Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) beantragte, ihm ab Juni 2000 Kindergeld für das 1983 geborene, zu 100 v.H. schwer behinderte autistische Kind M als Pflegekind zu gewähren.
M lebte zunächst von August 1988 bis September 1999 im Haushalt des Klägers im Rahmen der stationären Unterbringung in einem heilpädagogischen Pflegenest. Den Aufenthalt von M finanzierte während dieser Zeit das Sozialamt. Die Ehefrau des Klägers war als Erzieherin beauftragt, M in ihrer Familie zu betreuen und wurde entsprechend entlohnt.
Danach kam M zu einem stationären Aufenthalt in eine Erwachsenenpsychiatrie.
Im Juni 2000 nahm der Kläger das Kind in seinen Haushalt auf, wo es bis September 2000 blieb. Während dieser Zeit erhielt die Ehefrau des Klägers für M von der Kreisverwaltung Eingliederungshilfe in Höhe von 831,50 DM monatlich (Pauschalbeträge für Kost und Unterkunft nach der Sachbezugsverordnung und einen Barbetrag für M) sowie Pflegegeld von der zuständigen Pflegekasse. Außerdem erstattete die Kreisverwaltung die Kosten für Fahrten zur Therapieambulanz.
Ab September 2000 war M wiederum in einem Heim untergebracht, wo er einen Berufsförderlehrgang besuchen konnte.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag auf Kindergeld ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg.
Die Klage, mit der der Kläger weiterhin die Festsetzung von Kindergeld für M ab Juni 2000 begehrte, wies das Finanzgericht (FG) als unbegründet ab. Sein Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 1714 abgedruckt. Das FG führte im Wesentlichen aus:
Als Pflegekind sei M gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nur zu berücksichtigen, wenn der Kläger das Kind mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhalten habe. Da die Ehefrau des Klägers für die Betreuung des M angestellt gewesen sei und für die Zeit der Haushaltsaufnahme vom 20. Juni bis von der Kreisverwaltung finanzielle Zuwendungen erhalten habe, sei von einer erwerbswirtschaftlichen Tätigkeit auszugehen. Ein Pflegekindschaftsverhältnis habe mithin nicht begründet werden können.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor:
Es gehe ihm darum, Kindergeld ab Juni 2000 auf Dauer zu erlangen. Der zuständige Landkreis habe ihm und seiner Ehefrau mit Schreiben vom Juli 2000 die Pflegeerlaubnis erteilt. Seit dem Eintritt der Volljährigkeit von M habe das zuständige Amtsgericht seine Ehefrau als Betreuerin eingesetzt. Trotz seiner anderweitigen Unterbringung werde M jedes Wochenende, in allen Ferien und bei jeder Krankheit zu Hause betreut. Er, der Kläger, und seine Ehefrau seien die einzigen Bezugspersonen von M. Seine Ehefrau nehme alle Betreuungsaufgaben wahr, die sonst üblicherweise die Mutter eines behinderten Kindes ausübe. Seit April 2003 lebe M in einer Wohngruppe für autistische Menschen. Auch dort besuchten er, der Kläger, und seine Ehefrau ihn regelmäßig. Auch in den Sommerferien werde er nach Hause kommen.
Das FG habe den Zeitraum ab September 2000 überhaupt nicht in seine Erwägungen einbezogen, obwohl er und seine Ehefrau dem FG über ihr persönliches Engagement nach dieser Zeit berichtet hätten. Die ihnen seither entstandenen Kosten, die in ihrer Höhe den Aufwendungen von leiblichen Eltern eines behinderten Kindes entsprächen, habe niemand übernommen. Es bestehe kein sachlicher Grund ihn, den Kläger, im Streitfall anders zu behandeln, als leibliche Eltern von behinderten Kindern. Derzeit erhalte niemand Kindergeld für M.
Während des Revisionsverfahrens wies der Bundesfinanzhof (BFH) auf sein Urteil vom VIII R 71/00 (BFHE 201, 292, BStBl II 2003, 469) hin, nach dem ein Kind nur als Pflegekind zu berücksichtigen sei, wenn die Pflegeeltern 20 v.H. der tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen selbst trügen.
Der Kläger beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Sache zur Prüfung seiner tatsächlichen Unterhaltsaufwendungen für M an das FG zurückzuverweisen.
Die Familienkasse stellt keinen Antrag.
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG besteht ein Kindergeldanspruch für alle Kinder i.S. von § 32 Abs. 1 EStG, mithin auch für Pflegekinder nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG i.d.F. des Steueränderungsgesetzes (StÄndG) 2003 vom (BGBl I 2003, 2645, BStBl I 2003, 710) sind Pflegekinder Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.
Die Neufassung des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG ist dem Streitfall zugrunde zu legen. Denn gemäß § 52 Abs. 40 Satz 1 EStG i.d.F. des StÄndG 2003 ist die geänderte Fassung in allen Fällen anzuwenden, in denen die Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist. Diese Rückwirkung muss ihrem Sinn und Zweck nach nicht nur für die Einkommensteuer, sondern auch für das Kindergeld gelten, wenn dieses noch nicht bestandskräftig festgesetzt ist bzw. die Festsetzung noch nicht bestandskräftig abgelehnt ist. Denn wegen der Verknüpfung von Einkommensteuer und Kindergeld durch die sog. Günstigerprüfung gemäß § 31 Satz 4 EStG wäre es nicht sachgerecht, Kinder für das Kindergeld einerseits und für die Einkommensteuer andererseits unterschiedlich zuzuordnen. Da sich die Rückwirkung begünstigend auswirkt, bestehen auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen eine rückwirkende Anwendung der Vorschrift (, BFHE 207, 250, BFH/NV 2004, 1719, und VIII R 90/03, BFH/NV 2005, 332).
2. Da die Vorentscheidung vor In-Kraft-Treten der geänderten Gesetzesfassung ergangen ist, hat das FG seine Entscheidung noch auf § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F. gestützt. Danach liegt ein Pflegekindschaftsverhältnis nur vor, wenn der Anspruchsberechtigte das Pflegekind „mindestens zu einem nicht unwesentlichen Teil auf seine Kosten unterhält”. Nach der Rechtsprechung des BFH war diese Voraussetzung nur erfüllt, wenn die Eltern nach Abzug der Erstattung ihrer Aufwendungen mindestens 20 v.H. der tatsächlich entstandenen, angemessenen Unterhaltskosten (einschließlich der Kosten für Betreuung, Ausbildung und Erziehung) getragen haben (BFH-Urteile in BFHE 201, 292, BStBl II 2003, 469, und vom VIII R 77/99, BFH/NV 2003, 1294).
3. Nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG n.F. werden dagegen in den Haushalt aufgenommene Kinder ohne Nachweis tatsächlicher Unterhaltszahlungen als Pflegekinder berücksichtigt, es sei denn, die Pflegeeltern haben das Kind „zu Erwerbszwecken” in ihren Haushalt aufgenommen.
Die Gesetzesbegründung (BTDrucks 15/1945, S. 9) enthält keine Definition dieses Begriffs. Es werden lediglich als Beispiel für eine Aufnahme zu Erwerbszwecken „Kostkinder” erwähnt. Bei einer Aufnahme von mehr als sechs Kindern besteht nach R 177 der Einkommensteuer-Richtlinien 2004 eine Vermutung dafür, dass es sich um Kostkinder handelt. Im dem maßgeblichen Zeitraum ab war M jedoch kein Kostkind der Kläger, da er nicht mehr im Rahmen des heilpädagogischen Pflegenestes im Haushalt des Klägers untergebracht und die Ehefrau des Klägers zu diesem Zeitpunkt nicht mehr als Erzieherin angestellt war.
Nach Auffassung in der Literatur liegt eine Aufnahme zu Erwerbszwecken nur vor, wenn es sich bei den Leistungen an die Pflegeeltern um eine Entlohnung für die Unterbringung und Betreuung des Kindes nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten handelt, nicht aber, wenn die Leistungen an die Pflegeltern die Kosten für Unterhalt, Erziehung und Betreuung des Pflegekindes abgelten (Heuermann in Blümich, Einkommensteuergesetz, Gewerbesteuergesetz, Körperschaftsteuergesetz, § 32 EStG Rz. 53; Seiler in Kirchhof, Einkommensteuergesetz, 5. Aufl., § 32 Rz. 5; Jachmann in Kirchhof/Söhn/Mellinghof, Einkommensteuergesetz, § 32 Rz. B 16; vgl. auch , BFHE 165, 201, BStBl II 1992, 20, unter 2.a, und vom VI R 106/98, BFH/NV 2000, 448, unter 2.b).
Nach dem Senatsurteil in BFH/NV 2000, 448 stellen Pflegegelder, die bei Aufnahme eines Kindes in eine Familie zur Vollzeitpflege nach § 33 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geleistet werden, den gesamten Unterhalt einschließlich der Kosten für die Erziehung sicher (§ 39 Abs. 1 SGB VIII). Die monatlichen Pauschalbeträge bemessen sich nach den tatsächlichen Kosten, soweit diese einen angemessenen Umfang nicht übersteigen (§ 39 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII). Anders als die Pflegesätze im Falle der Heimunterbringung enthalten die Pflegegelder bei der Unterbringung in einer Pflegefamilie (§ 33 SGB VIII) keinen pauschalierten Ersatz für Personal- und Sachkosten. Die Höhe der Pflegegelder soll sicherstellen, dass Pflegekinder am häufig höheren Lebensstandard ihrer Pflegefamilien teilhaben können, ohne den Pflegeeltern größere finanzielle Opfer für die Erziehung fremder Kinder abzuverlangen, denen gegenüber sie nicht unterhaltspflichtig sind. Auch wenn die Pflegegelder einen Anreiz zur Aufnahme fremder Kinder schaffen sollen, ist das Pflegegeld nach seinem Zweck und seiner Bemessungsgrundlage kein nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen berechnetes Entgelt für Unterbringung und Betreuung, sondern lediglich Kostenersatz. Nur wenn den Pflegeeltern ein erheblich über den Pflegesätzen des zuständigen Jugendamtes liegendes Pflegegeld gezahlt wird, kann angenommen werden, dass sie nach marktwirtschaftlichen Grundsätzen für die Unterbringung und Betreuung entlohnt werden.
4. Nach Auffassung des FG ist durch die Haushaltsaufnahme des M ab Juni 2000 kein Pflegekindschaftsverhältnis begründet worden, weil die Ehefrau des Klägers wegen der Leistungen von der Kreisverwaltung und der Pflegekasse auch ab Juni 2000 erwerbswirtschaftlich tätig gewesen sei. Ob die Feststellungen des FG ausreichen, um die Entscheidung nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG a.F. zu rechtfertigen, kann dahinstehen. Für eine Entscheidung nach —dem für den Streitfall nunmehr maßgeblichen— § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG n.F. genügen die Feststellungen jedenfalls nicht. Das FG hat nur die von der Kreisverwaltung geleistete Eingliederungshilfe beziffert, nicht aber das von der Pflegekasse gezahlte Pflegegeld. Aus dem vom FG in Bezug genommenen Schreiben der Kreisverwaltung ergibt sich lediglich, dass sie keinen Betreuungsaufwand erstattete, weil dieser durch das erhaltene Pflegegeld abgedeckt war. Der Senat kann daher nicht beurteilen, ob aufgrund der Höhe der finanziellen Leistungen anzunehmen ist, M sei ab zu Erwerbszwecken in den Haushalt aufgenommen worden.
5. Die fehlenden Feststellungen des FG sind ein materieller Fehler, der zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG führt (Senatsurteil vom III R 77/03, BFHE 208, 215, BStBl II 2005, 340, m.w.N.).
Sofern das Pflegegeld die üblichen Regelsätze nicht überschreitet, wird das FG die weiteren Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG n.F. zu prüfen haben u.a., ob der Kläger und seine Ehefrau mit M durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden sind. Obwohl M vom bis zum im Rahmen eines heilpädagogischen Pflegenestes im Haushalt des Klägers untergebracht war —also „gewerbsmäßig” betreut wurde—, kann sich in diesen Jahren eine familienähnliche Beziehung entwickelt haben, zumal M bei Aufnahme in das Pflegenest erst fünf Jahre alt war.
Im Übrigen kann entgegen der Auffassung der Familienkasse in der Einspruchsentscheidung ein familienähnliches Band auch noch kurz vor Eintritt der Volljährigkeit begründet werden, wenn es sich um ein behindertes Kind handelt (vgl. Senatsurteil vom III R 53/02, BFH/NV 2005, 1547).
Der Annahme einer dauerhaften Bindung und einer dauerhaften Aufnahme in den Haushalt steht auch nicht von vornherein entgegen, dass M bereits ab September 2000 wieder in einem Heim untergebracht war. Nach der Rechtsprechung des BFH gehört ein behindertes Kind trotz Heimunterbringung weiterhin zum Haushalt der (Pflege-)Eltern, wenn es in einem zeitlich bedeutsamen Umfang im Haushalt weiterhin betreut wird (zu den Voraussetzungen im Einzelnen vgl. , BFHE 197, 296, BStBl II 2002, 244; vom VIII R 91/98, BFH/NV 2004, 324).
6. Der Senat weist ergänzend darauf hin, dass es sich bei der Klage des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld ab Juni 2000 nach der neueren Rechtsprechung des Senats um eine Verpflichtungsklage handelt (Senatsurteil vom III R 66/04, zur Veröffentlichung bestimmt). Ob Anspruch auf Erlass eines bestimmten Verwaltungsakts besteht, richtet sich grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung des FG. Das FG könnte die Familienkasse zur Festsetzung des Kindergelds ab Juni 2000 (also wie vom Kläger beantragt auf unbestimmte Zeit) nur verpflichten (§ 101 Satz 1 FGO), wenn alle Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergelds bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des FG vorlägen. Das FG müsste dies aber nicht selbst ermitteln, sondern könnte —wenn die von der Familienkasse angeführten Gründe für die Ablehnung des Kindergelds nicht zutreffen— sich darauf beschränken, den ablehnenden Bescheid sowie die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, über den Antrag des Klägers unter Beachtung der Rechtsauffassung des FG erneut zu entscheiden.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2006 S. 262 Nr. 2
NWB-Eilnachricht Nr. 20/2006 S. 53
NWB-Eilnachricht Nr. 9/2006 S. 653
LAAAB-72427