Behinderungsbedingter Mehraufwand volljähriger behinderter Kinder
Gesetze: EStG § 32 Abs. 4
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Bruder der 1937 geborenen D. D leidet an einer endogenen Depression mit vegetativer und psychischer Erregbarkeitssteigerung. Sie steht ständig unter Psychopharmaka und ist dauerhaft überwachungs- und betreuungsbedürftig. Ausweislich ihres Schwerbehindertenausweises beträgt der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit der D 70 v.H. Der Kläger hat nach den Feststellungen des Finanzgerichts (FG) die D in seinen Haushalt aufgenommen.
D erhält eine Altersrente und verfügt dadurch unstreitig über Einkünfte und Bezüge in Höhe von 17 348,32 DM jährlich.
Mit Bescheid vom hob der Beklagte und Revisionsbeklagte (Beklagter) die Festsetzung des Kindergeldes für D mit Wirkung ab Juni 1998 auf, da er der Auffassung war, dass D nicht außerstande gewesen sei, sich selbst zu unterhalten. Er ging dabei von einem Grundbedarf in Höhe von 12 360 DM und einem behinderungsbedingten Mehrbedarf —entsprechend dem anzuwendenden Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b Abs. 3 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG)— in Höhe von 1 740 DM, insgesamt also von einem Bedarf in Höhe von 14 100 DM aus.
Der Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg. Im Klageverfahren bezog er sich zur Begründung seiner Klage zunächst nur auf ein sozialgerichtliches Urteil aus dem Jahre 1981, nach dem ihm Kindergeld für seine Schwester zustand. Außerdem reichte er Kopien des Schwerbehindertenausweises sowie des letzten Rentenbescheides seiner Schwester ein und führte aus, dass der behinderungsbedingte Mehrbedarf weitgehend in einem Bedarf an persönlicher Betreuung bestehe, die von seiner Ehefrau geleistet werde, so dass eine konkrete Bezifferung in Geld nicht möglich sei. Seine Ehefrau müsse vier- bis fünfmal monatlich als Begleitperson seiner Schwester mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, mindestens einmal wöchentlich in einem 21 km vom Wohnort entfernten Ort für die Schwester kalorienreduzierte Nahrungsmittel einkaufen, 14-tägig mit der Schwester zum 5 km entfernten Hausarzt fahren, zwei- bis dreimal täglich in der Wohnung der Schwester kontrollieren, ob alles in Ordnung sei, und die Wohnung der Schwester pflegen und sauber halten. Er, der Kläger, erledige darüber hinaus die Korrespondenz seiner Schwester mit Behörden.
Das FG wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2002, 1395 veröffentlichten Gründen ab.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Abweichung der erstinstanzlichen Entscheidung von der Entscheidung des (BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72). Er macht geltend, dass das FG zu Unrecht eine „Bezifferung” des behinderungsbedingten Mehrbedarfs seiner Schwester gefordert habe. Der BFH fordere demgegenüber nur den Einzelnachweis des konkreten Mehrbedarfs. Diesen habe er zunächst durch Bezugnahme auf das sozialgerichtliche Urteil aus dem Jahre 1981, aber auch durch die Schilderung der Betreuungsleistungen seiner Ehefrau dargelegt; er habe lediglich davon abgesehen, diese Betreuungsleistungen in Geld zu bewerten. Dies sei seiner Auffassung nach Sache des Gerichts. Die Vorentscheidung beruhe auch auf dem gerügten Mangel, denn bei Zugrundelegung eines angemessenen Stundensatzes für die von seiner Ehefrau geleistete Betreuung, etwa 15 DM pro Stunde, sei ein individueller behinderungsbedingter Mehrbedarf seiner Schwester in Höhe von etwa 10 000 DM jährlich anzuerkennen.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung sowie den angefochtenen Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung aufzuheben, hilfsweise, ihm Kindergeld für seine Schwester zu gewähren.
Der Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Die tatsächlichen Feststellungen des FG reichen nicht aus, um zu entscheiden, ob die Schwester des Klägers während des streitigen Zeitraums behinderungsbedingt außerstande war, sich selbst zu unterhalten.
1. Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird ein volljähriges Kind für das Kindergeld berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
a) In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des BFH (vgl. BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, VI R 40/98, BFHE 189, 449, BStBl II 2000, 75, sowie VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79) ist die Vorinstanz davon ausgegangen, dass sich der gesamte existentielle Lebensbedarf eines behinderten Kindes aus dem allgemeinen Lebensbedarf (Grundbedarf) und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammensetzt. Zutreffend hat die Vorinstanz auch den Grundbedarf in Anlehnung an den maßgeblichen Jahresgrenzbetrag des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bestimmt (vgl. , BFH/NV 2003, 310).
b) Hinzu kommt nach der Rechtsprechung des BFH (a.a.O.) ein individueller behinderungsbedingter Mehraufwand, den gesunde Kinder nicht haben. Zu diesem gehören alle mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen, z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung, typische Erschwernisaufwendungen (vgl. Schmidt/Glanegger, Einkommensteuergesetz, 23. Aufl., § 33b Rz. 5). Erfolgt insoweit seitens des Steuerpflichtigen kein Einzelnachweis, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag (§ 33b Abs. 1 bis 3 EStG) als Anhalt für den betreffenden Mehrbedarf dienen. Neben dem Pauschbetrag ist nach neuerer Rechtsprechung des Senats ein Einzelnachweis von Aufwendungen, die mit dem Pauschbetrag abgegolten werden sollen, nicht zulässig (Senatsurteil vom VIII R 50/03, BFH/NV 2004, 1719). Zusätzlich zu dem Behinderten-Pauschbetrag können daher allenfalls noch Fahrtkosten in angemessenem Umfang geltend gemacht werden (Schmidt/ Glanegger, a.a.O.).
c) Von dieser Rechtsauffassung ist im Grundsatz auch die Vorinstanz ausgegangen. Zu Unrecht hat sie jedoch das Vorbringen des Klägers hinsichtlich des Betreuungsbedarfs seiner Schwester als zu unsubstantiiert zurückgewiesen. Das FG hat damit die Anforderungen an den nach der Rechtsprechung des BFH zu erbringenden Einzelnachweis des behinderungsbedingten Mehrbedarfs (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72) überspannt. Der BFH hat in der genannten Entscheidung zwar für die mit einer Behinderung unmittelbar und typisch zusammenhängenden außergewöhnlichen Belastungen wie z.B. Wäsche, Hilfeleistungen, Erholung und typische Erschwernisaufwendungen einen Einzelnachweis gefordert, wenn insoweit ein höherer Betrag als der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag berücksichtigt werden soll. Soweit es dabei um unentgeltlich geleistete Betreuungsleistungen geht, können diese jedoch nur im Wege einer Schätzung bewertet werden, die das FG vorzunehmen hat. Im Hinblick auf die zusätzlich anzuerkennenden Fahrtkosten hat der BFH darüber hinaus ausdrücklich eine pauschale Ermittlung zugelassen (BFH-Urteil in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.d der Gründe).
2. Die Sache ist nicht entscheidungsreif. Der Senat kann aufgrund der vom FG getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob für den behinderungsbedingten Mehrbedarf der Schwester des Klägers der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag gemäß § 33b EStG oder ein höherer individueller Mehrbedarf anzusetzen ist. Das FG wird dazu durch geeignete Beweismittel, wie z.B. Sachverständigengutachten oder auch ein amtsärztliches Attest, festzustellen haben, in welchem Umfang eine Betreuung der Schwester des Klägers tatsächlich notwendig war und in welchem Umfang der Kläger und seine Ehefrau entsprechende Betreuungsleistungen erbracht haben. Den Wert dieser Betreuungsleistungen wird das FG sodann zu schätzen haben (vgl. Senatsurteil in BFH/NV 2004, 1719). Zusätzlich wird es zu ermitteln haben, in welchem Umfang Fahrtkosten angefallen sind und inwieweit diese als angemessen anzusehen sind.
3. Das FG wird allerdings auch zu prüfen haben, ob, wie es in seinem Urteil —für den erkennenden Senat bindend— festgestellt hat, der Kläger seine Schwester tatsächlich in seinen Haushalt aufgenommen hat. Nach dem Inhalt der Akten und dem Revisionsvortrag des Klägers unterhält seine Schwester einen eigenen Haushalt. Sollte das der Fall sein, fehlte es an der nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG erforderlichen Haushaltsaufnahme, so dass der Klage bereits aus diesem Grund der Erfolg zu versagen wäre.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 691
BFH/NV 2005 S. 691 Nr. 5
GAAAB-43960