kapitals einer Kapitalgesellschaft in das Nationale Register für juristische Personen nach Artikel 10 Buchstabe c der Richtlinie grundsätzlich verboten sind, wenn sie eine Steuer im Sinne der Richtlinie 69/335 darstellen (vgl. u. a. Urteile vom in der Rechtssache C-56/98, Modelo, Slg. 1999, I-6427, und vom in der Rechtssache C-134/99, IGI, Slg. 2000, I-7717, Randnr. 25).
7. Das Tribunal Tributário de Primeira Instância deutete die Klage der Recheio in eine Anfechtungsklage um. Es war der Ansicht, die Klage hätte nach Artikel 123 des durch das Decreto-Lei Nr. 154/91 vom (Diário da República I, Serie A, Nr. 94 vom ) eingeführten Código de Processo Tributário (Steuerverfahrensordnung; im Folgenden: CPT), dem nun Artikel 102 des durch das Decreto-Lei Nr. 433/99 vom (Diário da República I, Serie A, Nr. 250 vom 26. Oktober 1999) eingeführten und durch das Gesetz Nr. 15/2001 vom (Diário da República I , Serie A, Nr. 130 vom ) geänderten Código de Procedimento e Processo Tributário (Gesetz über das Steuerverfahren und den Steuerprozess; im Folgenden: CPPT) entspreche, innerhalb einer Frist von 90 Tagen nach Ablauf der für die freiwillige Zahlung der Abgaben gesetzten Frist erhoben werden müssen.
8. Es führte aus, die Frist von 90 Tagen für die Erhebung einer Anfechtungsklage dürfe nicht ungünstiger sein als die Fristen, die bei Erstattungsklagen auf der Grundlage des nationalen Rechts zu beachten seien, und dürfe die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
9. Es stellte fest, dass die streitige Frist für alle Steuererhebungsmaßnahmen gelte, ob sie nun auf das Gemeinschaftsrecht oder auf das nationale Recht gestützt seien.
10. Vor diesem Hintergrund hat das Tribunal Tributário de Primeira Instância Lissabon beschlossen, dass Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Ist es einem Mitgliedstaat nach dem Gemeinschaftsrecht verwehrt, für Klagen auf Erstattung von unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgaben eine Ausschlussfrist von 90 Tagen nach Ablauf der Frist für die freiwillige Zahlung festzulegen, weil damit die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs übermäßig erschwert wird?
2. Bejahendenfalls: Welches ist die kürzeste Frist, die als vereinbar mit diesem Verbot der übermäßigen Erschwerung anzusehen ist?
3. Oder nach welchen Kriterien ist sie zu bestimmen?
Zum Antrag auf Wiedereröffnung des Verfahrens
11. Mit Antrag, der am bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, hat die Recheio im Anschluss an die Schlussanträge des Generalanwalts die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung beantragt. Die Recheio macht geltend, der Generalanwalt habe seine Schlussanträge auf eine offensichtlich falsche Auslegung des portugiesischen Rechts gestützt, nach der die fragliche Ausschlussfrist nicht 90 Tage, sondern fünfeinhalb Monate betrage.
12. Der Gerichtshof kann gemäß Artikel 61 seiner Verfahrensordnung die mündliche Verhandlung von Amts wegen, auf Vorschlag des Generalanwalts oder auch auf Antrag der Parteien wiedereröffnen, wenn er sich für unzureichend unterrichtet hält oder ein zwischen den Parteien nicht erörtertes Vorbringen für entscheidungserheblich erachtet (vgl. u. a. Urteile vom 18. Juni 2002 in der Rechtssache C-299/99, Philips, Slg. 2002, I-5475, Randnr. 20, vom in der Rechtssache C-184/01 P, Hirschfeldt/AEE, Slg. 2002, I-10173, Randnr. 30, und vom in der Rechtssache C-209/01, Schilling und Fleck-Schilling, Slg. 2003, I-0000, Randnr. 19).
13. Da in der vorliegenden Rechtssache keine dieser beiden Fallkonstellationen gegeben ist, ist der Gerichtshof der Ansicht, dass die mündliche Verhandlung nicht wiederzueröffnen ist. Der Antrag auf Wiedereröffnung ist somit zurückzuweisen.
Zu den Vorlagefragen
14. Das vorlegende Gericht möchte mit seinen Fragen, die zusammen zu prüfen sind, im Wesentlichen wissen, ob es gegen den Grundsatz der Effektivität des Gemeinschaftsrechts verstößt, wenn für den Antrag auf Erstattung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgabe eine Ausschlussfrist von 90 Tagen nach Ablauf der Frist für die freiwillige Zahlung dieser Abgabe festgesetzt wird.
15. Die Mitgliedstaaten sind grundsätzlich verpflichtet, unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobene Abgaben zu erstatten (vgl. Urteil vom in den Rechtssachen C-192/95 bis C218/95, Comateb u. a., Slg. 1997, I165, Randnr. 20).
16. Der Gerichtshof hat in dieser Hinsicht ferner wiederholt darauf hingewiesen, dass die Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben in den einzelnen Mitgliedstaaten und sogar innerhalb desselben Mitgliedstaats je nach der Art der Abgaben unterschiedlich geregelt ist. In einigen Fällen bestehen für die Anfechtung der Abgabenerhebung oder für Erstattungsforderungen gesetzliche Form- und Fristvorschriften sowohl für bei der Finanzverwaltung einzulegende Rechtsbehelfe als auch für Klagen. In anderen Fällen sind Klagen auf Erstattung zu Unrecht gezahlter Abgaben bei den ordentlichen Gerichten - insbesondere als Klagen auf Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung - zu erheben, wobei die Fristen für die Erhebung dieser Klagen unterschiedlich lang sind und in manchen Fällen der allgemeinen Verjährungsfrist entsprechen (vgl. u. a. Urteil vom in der Rechtssache C-343/96, Dilexport, Slg. 1999, I-579, Randnr. 24).
17. Diese Unterschiedlichkeit der nationalen Regelungen rührt u. a. daher, dass es keine Gemeinschaftsregelung über die Erstattung rechtsgrundlos erhobener nationaler Abgaben gibt. Die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung von Verfahren, die den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, ist daher Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, wobei diese Verfahren nicht weniger günstig gestaltet werden dürfen als bei entsprechenden Klagen, die nur innerstaatliches Recht betreffen (Äquivalenzgrundsatz), und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren dürfen (Effektivitätsgrundsatz) (vgl. u. a. Urteil vom in der Rechtssache C-231/96, Edis, Slg. 1998, I-4951, Randnr. 34).
18. Zum Effektivitätsgrundsatz hat der Gerichtshof entschieden, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit, die zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt, mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist (Urteil Edis, Randnr. 35).
19. Im vorliegenden Fall sieht Artikel 123 CPT, der durch Artikel 102 Absatz 1 Buchstabe a CPPT ersetzt wurde, für die Erhebung einer Klage zur Anfechtung einer Maßnahme, mit der eine Abgabe festgesetzt wurde, eine Ausschlussfrist von 90 Tagen ab der freiwilligen Zahlung der Abgabe vor.
20. Im Urteil Edis ging es zwar um eine Ausschlussfrist von drei Jahren ab dem Tag der Zahlung der Abgabe, d. h. um eine deutlich längere Frist als die des vorliegenden Falles; aus diesem Urteil und aus der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, dass es den Mitgliedstaaten frei steht, mehr oder weniger lange Fristen für die Erstattung rechtsgrundlos erhobener Beträge vorzusehen, sofern diese Fristen die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht unmöglich machen oder übermäßig erschweren.
21. Eine Frist von 90 Tagen nach Ablauf der Frist für die freiwillige Zahlung der Abgabe ist lang genug, um es dem Steuerpflichtigen zu ermöglichen, in voller Kenntnis der Sachlage die Entscheidung zu treffen, eine Anfechtungsklage zu erheben, und alle dafür erforderlichen tatsächlichen und rechtlichen Elemente zusammenzutragen.
22. Wie sich aus Nummer 41 der Schlussanträge des Generalanwalts ergibt, kann diese Frist im Vergleich mit den in den Rechtsordnungen mehrerer anderer Mitgliedstaaten festgesetzten ähnlich langen Fristen als angemessen betrachtet werden.
23. Zum Argument der Recheio, diese Frist sei nicht akzeptabel, da die Richtlinie 69/335 zum Zeitpunkt der Erhebung der Abgabe noch nicht umgesetzt gewesen, sondern von der Portugiesischen Republik erst zwei Jahre nach dem Urteil Modelo umgesetzt worden sei, ist festzustellen, dass das Gemeinschaftsrecht es einem Mitgliedstaat, der die Richtlinie 69/335 nicht ordnungsgemäß umgesetzt hat, nicht verwehrt, sich gegenüber Klagen auf Erstattung von Abgaben, die unter Verstoß gegen diese Richtlinie erhoben worden sind, auf eine nationale Ausschlussfrist zu berufen. Ob der Gerichtshof ein Vorabentscheidungsurteil über die Auslegung der fraglichen Gemeinschaftsvorschrift erlassen hat, ist insoweit im Übrigen grundsätzlich ohne Belang (vgl. u. a. Urteil Edis, Randnrn. 20 und 47)
24. Was das Argument der Recheio angeht, die fragliche Frist sei nicht gerechtfertigt, da die Steuerverwaltung über längere Fristen verfüge, um Entscheidungen über die Besteuerung eines Steuerpflichtigen zu treffen und von Amts wegen Steuerbescheide zu berichtigen, genügt die Feststellung, dass dieser Umstand nicht bedeutet, dass die fragliche Frist von 90 Tagen im Hinblick auf den Effektivitätsgrundsatz nicht ausreicht. Die Fristen, die der Steuerverwaltung für die Ausübung ihrer Besteuerungsbefugnisse zur Verfügung stehen, dienen im Übrigen normalerweise anderen Zwecken als die Frist zur Erhebung einer Anfechtungsklage.
25. Demnach ist festzustellen, dass eine nationale Ausschlussfrist wie die des Ausgangsverfahrens die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht übermäßig erschwert oder praktisch unmöglich macht.
26. Daher ist auf die Fragen des Tribunal Tributário de Primeira Instância zu antworten, dass es nicht gegen den Effektivitätsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts verstößt, wenn für den Antrag auf Erstattung einer unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhobenen Abgabe eine Ausschlussfrist von 90 Tagen nach Ablauf der Frist für die freiwillige Zahlung dieser Abgabe festgesetzt wird.
Kostenentscheidung:
Kosten
27. Die Auslagen der portugiesischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien der Ausgangsverfahren ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
QAAAB-79420
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg