BFH Beschluss v. - I B 20/05

Keine Nichtigkeit des Bescheids bei Verletzung von Änderungsvorschriften; tatsächliche Verständigung als Zustimmung des Steuerpflichtigen zur Änderung von Steuerbescheiden

Gesetze: AO §§ 173, 172, 125, 88

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Beteiligten streiten darüber, ob gegenüber der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) erlassene Steuerbescheide nichtig sind. Das Finanzgericht (FG) hat dies verneint und auf dieser Basis die von der Klägerin erhobene Anfechtungsklage wegen Versäumung der Einspruchsfrist abgewiesen. Die Revision gegen sein Urteil hat es nicht zugelassen.

Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin geltend, dass die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung habe.

Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt —FA—) ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist unbegründet. Die von der Klägerin geltend gemachten Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.

1. Nach § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) ist die Revision gegen ein finanzgerichtliches Urteil u.a. zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (Nr. 1) oder wenn die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) erfordert (Nr. 2). Wird hierauf eine Nichtzulassungsbeschwerde gestützt, so ist das Vorliegen eines Zulassungsgrundes nur im Rahmen der vom Beschwerdeführer dargelegten (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO) Gründe zu prüfen.

2. Grundsätzliche Bedeutung i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat eine Rechtssache dann, wenn die Entscheidung des konkreten Rechtsstreits von der Beantwortung einer Rechtsfrage abhängt, die im Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts klärungsbedürftig ist (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 115 Rz. 23, m.w.N.). Eine solche Frage wirft das Vorbringen der Klägerin nicht auf:

a) Das FG hat angenommen, dass die angefochtenen Bescheide wirksam erlassen und die gegen sie gerichteten Einsprüche verspätet erhoben worden seien. Die Klägerin meint demgegenüber, dass die Bescheide unwirksam seien. Gegen die Ausführungen des FG zur Wahrung der Einspruchsfrist und zur Frage der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wendet sie sich nicht.

b) Es ist nicht klärungsbedürftig, dass die angefochtenen Bescheide nicht allein deshalb unwirksam sind, weil sie —wie die Klägerin meint— aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht hätten ergehen dürfen.

Die Rüge der Klägerin geht im Kern dahin, dass das FA zuvor erlassene Steuerbescheide zu ihrem —der Klägerin— Nachteil geändert habe, obwohl keine der in der Abgabenordnung (AO 1977) genannten Voraussetzungen für eine solche Änderung erfüllt gewesen sei. Die Überschreitung der verfahrensrechtlichen Änderungsmöglichkeiten führt jedoch regelmäßig nicht zur Nichtigkeit, sondern nur zur Anfechtbarkeit des betreffenden Bescheids (Senatsurteil vom I 98/63, BFHE 85, 321, BStBl III 1966, 325). Insoweit gilt dasselbe wie bei einer Steuerfestsetzung nach Ablauf der Festsetzungsfrist (hierzu , BFH/NV 1995, 275) oder ohne den gesetzlich vorgesehenen Antrag (dazu , BFHE 197, 554, BStBl II 2002, 438; Klein/Brockmeyer, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 125 Rz. 9; Tipke in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, § 125 Tz. 22, m.w.N.). Anders ist allenfalls dann zu entscheiden, wenn weitere Umstände hinzutreten, die den Rechtsverstoß als offenkundig erscheinen lassen (§ 125 Abs. 1 AO 1977). Solche Umstände, wie sie zum Beispiel bei einem bewusst fehlerhaften Verhalten der Behörde zu Lasten des Bürgers vorliegen mögen (vgl. dazu Senatsurteil vom I R 50/00, BFHE 194, 1, BStBl II 2001, 381), hat das FG jedoch im Streitfall nicht festgestellt. Angesichts dessen wirft seine Entscheidung, dass im Streitfall kein zur Nichtigkeit führender Rechtsfehler vorliege, keine grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage auf.

c) Eine solche ergibt sich entgegen der Annahme der Klägerin auch nicht daraus, dass die angefochtenen Bescheide auf einer „tatsächlichen Verständigung” zwischen den Beteiligten beruhen. Denn nach der gefestigten Rechtsprechung des BFH kann eine solche Verständigung jedenfalls insoweit keine Bindungswirkung erzeugen, als sie sich auf reine Rechtsfragen bezieht (Senatsurteil vom I R 71/03, BFHE 206, 42, BStBl II 2004, 742; Klein/Brockmeyer, a.a.O., § 78 Rz. 4, m.w.N.). Deshalb kann namentlich der Umstand, dass im konkreten Einzelfall die Änderung eines Steuerbescheids verfahrensrechtlich nicht zulässig ist, nicht durch eine „tatsächliche Verständigung” überspielt werden. Damit erweist sich zugleich die Befürchtung der Klägerin, dass es auf diesem Wege zu „gesetzesabweichenden Steuervereinbarungen” kommen könnte, als unbegründet. Richtig ist vielmehr, dass das Ergebnis einer „tatsächlichen Verständigung” nur im Rahmen der verfahrensrechtlich vorgegebenen Möglichkeiten in Steuerbescheide umgesetzt werden darf und dass dabei u.a. die Regelungen über die Bestandskraft und die Änderung von Verwaltungsakten zu beachten sind. Angesichts dessen besteht weder Raum noch ein Bedürfnis für die Annahme, dass ein Verstoß gegen jene Regelungen stets zur Nichtigkeit des betreffenden Verwaltungsakts führen müsse, wenn er mit einer „tatsächlichen Verständigung” zusammenhängt. Das bedarf keiner Klärung durch ein Revisionsverfahren, weshalb der Streitfall auch unter diesem Gesichtspunkt keine grundsätzliche Bedeutung aufweist.

d) Eine grundsätzliche Bedeutung fehlt schließlich deshalb, weil nach den Feststellungen des FG davon auszugehen ist, dass die ursprünglichen Bescheide jedenfalls nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a AO 1977 geändert werden durften. Diese Vorschrift lässt die Änderung eines Steuerbescheids u.a. zu, soweit der Steuerpflichtige zustimmt. Sie greift im Streitfall deshalb ein, weil ausweislich des angefochtenen Urteils die Klägerin im Zusammenhang mit der „tatsächlichen Verständigung” erklärt hat, „dass…nach den durchgeführten Änderungen sämtliche Einsprüche gegen die Steuerbescheide…erledigt” sein sollten. Darin liegt eine Zustimmung zur Durchführung der vereinbarten Änderungen, auf Grund derer die „tatsächliche Verständigung” unabhängig von den Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO 1977 verfahrensrechtlich umgesetzt werden durfte. Eine klärungsbedürftige Rechtsfrage stellt sich auch in diesem Zusammenhang nicht.

3. Im Ergebnis dasselbe gilt, soweit sich die Klägerin auf die Notwendigkeit einer Rechtsfortbildung beruft. Der Senat verzichtet auf weitere Ausführungen hierzu, da solche nicht geeignet wären, zur Klärung der Voraussetzungen für eine Revisionszulassung beizutragen (§ 116 Abs. 5 Satz 2 FGO).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:

Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1971 Nr. 11
MAAAB-61243