Urkundenbeweis in Sachen des § 418 Abs. 1 ZPO
Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt Urteil vom 4 K 10092/00
Gründe
Die Beschwerde ist begründet; das angefochtene Urteil wird wegen Verfahrensmängeln aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Finanzgericht (FG) zurückverwiesen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3, § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Zu Recht machen die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) geltend, das FG habe ihre eidesstattliche Versicherung zur Rechtzeitigkeit des Einspruchs gegen den angefochtenen Einkommensteuerbescheid unter Verstoß gegen § 96 Abs. 1 FGO unberücksichtigt gelassen, indem es sich mit Hinweis auf § 418 Abs. 1 der Zivilprozessordnung (ZPO) ausschließlich auf die Beweiskraft des Eingangsstempels der Finanzbehörde gestützt hat.
a) Mit dem FG ist allerdings davon auszugehen, dass ausweislich der Regelung in § 81 Abs. 1 Satz 2 FGO auch im finanzgerichtlichen Verfahren der Urkundenbeweis i.S. des § 418 Abs. 1 ZPO zulässig ist, selbst wenn § 82 FGO nicht auf die §§ 415 bis 444 ZPO verweist. Denn diese fehlende Verweisung soll lediglich die formalisierten Beweisregeln der ZPO zugunsten der freien richterlichen Beweiswürdigung im finanzgerichtlichen Verfahren ausschließen (, BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19; Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 82 FGO Rz. 2).
Mit dieser Maßgabe kommt einer öffentlichen Urkunde nach ständiger Rechtsprechung des BFH auch im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung hoher Beweiswert zu; nach allgemeinen Erfahrungssätzen erbringt sie im Regelfall vollen Beweis für die in ihr beurkundeten Tatsachen. Das gilt insbesondere für den Eingangsstempel einer Behörde oder eines Gerichts, der grundsätzlich als Beweis für Zeit und Ort des Eingangs eines Schreibens zu Grunde zu legen ist (vgl. , BFHE 108, 141, BStBl II 1973, 271; vom IV R 216/84, BFH/NV 1987, 17; vom X R 90/87, BFH/NV 1989, 110; in BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19, m.w.N.).
b) Dieser Beweiswert schließt es indessen nicht aus, dass das Gericht im Wege des Freibeweises trotz eines solchen Eingangsstempels von der Rechtzeitigkeit einer Rechtsbehelfs- oder Rechtsmitteleinlegung überzeugt ist (vgl. , Neue Juristische Wochenschrift —NJW— 1996, 2038). Danach kann der Beweis für den rechtzeitigen Einwurf eines Rechtsbehelfsschreibens in den Nachtbriefkasten durch eidesstattliche Versicherungen des Prozessbevollmächtigten und seiner Sekretärin auch dann erbracht werden, wenn der Eingangsstempel gegen den Einwurf in den Nachtbriefkasten spricht. Die Grundsätze dieser Entscheidung gelten auch im finanzgerichtlichen Verfahren (vgl. , BFH/NV 1999, 475, m.w.N.) und lassen insbesondere den Gegenbeweis durch Zeugen oder andere Beweismittel zu (BFH-Urteil in BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19 unter Bezugnahme auf den , BFH/NV 1990, 788).
Dabei ist das Gericht —anders als vom FG angenommen— jedenfalls nicht aus Rechtsgründen gehindert, im Einzelfall schon aufgrund einer eidesstattlichen Versicherung eine Entkräftung des Beweiswerts eines Eingangsstempels durch eine eidesstattliche Versicherung anzunehmen (vgl. , Versicherungsrecht —VersR— 1977, 721, 722; BGH-Entscheidung in NJW 1996, 2038). Denn der Beweiswert eines Eingangsstempels ist bereits erheblich gemindert und hindert eine weiter gehende gerichtliche Sachaufklärung zur Frage des Rechtsbehelfszugangs nicht, wenn der vom Rechtsbehelfsführer vorgetragene und glaubhaft gemachte Sachverhalt die sachliche Unrichtigkeit eines Eingangsstempels als wahrscheinlich ausweist (BFH-Urteil in BFH/NV 1987, 17). Ob diese Voraussetzung gegeben ist, hat das FG im Rahmen seiner freien Beweiswürdigung zu entscheiden.
2. Diese Möglichkeit freier Beweiswürdigung hat das FG im Streitfall ausweislich seiner Entscheidungsbegründung schon aus Rechtsgründen nicht als gegeben angesehen. Denn es hat sich an einer Auseinandersetzung mit dem detaillierten Vortrag der Klägerin zu dem behaupteten Einwurf des Einspruchs am letzten Tag der Einspruchsfrist allein durch die (rechtliche) Bindungswirkung des Eingangsstempels als öffentliche Urkunde gemäß § 418 Abs. 1 ZPO und die fehlende Eigenschaft der eidesstattlichen Versicherung als Beweismittel gehindert gesehen. Zu Unrecht beruft sich das FG für seine Auffassung auf das BFH-Urteil in BFHE 178, 303, BStBl II 1996, 19. Nach diesem Urteil wird die Beweiskraft des Eingangsstempels durch eine eidesstattliche Versicherung nicht widerlegt, wenn diese lediglich als Mittel der Glaubhaftmachung dient. Davon zu unterscheiden ist jedoch die Frage, ob der Inhalt des Eingangsstempels im Einzelfall durch Freibeweis widerlegt ist.
Ob der substantiierte und durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemachte Vortrag der Klägerin zum Einwurf des Einspruchsschreibens am letzten Tag der Einspruchsfrist in den Briefkasten des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) zutrifft, hat das FG deshalb durch entsprechende tatsächliche Feststellungen unter Würdigung der eidesstattlichen Versicherung zu prüfen.
Insoweit weist der Senat darauf hin, dass sich Zweifel an der Richtigkeit des Eingangsstempels auch aus dem Umstand ergeben können, dass das FA über keinen Nachtbriefkasten verfügte und deshalb besondere Feststellungen geboten sein könnten, ob diesem Umstand im Streitzeitraum tatsächlich durch gesonderte Poststempelung der am Vortag eingegangenen Post mit dem Datum des Vortags Rechnung getragen wurde (vgl. zur Wiedereinsetzung bei fehlendem Nachtbriefkasten , BFHE 114, 321, BStBl II 1975, 300; vgl. dazu auch BFH-Urteil in BFH/NV 1987, 17). Im Übrigen ist in Streitfällen der vorliegenden Art sowohl die Beteiligtenvernehmung wie auch die Vernehmung der Postbediensteten des FA als geeignetes Beweismittel angesehen worden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 1990, 788).
3. Das angefochtene Urteil ist gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen. Das dem BFH durch § 116 Abs. 6 FGO eingeräumte Ermessen hat den Zweck, das Rechtsmittelverfahren zu vereinfachen und zu beschleunigen. Im Streitfall entspricht es fehlerfreier Ermessensausübung, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu entscheiden und das Beschwerdeverfahren nicht gemäß § 116 Abs. 7 FGO als Revisionsverfahren fortzusetzen (Gräber/Ruban, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 116 Rz. 65, m.w.N.). Der geltend gemachte Verfahrensmangel würde auch im Fall einer Zulassung der Revision und der Fortsetzung des Beschwerdeverfahrens als Revisionsverfahren zur Aufhebung des FG-Urteils und Zurückverweisung der Sache an das FG führen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
SAAAB-56952