Unzulässige Pflicht zur Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit vor Zahnbehandlung in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaates
Leitsatz
[1] 4 Daß eine nationale Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt die Anwendung der Artikel 59 und 60 des Vertrages nicht aus.
Zwar lässt das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt; gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht beachten.
5 Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 soll dem Versicherten, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, insbesondere dann erlauben, ohne zusätzliche Kosten Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers nach den Rechtsvorschriften des Staates zu erhalten, in dem die Leistungen erbracht werden, wenn dies wegen seines Gesundheitszustands erforderlich ist. Diese Bestimmung regelt hingegen nicht den Fall, daß die Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung erbrachte Behandlung zu den Sätzen erstattet werden, die im Versicherungsstaat gelten, und hindert die Mitgliedstaaten daher nicht an einer solchen Erstattung.
6 Eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnregulierungen durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, verstösst gegen die Artikel 59 und 60 des Vertrages.
Eine solche Regelung hält die Sozialversicherten davon ab, sich an ärztliche Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stellt sowohl für diese wie für ihre Patienten eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar.
Sie ist weder durch eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt, da die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung, die in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wurde, nach den Tarifen des Versicherungsstaats keine wesentlichen Auswirkungen auf die Finanzierung dieses Systems hat, noch unter Berufung auf den Gesundheitsschutz mit der Begründung, daß die Qualität in anderen Mitgliedstaaten erbrachter ärztlicher Leistungen gewährleistet werden und eine ausgewogene, allen Versicherten offenstehende ärztliche und klinische Versorgung sichergestellt werden müsse. Da die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung der Tätigkeiten des Arztes und des Zahnarztes Gegenstand mehrerer Koordinierungs- oder Harmonisierungsrichtlinien sind, müssen in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Ärzte und Zahnärzte für die Zwecke des freien Dienstleistungsverkehrs als ebenso qualifiziert anerkannt werden wie im Inland niedergelassene. Im übrigen ist nicht vorgebracht, daß die streitige Regelung zur Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines unabdingbaren Niveaus der Heilkunde im Inland erforderlich sei.
Gesetze: EG-Vertrag Art. 56 ; EG-Vertrag Art. 59 ; EG-Vertrag Art. 60
Gründe
1 Die luxemburgische Cour de cassation hat dem Gerichtshof mit Urteil vom , beim Gerichtshof eingegangen am , gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen dem Kläger Raymond Kohll, einem luxemburgischen Staatsangehörigen, und seiner Krankenkasse, der Union des caisses de maladie (UCM). Es geht um den Antrag eines in Luxemburg niedergelassenen Arztes, der minderjährigen Tochter des Klägers eine Zahnregulierung bei einem Zahnarzt in Trier (Deutschland) zu genehmigen.
3 Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom im Anschluß an eine ablehnende Stellungnahme der ärztlichen Kontrollstelle der sozialen Sicherheit mit der Begründung abgelehnt, die Behandlung sei zum einen nicht dringend und könne zum anderen in Luxemburg erbracht werden. Der Bescheid wurde mit Bescheid des Verwaltungsrats der UCM vom bestätigt.
4 Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger Klage zum Conseil arbitral des assurances sociales, wobei er geltend machte, die angezogenen Bestimmungen verstießen gegen Artikel 59 EG-Vertrag. Die Klage wurde mit Urteil vom abgewiesen.
5 Hiergegen legte der Kläger Berufung zum Conseil supérieur des assurances sociales ein. Dieser bestätigte die angefochtene Entscheidung mit Urteil vom . Artikel 20 des luxemburgischen Code des assurances sociales und die Artikel 25 und 27 der Satzung der UCM seien mit der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (durch die Verordnung [EG] Nr. 118/97 des Rates vom , ABl. 1997, L 28, S. 1, geänderte und aktualisierte Fassung), vereinbar.
