Haftung des Liquidators einer GmbH
Gesetze: AO § 69
Instanzenzug:
Gründe
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) in seiner Eigenschaft als ehemaliger Liquidator einer GmbH für deren Steuerschulden haftet.
Der Kläger wurde im Mai 1996 zum Liquidator der K-GmbH bestellt. Am hat er dem Beklagten und Beschwerdeführer (Finanzamt —FA—) mitgeteilt, dass er dieses Amt mit sofortiger Wirkung niedergelegt und die Alleingesellschafterin der K-GmbH entsprechend unterrichtet habe.
Schon vor der Einsetzung des Klägers als Liquidator hatte bei der K-GmbH eine Betriebsprüfung stattgefunden, die zu erheblichen Steuernachforderungen führte. Diese beruhten u.a. darauf, dass das FA Zahlungen der K-GmbH an eine ausländische Gesellschaft nicht als Betriebsausgaben anerkannte. In einem von der K-GmbH geführten Einspruchsverfahren gegen Körperschaftsteuerbescheide 1989 bis 1991 setzte das FA die ursprünglich festgesetzten Steuern auf insgesamt 343 394,50 DM herab; im Übrigen wies es den Einspruch zurück. Das Finanzgericht (FG) setzte mit Beschluss vom die Vollziehung dieser Entscheidung ohne Sicherheitsleistung aus; am wurde die Klage der K-GmbH als unbegründet abgewiesen.
Hinsichtlich der Körperschaftsteuer 1992 ging das FA ebenfalls davon aus, dass von der K-GmbH verbuchte Aufwendungen nur zum Teil als Betriebsausgaben abziehbar seien. Dies führte zu einer Steuerforderung in Höhe von 786 483 DM zuzüglich Zinsen und Solidaritätszuschlag. Alle genannten Beträge und überdies die gegen die K-GmbH festgesetzte Umsatzsteuer 1992 wurden nicht gezahlt.
Das FA wies deshalb den Kläger auf eine mögliche Haftung für die Steuerschulden der K-GmbH hin. Der Kläger bestritt eine Haftung, machte aber nicht die vom FA angeforderten Angaben zur Verwendung der bei der K-GmbH vorhandenen Mittel. Daraufhin erließ das FA gegen ihn einen Haftungsbescheid über Körperschaftsteuer, Umsatzsteuer und Nebenleistungen in Höhe von insgesamt 1 413 752,73 DM. Auf die Klage des Klägers hin hat das FG diesen Bescheid aufgehoben, ohne die Revision gegen sein Urteil zuzulassen.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde macht das FA geltend, dass die Revision nach § 115 Abs. 2 Nrn. 2 und 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zuzulassen sei.
Der Kläger ist der Nichtzulassungsbeschwerde entgegengetreten.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt gemäß § 116 Abs. 6 FGO zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG. Das FA rügt zu Recht, dass das FG seiner Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 76 Abs. 1 Satz 1 FGO) und zur Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) nicht genügt habe und dass das angefochtene Urteil hierauf beruhen kann.
1. Nach § 76 Abs. 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen (Satz 1), wobei es die Beteiligten heranziehen muss (Satz 2). Die Beteiligten haben eine Mitwirkungspflicht (Satz 3), deren Verletzung dazu führen kann, dass das FG den von ihm zu beurteilenden Sachverhalt in einer dem Mitwirkungspflichtigen nachteiligen Weise würdigt (, BFHE 156, 38, BStBl II 1989, 462). Ist ein im Ausland verwirklichter Sachverhalt zu beurteilen, so sind die Beteiligten zudem im Umfang und mit den Rechtsfolgen des § 90 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO 1977) zur Beschaffung von Beweismitteln verpflichtet (§ 76 Abs. 1 Satz 4 FGO). Das alles gilt auch dann, wenn es —wie im Streitfall— um einen Rechtsstreit wegen Haftung für Steuerschulden einer GmbH geht (, BFHE 157, 315, BStBl II 1990, 357, m.w.N.).
2. § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO verpflichtet das FG ferner, sich bei seiner Entscheidung auf das Gesamtergebnis des Verfahrens zu stützen. Das bedeutet u.a., dass das FG den Inhalt der ihm vorliegenden Akten vollständig und einwandfrei berücksichtigen muss (BFH-Beschlüsse vom II B 29/00, BFH/NV 2002, 512; vom II B 26/03, BFH/NV 2004, 1546; von Groll in Gräber, Finanzgerichtsordnung, 5. Aufl., § 96 Rz. 8, m.w.N.). Dabei gehört zum Akteninhalt u.a. das Vorbringen der Beteiligten (Senatsurteil vom I R 131/75, BFHE 126, 379, BStBl II 1978, 162). Deshalb muss das FG in seinem Urteil zwar nicht auf jede Einzelheit des Sachverhalts und des Beteiligtenvortrags ausdrücklich eingehen (, BFH/NV 2004, 1653, 1654, m.w.N.). Es verletzt jedoch seine Pflicht zur vollständigen Berücksichtigung des Streitstoffs, wenn es einen bestimmten Tatsachenvortrag erkennbar unberücksichtigt lässt, obwohl dieser auf der Basis seiner materiell-rechtlichen Auffassung entscheidungserheblich sein kann.
3. Im Streitfall geht es um die Frage, ob der Kläger in seiner Eigenschaft als Liquidator der K-GmbH seine Verpflichtung zur zumindest „anteiligen” Tilgung von Körperschaft- und Umsatzsteuerschulden der GmbH (vgl. hierzu , BFHE 150, 312, BStBl II 1988, 172; Senatsbeschluss vom I B 60/95, BFH/NV 1997, 7; Rüsken in Klein, Abgabenordnung, 8. Aufl., § 69 Rz. 23, m.w.N.) verletzt hat und deshalb gemäß § 69 AO 1977 für die ausgefallene Steuer haftet. Dazu ist das FG in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BFH davon ausgegangen, dass der Liquidator einer GmbH deren steuerliche Pflichten erfüllen muss (§ 34 Abs. 1 AO 1977) und dass er diese Verpflichtung nicht nur dann verletzt, wenn er festgesetzte Steuern aus den bei Fälligkeit vorhandenen Mitteln nicht bezahlt. Vielmehr kann nach Ansicht des FG eine haftungsbegründende Pflichtverletzung auch darin liegen, dass sich der gesetzliche Vertreter durch die Vorwegbefriedigung anderer Gläubiger schuldhaft außer Stand setzt, eine bereits entstandene und ihm bekannte Steuerforderung bei Eintritt der Fälligkeit zu tilgen (ebenso , BFHE 141, 443, BStBl II 1984, 776, 779; vom VII R 77/00, BFHE 204, 391; zum Fall der Aussetzung der Vollziehung auch Senatsbeschluss vom I B 116/96, BFH/NV 1998, 1460). Von dieser Rechtsauffassung ist deshalb bei der Prüfung der Verfahrensrügen des FA auszugehen.
4. Das FG hat der Klage mit der Begründung stattgegeben, dass das FA die objektive Beweislast für eine haftungsbegründende Pflichtverletzung des Klägers trage und eine solche Pflichtverletzung nicht habe nachweisen können. Daran ist richtig, dass die Finanzbehörde die Feststellungslast dafür trägt, dass und in welchem Umfang sie bei der Bedienung von Verbindlichkeiten gegenüber anderen Gläubigern benachteiligt worden ist (, BFHE 137, 1, BStBl II 1983, 249; vom VII R 190/82, BFH/NV 1987, 223). Für eine Entscheidung nach Beweislastgrundsätzen ist jedoch erst dann Raum, wenn nach Ausschöpfung der dem FG zur Verfügung stehenden Ermittlungsmöglichkeiten der Sachverhalt unaufgeklärt bleibt und zudem keinem der Beteiligten eine Verletzung seiner Mitwirkungspflicht vorzuwerfen ist, die im Rahmen der Sachverhaltswürdigung zu dessen Lasten wirken muss. Deshalb muss das FG, bevor es in dieser Weise entscheidet, auf der Basis des vollständigen Akteninhalts (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) die ihm nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO obliegende Amtsermittlung durchführen. Fehlt es hieran, so leidet das Urteil an einem Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
