Auskunftsanspruch eines zukünftigen Konkurrentenklägers [BStBl 2004 II S. 1034]
Leitsatz
Kann sich ein privater Steuerpflichtiger, der mit einer Einrichtung des öffentlichen Rechts im Wettbewerb steht und geltend macht, deren Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung sei rechtswidrig, auf Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG berufen? (Vorlage an den EuGH)
Gesetze: Richtlinie 77/388/EWG Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2UStG § 2 Abs. 3 Satz 1AO 1977 AO 1977 § 30 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. aAO 1977 § 30 Abs. 4 Nr. 1FGO § 40 Abs. 2
Instanzenzug: FG des Landes Sachsen-Anhalt vom 1 K 30456/99 (EFG 2003, 910),
Gründe
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ein gemeinnütziger Feuerbestattungsverein, der in H Einäscherungen durchführt. Die Beigeladene, eine Gemeinde, betreibt ebenfalls ein Krematorium. Der Kläger beantragte beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt —FA—), ihm Auskunft darüber zu erteilen, wann und unter welcher Steuernummer gegenüber der Beigeladenen der letzte Umsatzsteuerbescheid ergangen sei und ob dieser Bescheid bestandskräftig geworden sei. Der Kläger befürchtet, die Beigeladene werde nicht zur Umsatzsteuer herangezogen, weshalb sie ihre Leistungen günstiger anbieten könne.
Das FA lehnte die Erteilung der begehrten Auskunft unter Hinweis auf die Verpflichtung zur Wahrung des Steuergeheimnisses ab. Auf die vom Kläger nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage verpflichtete das Finanzgericht (FG) das FA unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen, den Kläger erneut zu bescheiden. Zur Begründung führte das FG unter anderem aus, der Kläger habe einen Anspruch darauf, dass über sein Auskunftsbegehren im Wege pflichtgemäßen Ermessens entschieden werde. Zwar hätten Amtsträger nach § 30 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO 1977) das Steuergeheimnis zu wahren. Das FA habe jedoch § 30 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO 1977 verkannt, wonach die Offenbarung der in einem Verwaltungsverfahren erlangten Kenntnisse zulässig sei, soweit sie der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen diene. Der Kläger beabsichtige, gegen die der Beigeladenen gegenüber ergangenen Bescheide Klage zu erheben. Eine solche Klage wäre zulässig. Der Kläger könne geltend machen, dass die von ihm vermutete Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung der Beigeladenen ihn in seinen Rechten verletze. Denn § 2 Abs. 3 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) diene auch dem Schutz privater Wettbewerber.
Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Revision.
II.
Der Senat setzt das bei ihm anhängige Revisionsverfahren aus (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Finanzgerichtsordnung —FGO—) und legt dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) gemäß Art. 234 Unterabs. 3 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft die im Tenor formulierte Frage zur Vorabentscheidung vor.
III.
Die Entscheidung über die Revision hängt davon ab, ob sich der Kläger als privater Unternehmer darauf berufen kann, dass die von ihm vermutete Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung der Beigeladenen rechtswidrig sei. Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine Auslegung des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG), die nach Ansicht des Senats Zweifelsfragen aufwirft.
Einer Erteilung der vom Kläger begehrten Auskunft könnte § 30 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO 1977 entgegenstehen. Danach unterliegen die steuerlichen Verhältnisse der Beigeladenen dem Steuergeheimnis. Allerdings sind die Voraussetzungen des § 30 Abs. 4 Nr. 1 AO 1977 dem Grunde nach erfüllt. Die Offenbarung der dem Steuergeheimnis unterliegenden Kenntnisse dient an sich der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen, weil über das vom Kläger als Wettbewerber geltend gemachte Recht in einem Gerichtsverfahren in Steuersachen zu entscheiden ist (vgl. BFHE 184, 212, 220, BStBl II 1998, 63, 68). Wie das FG für den Senat bindend festgestellt hat, beabsichtigt der Kläger, wegen der von ihm vermuteten Nichtbesteuerung oder zu niedrigen Besteuerung der Beigeladenen eine Konkurrentenklage zu erheben. Eine derartige Klage wäre statthaft (vgl. BFH-Urteil in BFHE 184, 212, BStBl II 1998, 63).
Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine Offenbarung der dem Steuergeheimnis unterliegenden Kenntnisse gemäß § 30 Abs. 4 Nr. 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AO 1977 jedoch nur zulässig, soweit dies für die Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens in Steuersachen erforderlich ist. Die Erteilung der vom Kläger begehrten Auskunft über die steuerlichen Verhältnisse der Beigeladenen wäre nicht erforderlich, wenn die von ihm beabsichtigte Konkurrentenklage bereits mangels Klagebefugnis (§ 40 Abs. 2 FGO) unzulässig wäre und deshalb über das von ihm als Wettbewerber geltend gemachte Recht in der Sache nicht entschieden werden könnte.