6 Nach Artikel 20 Absatz 1 des Code des assurances sociales, der mit Gesetz vom erlassen wurde und am in Kraft trat, können sich Versicherte, sofern es sich nicht um eine dringende Behandlung im Fall einer im Ausland aufgetretenen Krankheit oder eines dort eingetretenen Unfalls handelt, nur nach vorheriger Genehmigung des zuständigen Trägers der sozialen Sicherheit im Ausland behandeln lassen oder an ein Behandlungszentrum oder ein Zentrum wenden, das Hilfsmittel liefert.
7 Die Voraussetzungen und Bedingungen der Genehmigung sind in den Artikeln 25 bis 27 der Satzung der UCM in der Fassung geregelt, die am 1. Januar 1995 in Kraft trat. Nach Artikel 25 darf die Genehmigung nicht für Leistungen erteilt werden, für die nach inländischem Recht keine Kostenerstattung in Betracht kommt. Nach Artikel 26 wird eine genehmigte Behandlung zu den Tarifen übernommen, die für die Sozialversicherten des Staates gilt, in dem die Behandlung erfolgt. Nach Artikel 27 wird die Genehmigung nach einer ärztlichen Überprüfung auf schriftlichen Antrag eines in Luxemburg niedergelassenen Arztes erteilt, in dem der Arzt oder das Krankenhaus, der oder das dem Versicherten empfohlen wird, sowie die Umstände und Kriterien angegeben sind, derentwegen die fragliche Behandlung in Luxemburg nicht durchgeführt werden kann.
8 Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 bestimmt:
"(1) Ein Arbeitnehmer oder Selbständiger, der die nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für den Leistungsanspruch erforderlichen Voraussetzungen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Artikels 18, erfuellt und
...
c) der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten,
hat Anspruch auf:
i) Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften, als ob er bei diesem versichert wäre; die Dauer der Leistungsgewährung richtet sich jedoch nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates;
ii) Geldleistungen vom zuständigen Träger nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften. Im Einvernehmen zwischen dem zuständigen Träger und dem Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts können diese Leistungen jedoch vom Träger des Aufenthalts- oder Wohnorts nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates für Rechnung des zuständigen Trägers gewährt werden.
(2)...
Die nach Absatz 1 Buchstabe c) erforderliche Genehmigung darf nicht verweigert werden, wenn die betreffende Behandlung zu den Leistungen gehört, die in den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats vorgesehen sind, in dessen Gebiet der Betreffende wohnt, und wenn er in Anbetracht seines derzeitigen Gesundheitszustands und des voraussichtlichen Verlaufs der Krankheit diese Behandlung nicht in einem Zeitraum erhalten kann, der für diese Behandlungen in dem Staat, in dem er seinen Wohnsitz hat, normalerweise erforderlich ist.
(3) Die Absätze 1 und 2 finden entsprechend auf die Familienangehörigen eines Arbeitnehmers oder Selbständigen Anwendung.
..."
9 Der Kläger legte gegen das Urteil des Conseil supérieur des assurances sociales Kassationsbeschwerde ein, in der er u. a. geltend machte, das angefochtene Urteil überprüfe die Vereinbarkeit des nationalen Rechts nur mit der Verordnung Nr. 1408/71, nicht aber mit den Artikeln 59 und 60 EG-Vertrag.
10 Die Cour de cassation stellte fest, daß diese Rüge eine Frage der Auslegung des Gemeinschaftsrechts aufwarf. Sie hat das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind die Artikel 59 und 60 des Vertrages zur Gründung der EWG dahin auszulegen, daß sie einer Regelung entgegenstehen, die die Übernahme der Kosten für erstattungsfähige Leistungen von der Genehmigung durch eine Einrichtung der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, wenn die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat als dem Wohnstaat des Versicherten erbracht werden?
2. Ändert es etwas an der Antwort auf die vorangegangene Frage, wenn die Regelung den Zweck hat, eine finanziell ausgewogene, allen offenstehende ärztliche und klinische Versorgung in einer bestimmten Region aufrechtzuerhalten?
