BFH Urteil v. - I R 54/04

Anforderung an die Zustellung eines Urteils

Gesetze: FGO § 53; ZPO § 174

Instanzenzug:

Gründe

I. Zwischen der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) und dem Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt —FA—) ist materiell-rechtlich streitig, ob die Klägerin in den Erhebungszeiträumen 1996 bis einschließlich 1998 (Streitjahre) die Voraussetzungen für die erweiterte Kürzung des Gewerbeertrags gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 des Gewerbesteuergesetzes (GewStG) erfüllte. Verfahrensrechtlich ist streitig, ob die Klägerin die Revisionsbegründungsfrist (§ 120 Abs. 2 der FinanzgerichtsordnungFGO—) versäumt hat.

Dem verfahrensrechtlichen Streit liegt folgender Sachverhalt zugrunde:

Das die Klage der Klägerin wegen der Gewerbesteuermessbeträge 1996 bis 1998 abgewiesen und die Revision zugelassen. Die für den Prozessbevollmächtigten der Klägerin, den Steuerberater G, bestimmte Briefsendung des FG mit dem Urteil und dem vorbereiteten Empfangsbekenntnis für die Zustellung ging am im D Büro des X-Verbandes (V) ein, dessen Angestellter G ist und dessen Büroorganisation G für seine Tätigkeit als Prozessvertreter mitbenutzt. Dort erhielt das Empfangsbekenntnis den Abdruck des Eingangsstempels des V mit dem Datum des . Es wurde ohne weitere Eingangsdatierung von G als Empfänger unterzeichnet und am per Telefax an das FG zurückgesandt.

Am hat G für die Klägerin Revision gegen das FG-Urteil eingelegt und angekündigt, das Rechtsmittel innerhalb der gesetzlichen Frist bis zum zu begründen. Mit Schriftsatz vom , der per Telefax am beim Bundesfinanzhof (BFH) einging, hat er die Revision begründet und sinngemäß beantragt, die Gewerbesteuermessbescheide für die Streitjahre in Gestalt der Einspruchsentscheidung dahin gehend zu ändern, dass die erweiterte Kürzung gemäß § 9 Nr. 1 Satz 2 GewStG gewährt wird.

Auf den Hinweis, dass die Revisionsbegründungsfrist bereits am abgelaufen und die Frist daher versäumt worden sei, hat die Klägerin vorgetragen:

Die Revisionsbegründungsfrist sei nicht versäumt worden, da das FG-Urteil ihrem Prozessbevollmächtigten erst am zugestellt worden sei. Die für V tätige Sekretärin M habe die Briefsendung mit dem FG-Urteil zwar am geöffnet und das Empfangsbekenntnis mit dem Abdruck des Posteingangsstempels vom versehen. Das FG-Urteil sei G aber erst am vorgelegt worden. An diesem Tag habe G auch das Empfangsbekenntnis unterzeichnet. Am —einem Freitag— und auch an den beiden folgenden Tagen sei G nicht in seinem D Büro gewesen und habe daher von dem FG-Urteil noch keine Kenntnis gehabt.

Zum Beweis dieser Angaben hat die Klägerin eidesstattliche Versicherungen des G und der M und eine Ablichtung des Fahrtenbuchs des G vorgelegt. Außerdem hat sie den Vorstandsvorsitzenden einer Genossenschaft als Zeugen dafür benannt, dass G sich am auf einer Geschäftsreise befunden habe.

Das FA beantragt sinngemäß, die Revision als unzulässig zu verwerfen.

II. Die Revision ist zulässig. Das FG-Urteil wurde G erst am zugestellt. Die Revisionsbegründungsfrist war somit am , dem Tag, an dem die Revisionsbegründung beim BFH einging, noch nicht abgelaufen.