Eine in § 40 Abs. 1 FGO bezeichnete Klage ist nach § 40 Abs. 2 FGO grundsätzlich nur zulässig, wenn der Kläger geltend machen kann, durch den Verwaltungsakt oder durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts oder einer anderen Leistung in seinen Rechten verletzt zu sein. In der Regel werden nur die Rechte der Steuergläubiger verletzt, die von den Behörden der Finanzverwaltung im Interesse der Allgemeinheit wahrzunehmen sind, wenn ein Steuerpflichtiger rechtswidrig nicht oder zu niedrig besteuert wird. Eine Verletzung der Rechte eines an dem betreffenden Steuerschuldverhältnis nicht beteiligten Dritten kommt nur in Betracht, wenn die Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung gegen eine Norm verstößt, die nicht ausschließlich im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere im öffentlichen Interesse an der gesetzmäßigen Steuererhebung und Sicherung des Steueraufkommens erlassen wurde, sondern —zumindest auch— dem Schutz der Interessen einzelner an dem betreffenden Steuerschuldverhältnis nicht beteiligter Dritter dient (vgl. Senatsbeschluss vom VII R 50-51/82, BFHE 142, 20, 23, BStBl II 1985, 12, 14; BFH-Urteil in BFHE 184, 212, 216, BStBl II 1998, 63, 66).
Es kann dahinstehen, ob schon § 2 Abs. 3 Satz 1 UStG, wonach juristische Personen des öffentlichen Rechts nur im Rahmen ihrer Betriebe gewerblicher Art und ihrer land- oder forstwirtschaftlichen Betriebe gewerblich oder beruflich tätig sind, zumindest auch dem Schutz privater Wettbewerber zu dienen bestimmt ist. Denn bei der Auslegung des § 2 Abs. 3 Satz 1 UStG ist Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG zu beachten (vgl. , BFHE 182, 454, 457, BStBl II 1999, 418, 420; vom V R 78/01, BFHE 201, 554, 558, BStBl II 2004, 431). Nach Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG gelten Staaten, Länder, Gemeinden und sonstige Einrichtungen des öffentlichen Rechts nicht als Steuerpflichtige, soweit sie die Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, die ihnen im Rahmen der öffentlichen Gewalt obliegen, auch wenn sie im Zusammenhang mit diesen Tätigkeiten oder Leistungen Zölle, Gebühren, Beiträge oder sonstige Abgaben erheben. Falls sie jedoch solche Tätigkeiten ausüben oder Leistungen erbringen, gelten sie für diese Tätigkeiten oder Leistungen als Steuerpflichtige, sofern eine Behandlung als Nicht-Steuerpflichtige zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen würde (Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG). Der 231/87 und 129/88 —Ufficio distrettuale delle imposte dirette di Fiorenzuola d'Arda u.a.— (EuGHE 1989, 3233 Rdnr. 31) entschieden, dass Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG inhaltlich hinreichend genau sei und sich die Einrichtungen öffentlichen Rechts deshalb auf diese Bestimmung berufen könnten. Ferner hat der EuGH in diesem Urteil unter Rdnr. 22 ausgeführt, Zweck des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG sei es, die Steuerneutralität zu gewährleisten, wenn Einrichtungen des öffentlichen Rechts im Rahmen der eigens für sie geltenden rechtlichen Regelung Tätigkeiten ausübten, die —im Wettbewerb mit ihnen— auch von Privaten ausgeübt werden könnten.
Obgleich der EuGH noch nicht entschieden hat, dass sich auch private Wettbewerber auf Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG berufen können, erscheint es dem Senat nicht ausgeschlossen zu sein, dass diese Bestimmung zumindest auch deren Schutz zu dienen bestimmt ist. Denn eine Behandlung der Einrichtungen des öffentlichen Rechts als Nicht-Steuerpflichtige kann regelmäßig nur zu Lasten privater Wettbewerber zu größeren Wettbewerbsverzerrungen führen. Der Kläger hat nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG überdies dargelegt, dass er durch die von ihm vermutete Nichtbesteuerung oder zu niedrige Besteuerung der Beigeladenen konkrete Wettbewerbsnachteile erleide.
Andererseits könnten die Ausführungen des EuGH in seinem Urteil in EuGHE 1989, 3233 Rdnr. 22 auch dahin verstanden werden, dass Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG lediglich bezweckt, die objektive Steuerneutralität zu gewährleisten, ohne dass private Wettbewerber hieraus eigene Rechte herleiten könnten. Der Schutz privater Wirtschaftsteilnehmer vor Wettbewerbsnachteilen, die ihnen durch die wirtschaftliche Betätigung der in Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG genannten öffentlichen Einrichtungen entstehen, würde sich bei einem solchen Verständnis der Richtlinie 77/388/EWG nur als ein bloßer Reflex darstellen.
Wegen der bestehenden Zweifel an der zutreffenden Auslegung des Art. 4 Abs. 5 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG hält es der Senat daher für erforderlich, den EuGH um eine Vorabentscheidung zu ersuchen.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BStBl 2004 II Seite 1034
BB 2004 S. 2337 Nr. 43
BFH/NV 2004 S. 1577
BFH/NV 2004 S. 1577 Nr. 11
BStBl II 2004 S. 1034 Nr. 23
DB 2004 S. 2794 Nr. 52
DStR 2004 S. 1829 Nr. 43
DStRE 2004 S. 1320 Nr. 21
INF 2004 S. 848 Nr. 22
KÖSDI 2004 S. 14399 Nr. 11
StB 2004 S. 444 Nr. 12
UR 2004 S. 617 Nr. 11
SAAAB-27662