11 Diese Fragen sind zusammen zu erörtern. Das vorlegende Gerichte möchte wissen, ob eine Regelung der sozialen Sicherheit der im Ausgangsverfahren streitigen Art gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verstösst.
12 Nach Ansicht des Klägers verstösst die streitige Regelung, die die Erstattung von Kosten für Zahnregulierung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag.
13 Die UCM sowie die luxemburgische, die griechische und die Regierung des Vereinigten Königreichs machen geltend, daß diese Artikel keine Anwendung finden oder der Beibehaltung der fraglichen Regelung nicht entgegenstehen. Die deutsche, die französische und die österreichische Regierung teilen die letztgenannte Auffassung.
14 Die Kommission bringt vor, die fragliche Regelung behindere den freien Dienstleistungsverkehr, könne aber unter bestimmten Umständen durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein.
15 Angesichts der abgegebenen Erklärungen sind zunächst die Anwendung des Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der sozialen Sicherheit, dann die Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71 und schließlich die Anwendung der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr zu erörtern.
Die Anwendung des elementaren Grundsatzes des freien Verkehrs im Bereich der sozialen Sicherheit
16 Die luxemburgische, die griechische und die Regierung des Vereinigten Königreichs tragen vor, die streitige Regelung falle nicht unter die gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr, da sie die soziale Sicherheit betreffe; sie sei daher nur an Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 zu messen.
17 Nach ständiger Rechtsprechung lässt das Gemeinschaftsrecht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt (Urteile vom in der Rechtssache 238/82, Duphar u. a., Slg. 1984, 523, Randnr. 16, und vom in der Rechtssache C-70/95, Sodemare u. a., Slg. 1997, I-3395, Randnr. 27).
18 In Ermangelung einer Harmonisierung auf Gemeinschaftsebene bestimmt somit das Recht eines jeden Mitgliedstaats, unter welchen Voraussetzungen zum einen ein Recht auf Anschluß an ein System der sozialen Sicherheit oder eine Verpflichtung hierzu (Urteile vom in der Rechtssache 110/79, Coonan, Slg. 1980, 1445, Randnr. 12, und vom 4. Oktober 1991 in der Rechtssache C-349/87, Paraschi, Slg. 1991, I-4501, Randnr. 15) und zum anderen ein Anspruch auf Leistung (Urteil vom in den Rechtssachen C-4/95 und C-5/95, Stöber und Piosa Pereira, Slg. 1997, I-511, Randnr. 36) besteht.
19 Gleichwohl müssen die Mitgliedstaaten, wie der Generalanwalt in den Nummern 17 bis 25 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, bei der Ausübung dieser Befugnis das Gemeinschaftsrecht beachten.
20 So hat der Gerichtshof festgestellt, daß die Besonderheiten bestimmter Dienstleistungen nicht dazu führten, daß diese nicht unter den elementaren Grundsatz des freien Verkehrs fielen (Urteil vom in der Rechtssache 279/80, Webb, Slg. 1981, 3305, Randnr. 10).
21 Daß die streitige Regelung zum Bereich der sozialen Sicherheit gehört, schließt daher die Anwendung der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag nicht aus.
Die Auswirkungen der Verordnung Nr. 1408/71
22 Nach Auffassung der UCM und der luxemburgischen Regierung stellt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 den Grundsatz auf, daß für jede Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat eine vorherige Genehmigung erforderlich ist. Die Angriffe gegen die nationalen Bestimmungen über die Übernahme im Ausland erlangter Leistungen richteten sich letztlich auch gegen die Gültigkeit der entsprechenden Bestimmung der Verordnung Nr. 1408/71.
23 Im Verfahren vor dem Gerichtshof hat der Kläger vorgetragen, er habe von der UCM die Erstattung des Betrages verlangt, auf den er Anspruch gehabt hätte, wenn die Behandlung von dem einzigen Facharzt vorgenommen worden wäre, der damals in Luxemburg tätig gewesen sei.