5. Nach diesen Grundsätzen hätte das FG im Streitfall zunächst versuchen müssen, die nach der Rechtsprechung zur „anteiligen Tilgung” maßgeblichen Daten zu ermitteln, also einerseits die während der Liquidatorentätigkeit des Klägers bestehenden Verbindlichkeiten der K-GmbH und andererseits die zu deren Tilgung verfügbaren Vermögenswerte zumindest überschlägig festzustellen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 150, 312, BStBl II 1988, 172). Dabei hätte es möglicherweise auf Angaben des Klägers zurückgreifen können, der eine entsprechende Mitwirkung wiederholt angeboten hatte. Erst wenn sich auf diese Weise eine ausreichende Sachaufklärung nicht hätte erreichen lassen, hätte über die daraus zu ziehenden Schlussfolgerungen befunden werden können; nur in diesem Fall wäre insbesondere für eine Beweislastentscheidung Raum gewesen (vgl. , BFH/NV 2003, 51). Dass das FG die hiernach bestehende weitere Aufklärungsmöglichkeit nicht wahrgenommen hat, ist ein Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
6. Das FA kann diesen Mangel mit der Nichtzulassungsbeschwerde rügen. Insbesondere hat es auf diese Rüge nicht in der ersten Instanz verzichtet. Es hat zwar in der mündlichen Verhandlung vor dem FG keinen entsprechenden Beweisantrag gestellt. Doch geht es im Streitfall um eine Aufklärungsmöglichkeit, deren Wahrnehmung so nahe lag, dass sie sich dem FG geradezu aufdrängen musste. In einer solchen Situation liegt in der Unterlassung eines förmlichen Beweisantrags kein Rügeverzicht (vgl. BFH-Beschlüsse vom X B 124/94, BFH/NV 1995, 238; vom VII R 72/99, BFHE 192, 390; vom X B 62/02, BFH/NV 2003, 1087). Schließlich kann das angefochtene Urteil auf dem Mangel der Sachaufklärung beruhen, da je nach dem Ergebnis entsprechender Ermittlungen das FG auf der Basis seiner materiell-rechtlichen Auffassung eine Haftung des Klägers möglicherweise bejaht hätte.
7. Das FG hat eine weitere Sachaufklärung möglicherweise deshalb für verzichtbar gehalten, weil es angenommen hat, dass dem Kläger zur Tilgung der Gesellschaftsschulden insgesamt nur 987 067 DM zur Verfügung standen und dass daraus u.a. eine —im FG-Urteil nicht näher spezifizierte— Umsatzsteuerschuld der K-GmbH in Höhe von 252 661 DM beglichen worden sei. Insoweit rügt das FA jedoch zu Recht, dass das FG nicht auf seinen Vortrag in der Einspruchsentscheidung eingegangen sei, wonach die K-GmbH während der Amtszeit des Klägers als Liquidator Umsatzerlöse in Höhe von ca. 5,5 Mio. DM erzielt habe. Dieser Vortrag wird in dem angefochtenen Urteil nicht erwähnt, so dass nicht erkennbar ist, ob das FG ihn zur Kenntnis genommen und sich mit ihm auseinandergesetzt hat.
Dieser Umstand ist für die Beurteilung des Streitfalls deshalb von Bedeutung, weil der genannte Vortrag —seine Richtigkeit unterstellt— auf der Basis des vom FG angewandten Grundsatzes der „anteiligen Tilgung” möglicherweise entscheidungserheblich ist. Aus ihm könnte sich nämlich ableiten lassen, dass durch die vom FA bezeichneten Umsatzerlöse der K-GmbH weitere Mittel zugeflossen sind, die sodann in dem maßgeblichen Zeitraum zur Tilgung von Schulden der Gesellschaft verwendet wurden. Unter diesem Gesichtspunkt hätte das FG den genannten Vortrag des FA überprüfen und das Ergebnis dieser Überprüfung im Urteil darstellen müssen. Dass es ihn vollständig unerwähnt lässt, deutet darauf hin, dass eine solche Überprüfung unterblieben ist. Darin liegt ein Verstoß gegen § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO und zugleich eine Verletzung des Anspruchs des FA auf rechtliches Gehör, auf der das angefochtene Urteil beruhen kann (§ 119 Nr. 3 FGO).
8. Angesichts dessen erweist sich die Nichtzulassungsbeschwerde als begründet, ohne dass auf die übrigen vom FA erhobenen Rügen eingegangen werden muss. Da die erfolgreich gerügten Verfahrensmängel in einem Revisionsverfahren nicht beseitigt werden können, hält der Senat es für sachgerecht, im Rahmen des Beschwerdeverfahrens das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 994 Nr. 7
AAAAB-52791