BFH Beschluss v. - VII B 268/04

Berücksichtigung nur aus den Akten ersichtlicher Ermessenserwägungen zulässig

Gesetze: FGO § 102, AO § 69, AO § 191

Instanzenzug:

Gründe

I. Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) war bis April 1992 zunächst alleiniger Geschäftsführer einer GmbH, für deren unbeglichene Umsatzsteuerschulden er als Haftungsschuldner vom Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt —FA—) in Anspruch genommen wird. Ab Januar 1992 war neben dem Kläger ein weiterer allein vertretungsberechtigter Geschäftsführer bestellt.

Es wird zwischen den Beteiligten noch gestritten über die Umsatzsteuerrückstände der GmbH für die Voranmeldungszeiträume Juli bis November 1991, nachdem das Finanzgericht (FG) den Haftungsbescheid des FA wegen der dort vorgenommenen weitergehenden Haftungsinanspruchnahme aufgehoben hat. Gegen die Nichtzulassung der Revision in dem Urteil des FG, das die Klage wegen des vorgenannten Zeitraums abgewiesen hat, richtet sich die Beschwerde des Klägers.

II. Die Beschwerde (§ 116 Abs. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—) hat keinen Erfolg. Die Revision ist nicht zuzulassen. Es liegt entgegen der Ansicht der Beschwerde weder ein Revisionszulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO vor, weil das FG von der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) in den in der Beschwerdeschrift bezeichneten Entscheidungen abgewichen wäre, noch liegt ein Verfahrensmangel vor, auf dem das Urteil des FG beruhen kann (Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).

1. Zu dem ersten eben genannten Zulassungsgrund trägt die Beschwerde zusammengefasst vor, das FG sei von dem vom BFH aufgestellten Rechtssatz abgewichen, bei Existenz mehrerer Haftungsschuldner sei eine Ermessensentscheidung über die Auswahl aus allen in Betracht kommenden Haftungsschuldnern zu treffen. Hingegen sei das FG davon ausgegangen, dass eine Inhaftungnahme eines weiteren Geschäftsführers, der nach Fälligkeit der Haftungsschuld (gemeint: der Steuerschuld, für die gehaftet werden soll) bestellt wird, nicht in Betracht komme. Es habe ferner den faktischen Geschäftsführer und Gesellschafter, der seit Januar 1992 die Geschicke der GmbH bestimmend mitgelenkt habe, in seinem Urteil weder erwähnt noch im Rahmen eines ordnungsgemäßen Auswahlermessens berücksichtigt. Schließlich habe es auch unter Verstoß gegen § 102 Satz 2 FGO nicht berücksichtigt, dass vom FA zur Haftung des seit Januar 1992 bestellten weiteren Geschäftsführers erstmals im finanzgerichtlichen Verfahren überhaupt Erwägungen angestellt worden seien; das FG weiche damit von dem (BFHE 205, 14, BStBl II 2004, 579) ab, in dem klargestellt worden sei, dass die maßgeblichen Erwägungen zur Auswahl unter potentiellen Haftungsschuldnern im Haftungsbescheid in der Form der Einspruchsentscheidung angestellt werden müssen.

Selbst wenn zu Gunsten der Beschwerde davon ausgegangen wird, dass mit diesen Darlegungen die Voraussetzungen einer Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO entsprechend den Anforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO ausreichend dargelegt sind —wofür grundsätzlich die Gegenüberstellung divergierender Rechtssätze in einer Weise erforderlich ist, die deren Unvereinbarkeit ohne weiteres erkennbar macht—, liegt eine Abweichung des FG-Urteils von der Rechtsprechung des BFH jedenfalls nicht vor.

Der von der Beschwerde sinngemäß behauptete Rechtssatz, eine Inhaftungnahme des weiteren für die GmbH bestellten Geschäftsführers sei im Streitfall nicht in Betracht gekommen, lässt sich dem Urteil des FG anders als die Beschwerde behauptet nicht entnehmen. Das FG, dessen Urteil sich unter dem Gliederungspunkt 1.5 mit der Überprüfung der Auswahlentscheidung des FA befasst —und nicht, wie das FA mit Recht in der Beschwerdeerwiderung hervorgehoben hat, in den von der Beschwerde zitierten Urteilspassagen—, hat die Auswahlentscheidung vielmehr insbesondere deshalb gebilligt, weil eine Haftungsinanspruchnahme des Mitgeschäftsführers wegen Aussichtslosigkeit der Beitreibung der Haftungsschuld nicht geboten gewesen sei.

Dass das FG ferner eine nach Ansicht der Beschwerde aufgrund faktischer Geschäftsführung als Haftungsschuldner in Betracht kommende Person in seinem Urteil nicht erwähnt und berücksichtigt hat, stellt allenfalls einen sachlich rechtlichen Mangel seines Urteils dar, nicht jedoch einen Zulassungsgrund nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 2. Alternative FGO. Eine unvollständige Ermittlung des nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung maßgeblichen Sachverhalts oder fehlerhafte Anwendung der in dieser Rechtsprechung aufgestellten Rechtssätze auf den festgestellten Sachverhalt rechtfertigen nach ständiger Rechtsprechung des BFH keine Divergenzzulassung.

Ebenso würde es eine solche Zulassung nicht rechtfertigen, wenn das FG bei seiner Entscheidung § 102 Satz 2 FGO nicht berücksichtigt haben sollte. Denn ein Rechtssatz, der dem von der Beschwerde aus der Rechtsprechung des beschließenden Senats angeführten Rechtssatz ausdrücklich oder sinngemäß widerspräche, ist dem Urteil des FG nicht zu entnehmen.

2. Ob die angebliche Berücksichtigung nach § 102 Satz 2 FGO nicht zu berücksichtigender Ermessenserwägungen des FA, wie die Beschwerde meint, einen Verfahrensmangel oder einen materiell-rechtlichen Mangel der angefochtenen Entscheidung darstellte, bedarf keiner Erörterung. Denn es trifft nicht zu, dass das FG diese Vorschrift missachtet hat, sondern es ist in dem Urteil des FG richtig dargestellt, dass das FA bereits bei Erlass des Haftungsbescheids eine mögliche Inanspruchnahme des Mitgeschäftsführers in Betracht gezogen und geprüft hat. Das ergibt sich aus den dem beschließenden Senat vorliegenden Akten des FA (z.B. Blatt 18 der Haftungsakte). Ob diese Prüfung in dem angefochtenen Haftungsbescheid bzw. in der Einspruchsentscheidung ihren Niederschlag hätte finden müssen, um vom FG bei dessen Entscheidung berücksichtigt werden zu können, ist eine Frage des materiellen Rechts —nämlich der Anforderungen an die Begründung einer Ermessensentscheidung—, deren möglicherweise unzutreffende Beantwortung durch das FG folglich die Zulassung der Revision nach § 115 Abs. 2 FGO nicht rechtfertigen könnte. Ebenso ist es eine Frage des materiellen Rechts, ob der Kläger seiner eigenen Haftungsinanspruchnahme mit Erfolg entgegenhalten könnte, der Mitgeschäftsführer habe neben ihm gleichfalls in Anspruch genommen werden müssen und vom FA nicht verschont werden dürfen, deren möglicherweise unrichtige Beantwortung die Zulassung der Revision nicht rechtfertigen könnte.

3. Die ferner erhobene Rüge, das FG habe den Anspruch des Klägers auf rechtliches Gehör verletzt, ist nicht einmal ordnungsgemäß erhoben. Denn der Kläger hat innerhalb der Beschwerdefrist nichts dazu vorgetragen, was er bei Gewährung aus seiner Sicht ausreichenden rechtlichen Gehörs noch hätte vortragen wollen und inwiefern dies für die Entscheidung des FG von Bedeutung gewesen wäre.

4. Schließlich greift auch die Rüge nicht durch, das FG habe aus dem Schlussbericht des Konkursverwalters Passagen zu Lasten des Klägers berücksichtigt, die sich in Wahrheit auf den vorgenannten Mitgeschäftsführer bezögen, und dadurch gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verstoßen. Der beschließende Senat kann unentschieden lassen, ob die vom Kläger in diesem Zusammenhang beanstandeten Ausführungen in dem Urteil des FG verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind, weil sie mit dem klaren Inhalt der Akten, insbesondere dem Schlussbericht des Konkursverwalters schlechthin unvereinbar sind oder ob sie, was eine Revisionszulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO von vornherein ausschließen würde, eine möglicherweise angreifbare, aber mögliche Würdigung der Sachlage darstellen. Selbst wenn es nämlich nicht zutreffen sollte, dass die Haftungsquote nicht genau anhand der betrieblichen Aufzeichnungen der GmbH hat ermittelt werden können, weil —wie das FG aufgrund vorgenannten Berichts anzunehmen scheint— diese Aufzeichnungen vom Kläger ungeordnet in einen Schuppen geworfen worden seien und der „ehemalige Geschäftsführer” (der Kläger?) den Konkursverwalter bei seiner Arbeit nicht unterstützt habe, bliebe es bei der Feststellung des FG, dass das FA bei der Klärung der Liquiditätsfrage seine Amtsermittlungspflicht nicht verletzt hat und dass eine genaue Ermittlung der Haftungsquote diesem ebenso wenig wie der Staatsanwaltschaft möglich war. Daraus folgt und jedenfalls ist von der Beschwerde anderes nicht nachvollziehbar dargelegt, dass das FG eine genauere Ermittlung der Haftungsquote nicht als möglich angesehen hat und diese vorzunehmen nicht etwa unter Verletzung seiner Amtsaufklärungspflicht unterlassen hat. Auch wenn also sein Urteil auf vorgenanntem Verfahrensmangel beruhen sollte, wäre es im Ergebnis doch richtig, so dass die Revision in entsprechender Anwendung des § 126 Abs. 4 FGO nicht zugelassen werden könnte. Denn wenn eine genaue(re) Ermittlung der Haftungsquote unmöglich ist, muss diese ungeachtet der Erfüllung oder Nichterfüllung der Mitwirkungspflicht des Haftungsschuldners geschätzt werden, wozu das FG die entsprechenden Erwägungen angestellt hat, deren Schlüssigkeit in diesem Verfahren nicht zu überprüfen ist. Dass das FG in diesem Zusammenhang deshalb eine dem Kläger ungünstige Schätzung zugrunde gelegt hätte, weil dieser seine Mitwirkungspflicht verletzt habe, und dass insofern die Vereinbarkeit des diesbezüglichen tatsächlichen Ausgangspunktes des FG mit dem Akteninhalt gleichsam mittelbar doch für dessen Entscheidung von Bedeutung wäre, behauptet die Beschwerde selbst nicht und ist auch dem Urteil des FG schwerlich zu entnehmen. Dass überhaupt eine Schätzung zulässig ist, würde sich hingegen hinreichend aus der zutreffenden Erwägung ergeben, dass die Unaufklärbarkeit der für die Ermittlung der Haftungsquote maßgeblichen Geschäftsvorfälle bei der vom Kläger ehemals vertretenen GmbH —wie es das FG ausgedrückt hat— in dessen „Sphäre” liegt (nämlich im Verantwortungsbereich des von ihm Vertretenen), auch wenn der Kläger persönlich an dem desolaten Zustand der Buchführung der GmbH keine Schuld tragen und die ihm mögliche Mitwirkung bei der Aufklärung nicht verweigert haben sollte.

Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 708 Nr. 4
SAAAB-77004