24 Hierzu macht die UCM geltend, der Grundsatz der Einheit der Tarife der sozialen Sicherheit wäre zwar gewahrt, wenn der luxemburgische Tarif angewandt worden wäre; die Verordnung Nr. 1408/71 zwinge sie jedoch dazu, die Kosten nach dem Tarif zu erstatten, der im Staat der Leistung gelte.
25 Der Umstand, daß eine nationale Maßnahme möglicherweise einer Bestimmung des abgeleiteten Rechts - hier dem Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 - entspricht, hat nicht zur Folge, daß sie nicht an den Bestimmungen des EG-Vertrags zu messen wäre.
26 Zudem soll Artikel 22 Absatz 1 der Verordnung Nr. 1408/71, wie der Generalanwalt in den Nummern 55 und 57 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dem Versicherten, der vom zuständigen Träger die Genehmigung erhalten hat, sich in das Gebiet eines anderen Mitgliedstaats zu begeben, um dort eine seinem Zustand angemessene Behandlung zu erhalten, insbesondere dann erlauben, ohne zusätzliche Kosten Sachleistungen für Rechnung des zuständigen Trägers nach den Rechtsvorschriften des Staates zu erhalten, in dem die Leistungen erbracht werden, wenn dies wegen seines Gesundheitszustands erforderlich ist.
27 Bei zweckgerichteter Auslegung regelt Artikel 22 der Verordnung Nr. 1408/71 hingegen nicht den Fall, daß die Kosten für eine in einem anderen Mitgliedstaat ohne vorherige Genehmigung erbrachte Behandlung zu den Sätzen erstattet werden, die im Versicherungsstaat gelten, und hindert die Mitgliedstaaten daher nicht an einer solchen Erstattung.
28 Somit ist zu prüfen, ob eine Regelung der streitigen Art mit den Bestimmungen des EG-Vertrags über den freien Dienstleistungsverkehr vereinbar ist.
Die Anwendung der Bestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr
29 Im Ausgangsverfahren geht es um eine Behandlung in der Praxis eines in einem anderen Mitgliedstaat niedergelassenen Zahnarztes. Diese entgeltliche Leistung ist eine Dienstleistung im Sinne des Artikels 60 EG-Vertrag, der die freiberuflichen Tätigkeiten ausdrücklich nennt.
30 Zu erörtern ist deshalb, ob eine Regelung der streitigen Art die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehr behindert und ob sie gegebenenfalls objektiv gerechtfertigt ist.
Die beschränkenden Wirkungen der streitigen Regelung
31 Der Kläger und die Kommission sind der Auffassung, es stelle eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne der Artikel 59 und 60 EG-Vertrag dar, daß die Übernahme erstattungsfähiger Krankheitsleistungen nach den Modalitäten des Rechts des Versicherungsstaats von der vorherigen Genehmigung des Trägers dieses Staates abhängig gemacht werde, wenn die Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat erbracht würden.
32 Die Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, sind hingegen der Auffassung, daß die streitige Regelung eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs weder bezwecke noch bewirke, sondern nur die Bedingungen für eine Erstattung von Krankheitskosten regele.
33 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verstösst jede nationale Regelung gegen Artikel 59 EG-Vertrag, die die Leistung von Diensten zwischen Mitgliedstaaten im Ergebnis gegenüber der Leistung von Diensten im Inneren eines Mitgliedstaats erschwert (Urteil vom in der Rechtssache C-381/93, Kommission/Frankreich, Slg. 1994, I-5145, Randnr. 17).
34 Zwar hindert die streitige Regelung die Versicherten nicht daran, sich an einen Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden. Sie macht aber die Erstattung von Kosten, die in diesem Mitgliedstaat angefallen sind, von einer vorherigen Genehmigung abhängig, und versagt sie den Versicherten, die keine Genehmigung haben. Kosten, die im Versicherungsstaat anfallen, unterliegen hingegen keiner solchen Genehmigung.