1. Die Revisionsbegründungsfrist von grundsätzlich zwei Monaten beginnt mit Zustellung des vollständigen Urteils (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 FGO). Gemäß § 53 Abs. 1 und 2 FGO ist ein FG-Urteil von Amts wegen nach den Vorschriften der Zivilprozessordnung (ZPO) zuzustellen. Ist der Zustellungsadressat ein Steuerberater, Anwalt oder Notar und eine sonstige Person, bei der aufgrund ihres Berufs von einer erhöhten Zuverlässigkeit ausgegangen werden kann, darf gegen Empfangsbekenntnis zustellt werden (§ 174 Abs. 1 ZPO). Zum Nachweis der Zustellung genügt bei dieser Zustellungsform das mit Datum und Unterschrift des Adressaten versehene Empfangsbekenntnis (§ 174 Abs. 4 Satz 1 ZPO).

2. Zustellungstag ist bei einer Zustellung gegen Empfangsbekenntnis nicht der Tag, an dem das zuzustellende Schriftstück im Büro des Zustellungsadressaten eingeht oder in dem er das Empfangsbekenntnis unterzeichnet. Zustellungstag ist bei dieser Zustellungsform der Tag, an dem der Zustellungsadressat vom Zugang des übersandten Schriftstücks Kenntnis erlangt und es empfangsbereit entgegengenommen hat (s. Bundesgerichtshof, Beschlüsse vom VI ZB 77/02, Neue Juristische Wochenschrift 2003, 2460; vom XII ZB 37/98, Neue Juristische Wochenschrift-Rechtsprechung - Report Zivilrecht 1998, 1442 —jeweils m.w.N und zu § 212a ZPO a.F.—; , BFHE 193, 392, BStBl II 2001, 156 —zu § 5 Abs. 2 des Verwaltungszustellungsgesetzes—; Stöber in Zöller, Zivilprozessordnung, 24. Aufl., 2004, § 174 Rz. 14).

3. Aufgrund der vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen ist der erkennende Senat davon überzeugt, dass das FG-Urteil G erst am zugestellt wurde. G und M haben übereinstimmend erklärt und eidesstattlich versichert, G habe von dem FG-Urteil erst am Kenntnis erlangt. Auch das FA hält diese Angabe für glaubhaft.

4. Den Einwand des FA, das FG-Urteil sei bereits am zugestellt worden, da G als Angestellter des V in dessen Organisation eingebunden sei und bei seiner Abwesenheit andere Beschäftigte des V zur Entgegennahme von Zustellungen ermächtigt seien, hält der erkennende Senat nicht für durchgreifend.

Zustellungsadressat war nur G und nicht V. Dies zeigt das vom FG vorbereitete Empfangsbekenntnis. Die Klägerin hatte die Prozessvollmacht ausschließlich G und nicht auch dem V erteilt. Dass G Angestellter des V ist und für seine Tätigkeit als Prozessbevollmächtigter die Büroorganisation des V nutzt, lässt entgegen der Auffassung des FA nicht den Schluss zu, G habe andere bei V angestellte Personen —z.B. M oder den Rechtsanwalt und Steuerberater N, der die Revisionsbegründungsschrift mitunterzeichnet hat— bevollmächtigt, an ihn als Zustellungsadressaten gerichtete Schriftstücke zum Zwecke der Zustellung in Empfang zu nehmen (zur Annahme einer Empfangsvollmacht in Anwaltssozietäten s. Stöber in Zöller, a.a.O., § 174 Rz. 7). Wie die Rechtslage zu beurteilen wäre, wenn M oder N das Empfangsbekenntnis unterzeichnet hätte, muss nicht entschieden werden.

5. Die Revision erfüllt auch die anderen Zulässigkeitsvoraussetzungen. Dies ist zwischen den Verfahrensbeteiligten zu Recht nicht streitig.

6. Der erkennende Senat hat es für zweckmäßig gehalten, durch Zwischengerichtsbescheid vorab über die Zulässigkeit der Revision zu entscheiden (§ 97 i.V.m. §§ 90a, 121 Satz 1 FGO).

Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1572 Nr. 9
RAAAB-55279