Hinzuziehung zum Verfahren nach § 360 AO
1 Allgemeines
Sinn und Zweck der Hinzuziehung nach § 360 AO ist es, in das Verfahren Dritte als Beteiligte einzubeziehen, die nicht Einspruch eingelegt haben oder die Gegner des Einspruchsführers sind, denen gegenüber aber die Entscheidung zweckmäßig oder auch notwendig bindende Wirkung haben soll. Sie soll das Verfahren vereinfachen und abweichende Entscheidungen vermeiden.
Unterschieden wird dabei zwischen der
einfachen Hinzuziehung nach § 360 Abs. 1 AO und der
notwendigen Hinzuziehung nach § 360 Abs. 3 AO.
Eine Hinzuziehung ist nicht geboten in einem Verfahren über die Aussetzung der Vollziehung [1] sowie bei einem offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelf. [2]
2 Einfache Hinzuziehung
Die einfache Hinzuziehung setzt die Möglichkeit [3] voraus, dass die steuerrechtlichen Interessen eines Dritten durch die Einspruchsentscheidung berührt werden. „Berührt” sind die Interessen dann, wenn das Unterliegen oder Obsiegen des Einspruchsführers die Rechtslage des Hinzuzuziehenden beeinträchtigen könnte. Voraussetzung ist jedoch nicht, dass nur eine einheitliche Entscheidung möglich ist bzw. sich zwingend Rechtsfolgen für den Hinzuzuziehenden ergeben. Ein vom Gesetz selbst genannter Beispielsfall ist der des Haftungsschuldners Wirtschaftliche, persönliche oder tatsächliche Auswirkungen der Entscheidung auf Dritte reichen nicht aus. [4]
Die Entscheidung liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Finanzamts. Dabei ist grundsätzlich nicht kleinlich zu verfahren. Zu beachten ist jedoch das Steuergeheimnis. Eine Offenbarung ist nur insoweit zulässig, wie sie für die Durchführung der Hinzuziehung erforderlich ist (§ 30 Abs. 4 Nr. 2 AO).
Die einfache Hinzuziehung kommt insbesondere bei Gesamtschuldverhältnissen in Betracht.
Von der Hinzuziehung sollte, außer bei der Zusammenveranlagung von Ehegatten (vgl. Tz. 3), nach Möglichkeit dann abgesehen werden, wenn die rechtlichen Interessen des Dritten den Belangen des Einspruchsführers zuwiderlaufen. [5]
Ist absehbar, dass dem Einspruch stattgegeben werden kann oder dass eine einvernehmliche Erledigung wahrscheinlich ist, sollte, außer bei Zusammenveranlagung von Ehegatten (vgl. Tz. 3), wegen der sonst erforderlichen Zustimmung des Hinzugezogenen (s. Tz. 6) ebenfalls von einer einfachen Hinzuziehung abgesehen werden.
3 Hinzuziehung bei zusammenveranlagten Ehegatten als Hauptanwendungsfall der einfachen Hinzuziehung
Wenn nicht beide Ehegatten Einspruch eingelegt haben, ist die einfache Hinzuziehung bei zusammenveranlagten Ehegatten zweckmäßig, um zu verhindern, dass gegen die Ehegatten als Gesamtschuldner unterschiedliche Steuerbeträge festgesetzt werden. [6] Bei einem Streit über die Zurechnung von Einkünften oder bei entgegengesetzten Interessen der Ehegatten soll immer eine Hinzuziehung erfolgen.
Der Einspruch eines Ehegatten gegen den Bescheid über eine Zusammenveranlagung kann nicht ohne weiteres auch als Einspruch des anderen Ehegatten angesehen werden. [7] Deshalb ist zunächst zu prüfen, ob sich nicht aus anderen Umständen ergibt, dass der Einspruch von beiden Ehegatten erhoben wurde („… legen wir Einspruch ein …”; Namen beider Ehegatten im Briefkopf genannt oder Unterschrift beider Ehegatten).
Ergeben sich keine Anhaltspunkte, die zuverlässig auch auf einen Einspruch des Ehegatten hindeuten, ist beim Verfasser des Einspruchsschreibens zurück zu fragen, ob er den Einspruch zugleich im Namen seines Ehegatten eingelegt hat. Diese Anfrage kann zweckmäßigerweise mit der Ankündigung der Hinzuziehung (§ 360 Abs. 1 Satz 2 AO) verbunden werden.
Von einer solchen Anfrage ist aber abzusehen, wenn der Einspruchsführer eindeutig zu erkennen gegeben hat, den Einspruch nur im eigenen Namen eingelegt zu haben (im Briefkopf nur Einspruchsführer angegeben; Schreiben in Ich-Form, nur Namensangabe und Unterschrift des Einspruchsführers am Ende des Schreibens).
Greift der Einspruchsführer beispielsweise den Einkommensteuerbescheid auch oder ausschließlich wegen Besteuerungsgrundlagen seines Ehegatten an, ist dadurch nicht automatisch auch ein Einspruch des anderen Ehegatten gegeben, weil der Einspruchsführer den Bescheid auch insoweit anfechten kann, als dieser vom Ehegatten bezogene Einkünfte betrifft. [8] In diesem Fall ist jedoch eine zeitnahe Rückfrage beim Einspruchsführer geboten, ob der Einspruch auch im Namen des Ehegatten im Wege der Bevollmächtigung (§ 80 AO) erhoben wurde.
Die gängige Formulierung von Angehörigen der steuerberatenden Berufe, „… im Namen meines Mandanten …” einen Einspruch einzulegen, ist noch kein eindeutiger Hinweis darauf, dass das Einspruchsverfahren nur für einen Ehegatten geführt werden soll.
Ein von beiden Ehegatten unterzeichnetes Schreiben, das nach Ablauf der Einspruchsfrist eingeht, ist nicht ausreichend, um das Einspruchschreiben nachträglich als Einsprüche beider Ehegatten auszulegen. [9]
4 Notwendige Hinzuziehung
Kann eine Entscheidung über einen Einspruch gegenüber Dritten nur einheitlich ergehen, so sind diese notwendig hinzuzuziehen. Es handelt sich hierbei nicht um eine Ermessensentscheidung. Notwendig hinzugezogen werden können aber nur Personen, die selbst zur Einlegung eines Einspruchs gegen den Verwaltungsakt befugt sind (§ 360 Abs. 3 Satz 2 AO).
Die notwendige Einheitlichkeit der Entscheidung kann ihren Grund im materiellen Recht oder im Verfahrensrecht haben. Dies gilt in allen Fällen, in denen die Bestandskraft auch gegenüber einem Dritten wirkt, also insbesondere bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung, die den Einspruchsführer belasten und den Dritten begünstigen, und bei gesonderten und einheitlichen Feststellungen.
Soweit es bei Ehegatten Streit über die Zusammenveranlagung oder getrennte Veranlagung gibt, ist der nicht den Einspruch führende Ehegatte notwendig hinzuziehen. [10]
Zur notwendigen Hinzuziehung von Beteiligten bei Einspruchsverfahren gegen gesonderte und einheitliche Feststellungen vgl. AO-Kartei § 360 AO Karte 3.
5 Zeitpunkt und Durchführung der Hinzuziehung
Die Prüfung, ob ein Dritter hinzuzuziehen ist und die Vornahme der Hinzuziehung sollte zeitnah nach Eingang des Einspruchs und noch vor Abgabe an die Rechtsbehelfsstelle erfolgen.
In Fällen der notwendigen Hinzuziehung ist diese auch vor der Erteilung von Abhilfebescheiden nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO bzw. § 164 Abs. 2 AO erforderlich. In Fällen der einfachen Hinzuziehung empfiehlt sich die vorherige Hinzuziehung. [11]
Sowohl vor der einfachen als auch vor der notwendigen Hinzuziehung ist der Einspruchsführer dazu zu hören (§ 360 Abs. 1 Satz 2 AO, AEAO zu § 360 Nr. 2). Dem Einspruchsführer soll die Möglichkeit gegeben werden, den Einspruch zurückzunehmen, bevor der Hinzuzuziehende die Stellung als Verfahrensbeteiligter erlangt.
Die Ankündigung der Hinzuziehung darf dem Hinzuzuziehenden noch nicht bekannt gegeben werden.
Im Einzelfall kann es angebracht sein, dem Hinzuzuziehenden nach Ablauf der dem Einspruchsführer bei der Ankündigung gesetzten Frist vor der Hinzuziehung rechtliches Gehör (§ 91 Abs. 1 AO) zu gewähren.
Der Hinzugezogene ist bereits mit der Hinzuziehung umfassend über den Grund dieser Maßnahme aufzuklären. Dazu können ihm auch Ablichtungen des mit dem Einspruchsführer geführten Schriftverkehrs übersandt werden. § 30 AO ist für den Teil des Einspruchsverfahrens zu beachten, auf den sich die Hinzuziehung nicht richtet.
Die Hinzuziehung ist ein Verwaltungsakt, für den hinsichtlich Form, Bestimmtheit, Begründung, Bekanntgabe und Wirksamkeit die Vorschriften der §§ 118ff AO gelten. Dieser Verwaltungsakt ist allen Beteiligten, also auch dem Einspruchsführer, bekannt zu geben. Die Hinzuziehung muss ausdrücklich erklärt werden. Die bloße Aufforderung zur Stellungnahme reicht nicht aus. [12] In der Hinzuziehungsverfügung ist der Dritte auf die sich für ihn ergebenden Rechtsfolgen hinzuweisen.
Für die Durchführung der Hinzuziehung stehen OFD-Textbausteine im Texthandbuch „AO_Bearbeitung_von_Rechtsbehelfen” Verfügung.
6 Rechtswirkungen der Hinzuziehung
Gegen die Hinzuziehung können sowohl der Einspruchsführer als auch der Hinzugezogene Einspruch einlegen. [13]
Wenden sich der Einspruchsführer und/oder der Hinzugezogene gegen die Hinzuziehung, ist zunächst über den Einspruch wegen der Hinzuziehung zu entscheiden. Das Einspruchsverfahren, zu dem hinzugezogen wurde, sollte nach § 363 Abs. 1 AO bis zur endgültigen Entscheidung über die Hinzuziehung ausgesetzt werden.
Mit der Bekanntgabe der Hinzuziehungsverfügung wird sowohl der einfach als auch der notwendig Hinzugezogene Beteiligter nach § 359 Nr. 2 AO. Der Hinzugezogene kann dieselben Rechte geltend machen wie der Einspruchsführer (§ 360 Abs. 4 AO). Er kann den Gegenstand des Einspruchsverfahrens aber nicht erweitern oder einschränken.
B ist zum Einspruchsverfahren des A hinzugezogen worden, weil er gem. § 69 Satz 1 AO für die streitige Steuer haftet. B kann nicht erreichen, dass die Frage der Haftung in das Einspruchsverfahren einbezogen wird.
Da der Hinzugezogene aber auch in das Pflichtverhältnis einbezogen ist, hat er an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken und kann hierzu gem. §§ 90ff. AO durch das Finanzamt herangezogen werden. Eine Frist nach § 364b AO kann jedoch nur dem Einspruchsführer, nicht dem Hinzugezogenen gesetzt werden.
Die Einschränkung des einfach Beigeladenen im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 60 Abs. 6 Satz 1 FGO gilt im außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren nicht, so dass dieser auch abweichende Sachanträge stellen kann. Der Hinzugezogene ist im Rahmen des Einspruchsverfahrens in seinem tatsächlichen und rechtlichen Vorbringen frei.
Der Hinzugezogene kann allerdings Verfahrenshandlungen des Einspruchsführers nicht verhindern, die das Verfahren abschließen (z. B. Rücknahme des Einspruchs, Abhilfe nach §§ 132 Satz 1, 172 Abs. 1 Nr. 2a AO, Hauptsacheerledigungserklärung des Einspruchsführers).
Nimmt der Einspruchsführer seinen Einspruch zurück, kann der Hinzugezogene das Einspruchsverfahren nicht seinerseits fortführen. [14] Erforderlichenfalls ist durch Einspruchsentscheidung festzustellen, dass das Einspruchsverfahren mit Rücknahme des Einspruchs, des Verwaltungsakts oder Hauptsacheerklärung durch den Einspruchsführer beendet ist und durch den Hinzugezogenen nicht fortgesetzt werden kann.
Will das Finanzamt dem Einspruch abhelfen, muss neben dem Einspruchsführer auch der Hinzugezogene zustimmen. Entspricht aber eine Änderung auch der Interessenlage des Hinzugezogenen und hat er keine Einwendungen erhoben, kann von einer konkludenten Zustimmung ausgegangen werden. Da § 359 Nr. 2 und § 360 Abs. 4 AO nicht zwischen dem einfach und notwendig Hinzugezogenen unterscheiden, gilt dies auch für den Fall einer einfachen Hinzuziehung. [15]
Stimmt der Einspruchsführer, nicht aber der Hinzugezogene zu, so ist über den Einspruch förmlich zu entscheiden (§ 367 Abs. 2 Satz 3 AO).
Der Hinzugezogene kann den Einspruch nicht zurücknehmen, da er in das fremde Einspruchsverfahren nicht gestaltend eingreifen darf. Ihm gegenüber ist auch eine verbösernde Entscheidung nicht ausgeschlossen. [16] Allerdings ist der Hinzugezogene i. d. R. vorher zu dem Sachverhalt zu hören, aus dem sich die nachteilige Entscheidung ergibt.
Eine förmliche Einspruchsentscheidung ist auch dem Hinzugezogenen bekannt zu geben. Die Einspruchsentscheidung muss im Rubrum sämtliche Beteiligten, also auch den Hinzugezogenen, aufführen. Sie bindet auch den Hinzugezogenen, der deshalb befugt ist, Klage zu erheben. Er muss aber die Verletzung eigenen Rechts geltend machen können. [17] Die Klagebefugnis des Hinzugezogenen hängt nicht davon ab, ob er im Einspruchsverfahren, zu dem er hinzugezogen worden ist, Anträge gestellt hat oder nicht. [18]
Bei der Hinzuziehung eines Haftenden tritt die Bindungswirkung nicht ein bezüglich der Erfüllung des Haftungstatbestands, der Ausübung des Ermessens oder des Umfangs der Inanspruchnahme.
Diese Rechtswirkungen der Hinzuziehung ergeben sich auch dann, wenn die Voraussetzungen des § 360 AO nicht vorlagen. [19]
7 Rechtsfolgen einer unterlassenen Hinzuziehung
7.1 Das Unterlassen der einfachen Hinzuziehung stellt keinen wesentlichen Verfahrensmangel dar. Es entfällt lediglich die ansonsten eintretende Bindungswirkung.
7.2 Ist eine notwendige Hinzuziehung zum Einspruchsverfahren unterblieben, so stellt dies einen von Amts wegen zu beachtenden Verstoß gegen die Grundordnung des Verfahrens dar, der jedoch nicht zur Nichtigkeit der Einspruchsentscheidung führt. Dieser Verfahrensfehler kann grundsätzlich durch die Beiladung nach § 60 Abs. 3 FGO im finanzgerichtlichen Verfahren geheilt werden. [20] Voraussetzung für die Heilung ist jedoch, dass die Einspruchsentscheidung zu keiner Änderung des materiellen Regelungsgehalts des angefochten Bescheids geführt hat und dass durch die Einspruchsentscheidung kein Verfahrens- oder Formmangel i.S. von § 126 AO 1977 geheilt worden ist. [21] Die notwendige Beiladung kann auch noch im Revisionsverfahren vom BFH vorgenommen werden (§ 123 Abs. 1 Satz 2 FGO).
Anderenfalls kommt wegen der unterlassenen notwendigen Hinzuziehung die Aussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens (§ 74 FGO) zur nachträglichen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung [22] oder in Einzelfällen nach Darlegung eines berechtigten Interesses des Dritten an einer erneuten Entscheidung unter seiner Beteiligung am Verfahren, auch die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung durch das Finanzgericht [23] in Betracht.
OFD Hannover v. - S 0622 - 713 - StO 321S 0622 - 228 - StH 461
Fundstelle(n):
PAAAB-23872
1 BStBl 1981 II S. 99
2 BStBl 1979 II S. 632
3 BFH/NV 1999 S. 815
4 BFH/NV 1994 S. 380
5 BStBl 1979 II S. 25
7ständige Rechtsprechung des BFH. z.B. Urteil vom , BStBl 1985 II S. 296 und BFH/NV 1998 S. 942
8 a.a.O.
9 BFH/NV 2001 S. 605
10 BStBl 1992 II S. 916
12 HFR 1964 S. 51
1313 BStBl 1989 II S. 87
14 BFH/NV 1998 S. 14
16 BStBl 1971 II S. 404
17 a. a. O.
18Haarmann/Schrnieszek/Haarmann, Fach 33004 Rn. 638. a. A. BStBl 1982 II S. 506
19 BStBl 2001 II S. 747
20 BStBl 1985 II S. 675 und BStBl 1994 II S. 282
21 BStBl 1989 II S. 359, und vom , BStBl 1989 II S. 851
22 BFH/NV 1992 S. 46
23 BStBl 1985 II S. 711