35 Daher hält eine solche Regelung die Sozialversicherten davon ab, sich an ärztliche Dienstleistungserbringer in einem anderen Mitgliedstaat zu wenden, und stellt sowohl für diese wie für ihre Patienten eine Behinderung des freien Dienstleistungsverkehrs dar (Urteile vom in den Rechtssachen 286/82 und 26/83, Luisi und Carbone, Slg. 1984, 377, Randnr. 16, und vom in der Rechtssache C-204/90, Bachmann, Slg. 1992, I-249, Randnr. 31).
36 Zu prüfen ist daher, ob eine Regelung der streitigen Art objektiv gerechtfertigt ist.
Die Rechtfertigung der streitigen Regelung
37 Die UCM sowie die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, tragen vor, der freie Dienstleistungsverkehr sei nicht absolut zu setzen; Gründe der Kontrolle der Gesundheitskosten müssten berücksichtigt werden. Eine vorherige Genehmigung stelle das einzig wirksame und das am wenigsten beschränkende Mittel dar, um die Gesundheitskosten zu kontrollieren und das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit aufrechtzuerhalten.
38 Nach Auffassung der UCM, der luxemburgischen Regierung und der Kommission stellt die Gefahr einer Störung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit, das der Aufrechterhaltung einer ausgewogenen, allen Versicherten offenstehenden ärztlichen und klinischen Versorgung dienen solle, einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses dar, der Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen könne.
39 Die Kommission fügt hinzu, die Versagung der vorherigen Genehmigung durch die nationalen Stellen müsse durch eine wirkliche Gefahr der Störung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit gerechtfertigt sein.
40 Hierzu bringt der Kläger vor, die finanziellen Folgen für das Budget des luxemburgischen Trägers der sozialen Sicherheit hingen nicht davon ab, ob er sich an einen luxemburgischen oder an einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat wende, da er die Übernahme der Krankheitskosten zu dem in Luxemburg geltenden Tarif beantragt habe. Die streitige Regelung könne daher nicht damit begründet werden, die Gesundheitskosten müssten kontrolliert werden.
41 Rein wirtschaftliche Gründe können eine Beschränkung des elementaren Grundsatzes des freien Dienstleistungsverkehrs nicht rechtfertigen (in diesem Sinne Urteil vom in der Rechtssache C-398/95, SETTG, Slg. 1997, I-3091, Randnr. 23). Jedoch kann eine erhebliche Gefährdung des finanziellen Gleichgewichts des Systems der sozialen Sicherheit einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen, der eine solche Beschränkung rechtfertigen kann.
42 Entgegen dem Vorbringen der UCM und der luxemburgischen Regierung hat jedoch die Erstattung von Kosten einer Zahnbehandlung, die in einem anderen Mitgliedstaat erbracht wurde, nach den Tarifen des Versicherungsstaats keine wesentlichen Auswirkungen auf die Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit.
43 Die luxemburgische Regierung macht zur Rechtfertigung weiter den Schutz der öffentlichen Gesundheit geltend; die streitige Regelung sei zum einen erforderlich, um die Qualität der ärztlichen Leistungen zu gewährleisten, die bei denjenigen, die sich in einen anderen Mitgliedstaat begäben, nur im Zeitpunkt des Antrags auf Genehmigung überprüft werden könne; zum anderen solle das luxemburgische Krankenversicherungssystem eine ausgewogene, allen Versicherten offenstehende ärztliche und klinische Versorgung sicherstellen.
44 Der Kläger hält dem entgegen, es gebe keinen wissenschaftlichen Grund für die Annahme, daß in Luxemburg vorgenommene Behandlungen wirksamer seien, seitdem die Ausübung der ärztlichen Berufe von den Mitgliedstaaten gegenseitig anerkannt werde. Die Bezugnahme auf eine ausgewogene, allen offenstehende ärztliche und klinische Versorgung müsse als wirtschaftlicher Grund angesehen werden, der die Finanzen der UCM schützen solle.
45 Die Mitgliedstaaten können den freien Dienstleistungsverkehr nach den Artikeln 56 und 66 EG-Vertrag aus Gründen der öffentlichen Gesundheit beschränken.
46 Das erlaubt ihnen jedoch nicht, den Gesundheitssektor als Wirtschaftssektor hinsichtlich des freien Dienstleistungsverkehrs vom elementaren Grundsatz des freien Verkehrs auszunehmen (siehe Urteil vom in der Rechtssache 131/85, Gül, Slg. 1986, 1573, Randnr. 17).
47 Die Bedingungen des Zugangs und der Ausübung der Tätigkeiten des Arztes und des Zahnarztes sind Gegenstand mehrerer Koordinierungs- oder Harmonisierungsrichtlinien (siehe die Richtlinie 78/686/EWG des Rates vom für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise des Zahnarztes und für Maßnahmen zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des Niederlassungsrechts und des Rechts auf freien Dienstleistungsverkehr, ABl. L 233, S. 1; die Richtlinie 78/687/EWG des Rates vom zur Koordinierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften für die Tätigkeiten des Zahnarztes, ABl. L 233, S. 10, und die Richtlinie 93/16/EWG des Rates vom zur Erleichterung der Freizuegigkeit für Ärzte und zur gegenseitigen Anerkennung ihrer Diplome, Prüfungszeugnisse und sonstigen Befähigungsnachweise, ABl. L 165, S. 1).
48 Hieraus folgt, daß in anderen Mitgliedstaaten niedergelassene Ärzte und Zahnärzte für die Zwecke des freien Dienstleistungsverkehrs als ebenso qualifiziert anerkannt werden müssen wie im Inland niedergelassene.
49 Daher kann eine Regelung der streitigen Art nicht unter Berufung auf Gründe des Gesundheitsschutzes damit gerechtfertigt werden, daß die Qualität in anderen Mitgliedstaaten erbrachter ärztlicher Leistungen gewährleistet werden müsse.
50 Das Ziel, eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung aufrechtzuerhalten, ist zwar eng mit der Finanzierung des Systems der sozialen Sicherheit verbunden, kann aber auch zu den Ausnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit nach Artikel 56 EG-Vertrag zählen, soweit es zur Erzielung eines hohen Gesundheitsschutzes beiträgt.
51 Artikel 56 EG-Vertrag erlaubt nämlich den Mitgliedstaaten, den freien Dienstleistungsverkehr im Bereich der ärztlichen und klinischen Versorgung einzuschränken, soweit die Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines bestimmten Niveaus der Heilkunde im Inland für die Gesundheit oder selbst das Überleben ihrer Bevölkerung erforderlich ist (siehe zum Begriff der öffentlichen Sicherheit im Sinne des Artikels 36 EG-Vertrag das Urteil vom in der Rechtssache 72/83, Campus Oil u. a., Slg. 1984, 2727, Randnrn. 33 bis 36).
52 Jedoch haben weder die UCM noch die Regierungen der Mitgliedstaaten, die Erklärungen abgegeben haben, nachgewiesen, daß die streitige Regelung erforderlich sei, um eine ausgewogene, allen zugängliche ärztliche und klinische Versorgung sicherzustellen. Keiner der Beteiligten hat vorgetragen, daß sie zur Erhaltung eines bestimmten Umfangs der medizinischen und pflegerischen Versorgung oder eines unabdingbaren Niveaus der Heilkunde im Inland erforderlich sei.
53 Daher kann die streitige Regelung nicht aus Gründen des Gesundheitsschutzes gerechtfertigt werden.
54 Daher ist zu antworten, daß eine nationale Regelung, die die Erstattung der Kosten für Zahnbehandlung durch einen Zahnarzt in einem anderen Mitgliedstaat nach den Tarifen des Versicherungsstaats von der Genehmigung des Trägers der sozialen Sicherheit des Versicherten abhängig macht, gegen die Artikel 59 und 60 EG-Vertrag verstösst.
Kostenentscheidung:
Kosten
55 Die Auslagen der luxemburgischen, der deutschen, der griechischen, der französischen, der österreichischen und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
OAAAB-72598
1Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg