Aufwendungen für Behandlung einer Lese- und Rechtschreibstörung als außergewöhnliche Belastung
Gesetze: EStG § 33
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Mit ihrer Einkommensteuererklärung für das Jahr 2000 machten die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger) Aufwendungen für die Behandlung einer Lese– und Rechtschreibstörung (Legasthenie) ihrer Tochter als außergewöhnliche Belastung nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) berücksichtigte diese Aufwendungen im Einkommensteuerbescheid 2000 nicht, weil die Kläger die medizinische Notwendigkeit der Behandlung nicht durch ein vor Beginn der Maßnahmen erstelltes amtsärztliches Gutachten nachgewiesen hätten.
Im Einspruchsverfahren legten die Kläger eine amtsärztliche Bescheinigung vom vor, in der der Tochter eine „Lese-Rechtschreibschwäche” attestiert wurde, die durch medizinische Behandlung oder pädagogische Maßnahmen gebessert werden könne. Bei dem Kind werde eine medizinische Behandlung praktiziert, die derzeit von den Krankenkassen noch nicht anerkannt werde. Das FA wies den Einspruch als unbegründet zurück. Ein nach Behandlungsbeginn erstelltes amtsärztliches Gutachten reiche nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) nicht aus, um die Behandlungskosten als Krankheitskosten nach § 33 EStG zu berücksichtigen.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt. Es sah die Legasthenie und die Notwendigkeit der durchgeführten Behandlung als nachgewiesen an. Es widerspreche dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung, wenn der BFH generell die Vorlage eines vor Beginn der Behandlung ausgestellten amtsärztlichen Attestes verlange, obwohl sich das FG aus ihm zugänglichen sonstigen Unterlagen die Überzeugung bilden könne, dass bestimmte Aufwendungen medizinisch notwendig seien. Die Entscheidung ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2003, 1787 veröffentlicht.
Die Revision begründete das FA im Wesentlichen mit der ständigen Rechtsprechung des BFH zum Erfordernis eines vor Beginn der Behandlung erstellten amtsärztlichen Attestes.
Das FA beantragt, die Klage unter Aufhebung der Vorentscheidung abzuweisen.
Die Kläger beantragen, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—).
1. Mit Urteil vom III R 8/91 (BFHE 169, 37, BStBl II 1993, 278) hat der Senat ausgeführt, dass Aufwendungen eines Unterhaltspflichtigen für die Behandlung seines Kindes, dessen Lese- und Rechtschreibfähigkeit beeinträchtigt sei, als Krankheitskosten gemäß § 33 EStG berücksichtigt werden könnten, wenn die Lese- und Rechtschreibschwäche im konkreten Fall eine Krankheit darstelle und die Aufwendungen zum Zwecke ihrer Heilung oder Linderung getätigt worden seien. Dies sei durch Vorlage eines amtsärztlichen Attestes nachzuweisen.
Bei Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht eindeutig und unmittelbar nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können und deren medizinische Indikation deshalb schwer zu beurteilen ist, verlangt der BFH seit der Entscheidung vom VI R 218/77 (BFHE 130, 54, BStBl II 1980, 295) grundsätzlich ein vor der Behandlung ausgestelltes amts- oder vertrauensärztliches Gutachten, aus dem sich die medizinische Notwendigkeit der betreffenden Maßnahme klar ergibt. Das gilt nach der Rechtsprechung des Senats auch für den Nachweis, dass eine Lese- und Rechtschreibschwäche Krankheitswert hat und eine Therapie erfordert (, BFH/NV 1998, 1480, und vom III R 54/98, BFHE 193, 79, BStBl II 2001, 94).
Unter bestimmten Voraussetzungen hat der Senat allerdings die Vorlage eines erst nachträglich ausgestellten amtsärztlichen Attestes genügen lassen. Dies betraf jeweils Sachverhalte, für die der Senat erstmals ein amts- oder vertrauensärztliches Gutachten als Nachweis der Zwangsläufigkeit verlangt hatte oder Fälle, in denen aufgrund der besonderen Verhältnisse in den neuen Bundesländern während einer Übergangsphase ein unverschuldeter Beweisnotstand zuzubilligen war (, BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613, unter II.1., m.w.N.).
2. Im Streitfall liegt ein amtsärztliches Attest vor, das eine „Lese-Rechtschreibschwäche” bestätigt, die durch medizinische Behandlung oder pädagogische Maßnahmen gebessert werden könne.
Abgesehen davon, dass es zweifelhaft ist, ob die Feststellung des FG, dieses Attest bestätige eine Lese- und Rechtschreibschwäche mit Krankheitswert, revisionsrechtlich Bestand haben könnte, haben die Kläger mit diesem erst im Einspruchsverfahren eingeholten Zeugnis die Anforderungen der Rechtsprechung an den zu führenden Nachweis nicht erfüllt.
Der Senat hält an der Notwendigkeit einer amtsärztlichen Begutachtung vor Beginn der therapeutischen Maßnahme fest. Wie bereits im Urteil in BFHE 169, 37, BStBl II 1993, 278 ausgeführt, kann eine Lese- und Rechtschreibschwäche verschiedene Ursachen haben. Sie stellt nicht in jedem Fall eine Krankheit im Sinne der zu § 33 EStG ergangenen Rechtsprechung des Senats dar. Ob es sich im Einzelfall um eine vorübergehende Lese- und Rechtschreibschwäche oder um eine auf eine Hirnfunktionsstörung zurückgehende Legasthenie handelt und ob deshalb bestimmte Behandlungen medizinisch notwendig sind, muss vor Behandlungsbeginn festgestellt sein. Nur so kann beurteilt werden, ob die anfallenden Kosten noch zu den der Lebensführung zuzurechnenden Aufwendungen für die (Schul-)Bildung des Kindes gehören oder zur Behandlung einer Krankheit für den Steuerpflichtigen unausweichlich und unvermeidbar und damit als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen sind.
Es ist deshalb gerechtfertigt, den Beteiligten im Rahmen ihrer Pflicht zur Mitwirkung bei der Erforschung des Sachverhalts durch das Gericht gemäß § 76 Abs. 1 Sätze 2 bis 4 FGO aufzuerlegen, die Nachweise zu beschaffen, aufgrund deren beurteilt werden kann, ob die Aufwendungen für die Behandlung einer Krankheit entstanden sind (vgl. Senatsurteil vom III R 48/93, BFH/NV 1995, 24, m.w.N.).
Im Streitfall besteht auch keine Veranlassung, das nachträglich erstellte Attest ausnahmsweise zu berücksichtigen. Denn der Senat hat bereits im Jahr 1998 ausdrücklich bestätigt, dass auch die Kosten für die Therapie einer Lese- und Rechtschreibschwäche nur steuermindernd zu berücksichtigen sind, wenn ein vor Beginn der Therapie ausgestelltes amtsärztliches Gutachten über deren Notwendigkeit vorgelegt wird (Senatsurteil in BFH/NV 1998, 1480). Die Finanzverwaltung hat bereits seit 1996 in R 189 Abs. 1 der Einkommensteuer-Richtlinien für den Nachweis einer krankhaften Legasthenie ein amtsärztliches Attest vor der Behandlung verlangt.
3. Die von den FG wiederholt vertretene Auffassung, der vom BFH für den Regelfall verlangte besondere Nachweis widerspreche dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO), hat der Senat mehrfach zurückgewiesen. Wenn über gleichartige Sachverhalte in einer Vielzahl von Verfahren zu entscheiden ist, handelt es sich bei der Beurteilung, unter welchen Voraussetzungen im Rahmen des Zumutbaren der Nachweispflicht genügt ist, auch um rechtliche Wertungen. Insoweit ist es der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht verwehrt, allgemeingültige Kriterien zur Konkretisierung der Nachweispflicht hinsichtlich der Notwendigkeit von Aufwendungen aufzustellen (vgl. Senatsurteil in BFHE 186, 79, BStBl II 1998, 613). Hieran hält der Senat fest.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 1286 Nr. 8
EStB 2005 S. 292 Nr. 8
HFR 2005 S. 846 Nr. 9
NWB-Eilnachricht Nr. 32/2005 S. 2691
DAAAB-54867