Ermessensreduzierung auf Null bei Zahlung eines Unterhaltsbeitrags des Kindergeldberechtigten; Voraussetzungen der Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Der im Jahr 1954 geborene W ist seit 1975 mit einem Grad von 100 v.H. schwerbehindert. Er ist in einer Einrichtung vollstationär untergebracht. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) kommt ab Januar 2002 im Rahmen der Eingliederungshilfe nach den §§ 39, 40 des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) für sämtliche Kosten auf. Der Vater des W, der zu seinem Kind keinerlei Kontakt mehr hatte und am verstorben ist, leistete seit Januar 2002 bis zu seinem Tod gemäß § 91 Abs. 2 BSHG Unterhalt in Höhe von 26 € monatlich.
Mit Schreiben vom beantragte der Kläger bei dem Beklagten und Revisionskläger (Beklagter) die Abzweigung des für W zugunsten des Vaters festgesetzten Kindergeldes an sich nach § 74 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Der Beklagte lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass vom Vater Unterhalt gewährt werde und deshalb eine Abzweigung nicht möglich sei. Er wies den Einspruch als unbegründet zurück, da eine Unterhaltspflichtverletzung nicht ersichtlich und somit eine Abzweigung nicht zulässig sei.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage auf Abzweigung des Kindergeldes in vollem Umfang statt. Es entschied, dass § 74 Abs. 1 EStG entgegen der Auffassung des Beklagten nicht voraussetze, dass der Kindergeldberechtigte seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme. Nach § 74 Abs. 1 Satz 3, 2. Alternative EStG sei eine Abzweigung auch dann zulässig, wenn der Kindergeldberechtigte Unterhalt nur in Höhe eines Betrages zu leisten brauche und auch leiste, der geringer sei als das für die Auszahlung in Betracht kommende Kindergeld. Diese Voraussetzung sei im Streitfall unabhängig davon erfüllt, ob davon auszugehen sei, dass der Vater des W mit der tatsächlichen Zahlung des Betrages von 26 € seiner Unterhaltspflicht in vollem Umfang nachkomme. Im Streitfall sei der Beklagte davon ausgegangen, dass bereits die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermessensvorschrift des § 74 Abs. 1 Satz 4 EStG nicht vorlägen; er habe deshalb das ihm eingeräumte Ermessen zu Unrecht nicht ausgeübt (Ermessensunterschreitung). Zwar sei das Gericht bei einer Ermessensentscheidung grundsätzlich auf die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung beschränkt. Ausnahmsweise gelte bei einer sog. Ermessensreduzierung auf Null etwas anderes. In Anbetracht dessen, dass der Vater mit monatlich 26 € nicht einmal 1 v.H. der insgesamt anfallenden Kosten von 2 800 € getragen habe, sei es mit der Zielsetzung staatlicher Unterstützungsleistungen nicht zu vereinbaren, das Kindergeld —auch nicht teilweise— beim Kindergeldberechtigten zu belassen.
Der Beklagte rügt mit seiner Revision einen Verstoß gegen § 74 Abs. 1 EStG. Er ist der Auffassung, eine Abzweigung des Kindergeldes nach dieser Vorschrift sei nur dann zulässig, wenn der Kindergeldberechtigte seine Unterhaltspflicht verletze. Bei einer Heranziehung der Eltern vollstationär untergebrachter behinderter Kinder nach § 91 Abs. 2 BSHG in Höhe von 26 € sei keine Unterhaltspflichtverletzung zu unterstellen. Zwar habe der erkennende Senat mit Urteil vom VIII R 58/03 (BFHE 206, 1) entschieden, dass ein Sozialhilfeträger, der im Rahmen der Eingliederungshilfe die gesamten Kosten für die vollstationäre Unterbringung eines behinderten volljährigen Kindes übernehme, die Abzweigung des Kindergeldes in voller Höhe beanspruchen könne, wenn der Kindergeldberechtigte keinerlei Aufwendungen für den Unterhalt des Kindes oder die Kontaktpflege mit dem Kind trage. Der Unterschied zum Streitfall liege darin, dass hier der Vater tatsächlich den Betrag zahle, zu dem er gemäß § 91 Abs. 2 Satz 3 BSHG herangezogen werde.
Der Beklagte beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision des Beklagten ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Das angefochtene Urteil verstößt gegen die Grundordnung des Verfahrens, weil das FG die notwendige Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO) des Vaters, zu dessen Gunsten das Kindergeld festgesetzt worden ist, unterlassen hat.
1. Der Senat hat mit Beschluss vom VIII R 21/03 (BFH/NV 2004, 662) entschieden, dass zu dem Verfahren über ein Abzweigungsbegehren nach § 74 Abs. 1 EStG der Elternteil, zu dessen Gunsten das Kindergeld festgesetzt ist, notwendig beizuladen ist. Wegen der Einzelheiten der Begründung wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf den Inhalt dieses Beschlusses Bezug genommen. Im Streitfall hat das FG den Vater nicht zum Verfahren beigeladen.
Zwar kann der Bundesfinanzhof (BFH) gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO eine im finanzgerichtlichen Verfahren unterlassene notwendige Beiladung nachholen. Der Senat sieht davon im Streitfall aber im Hinblick darauf ab, dass der Vater am verstorben ist und somit die Beiladung erst nach Ermittlung der Erben möglich ist.
2. Aus Gründen der Prozessökonomie bemerkt der Senat für den zweiten Rechtsgang Folgendes:
Die Auffassung der Vorinstanz, im Streitfall seien die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 74 Abs. 1 Sätze 1 und 3, 2. Alternative und Satz 4 EStG für eine Abzweigung erfüllt und der Beklagte habe deshalb das ihm in dieser Vorschrift eingeräumte Rechtsfolgeermessen, ob und ggf. in welcher Höhe das Kindergeld an den Kläger auszuzahlen ist, auszuüben gehabt, ist rechtsfehlerfrei. Sie steht im Einklang mit der Rechtsprechung des Senats in den Urteilen in BFHE 206, 1 und vom VIII R 21/03 (juris).
Das FG hat auch zutreffend erkannt, dass der Beklagte als Folge seiner Auffassung, dass der Tatbestand des § 74 Abs. 1 EStG nicht erfüllt sei, seiner Pflicht zur Ermessensausübung nicht nachgekommen ist (sog. Ermessensunterschreitung).
Das FG hat jedoch zu Unrecht von dem Erlass eines Bescheidungsurteils gemäß § 101 Satz 2 FGO abgesehen und den Beklagten stattdessen zur Auszahlung des gesamten Kindergeldes an den Kläger verpflichtet. Entgegen der Auffassung des FG liegt im Streitfall keine sog. Ermessensreduzierung auf Null dahin gehend vor, dass einzig die Entscheidung ermessensgerecht sei, das gesamte Kindergeld an den Kläger auszuzahlen. Der Beklagte hat bei der Ausübung des ihm in § 74 Abs. 1 EStG eingeräumten Ermessens den Zweck des Kindergeldes zu berücksichtigen (§ 5 der Abgabenordnung —AO 1977—). Das Kindergeld dient der steuerlichen Freistellung eines Einkommensbetrages in Höhe des Existenzminimums eines Kindes und, soweit es dafür nicht erforderlich ist, der Förderung der Familie (§ 31 Sätze 1 und 2 EStG). Im Streitfall ist der Vater zu einer Unterhaltszahlung von 26 € herangezogen worden und er hat diesen Betrag auch tatsächlich geleistet. Der Zweck des Kindergeldes, eine steuerliche Entlastung von Eltern wegen ihrer Unterhaltsleistungen zu bewirken, lässt es entgegen der Ansicht des FG nicht als ermessensfehlerhaft erscheinen, selbst geringe regelmäßige Unterhaltszahlungen des Kindergeldberechtigten bei der Bestimmung der Höhe des abzuzweigenden Kindergeldes zu berücksichtigen. Es wird zu bedenken sein, dass —wie sich im Umkehrschluss aus § 74 Abs. 1 Satz 3, 2. Alternative EStG ergibt— eine Abzweigung nicht zulässig ist, wenn die Unterhaltspflicht der Höhe nach dem Kindergeld entspricht oder höher ist. Kann eine Abzweigung aber bereits bei Erfüllung einer Unterhaltspflicht in Höhe des Kindergeldes nicht mehr erfolgen, erscheint es ermessensgerecht, wenn das Kindergeld auch nur abzüglich der Unterhaltsleistung des Vaters abgezweigt wird.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2005 S. 692
BFH/NV 2005 S. 692 Nr. 5
SAAAB-43687