Umfang der Vorläufigkeit einer Steuerfestsetzung, die im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen vorläufig erfolgt ist
Instanzenzug: (Verfahrensverlauf),
Gründe
I. Die Kläger und Revisionsbeklagten (Kläger), die in den Streitjahren 1995 und 1996 zusammen veranlagt wurden, erzielten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Der Kläger war Vorstandsmitglied einer Bank und bezog als solches nicht sozialversicherungspflichtige Einkünfte.
Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt —FA—) kürzte den den Klägern gemeinsam zustehenden Vorwegabzug für ihre Vorsorgeaufwendungen gemäß § 10 Abs. 3 Nr. 2 Satz 2 Buchst. a des Einkommensteuergesetzes (EStG) um 16 v.H. sämtlicher Einnahmen der Kläger aus nichtselbständiger Arbeit auf 0. Die Einkommensteuerbescheide enthielten u.a. den Zusatz:
„Der Bescheid ist im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren vorläufig hinsichtlich…- der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen (§ 10 Abs. 3 EStG). Die Vorläufigkeitserklärung erfolgt aus verfahrenstechnischen Gründen und ist nicht dahin zu verstehen, dass die Regelungen als verfassungswidrig angesehen werden. Änderungen dieser Regelungen werden von Amts wegen berücksichtigt; ein Einspruch ist insoweit nicht erforderlich.„
Die Bescheide wurden bestandskräftig.
Mit Schreiben vom beantragte der Kläger, u.a. die Einkommensteuerbescheide für 1995 und 1996 zu ändern. Für die Kürzung des Vorwegabzugs seien nur die sozialversicherungspflichtigen Einnahmen der Klägerin zu berücksichtigen. Das FA lehnte eine Änderung ab.
Die Klage hatte Erfolg (Entscheidungen der Finanzgerichte —EFG— 2003, 1440).
Mit der Revision rügt das FA Verletzung des § 165 der Abgabenordnung (AO 1977). Die Rechtsgrundsätze des (BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791) gälten auch im Streitfall. Die bloße zusätzliche Bezeichnung der Norm, deren Verfassungsmäßigkeit bestritten werde, ändere daran nichts. Die Auslegung des § 10 Abs. 3 EStG stehe nicht unter dem Vorbehalt des § 165 Abs. 1 Nr. 3 AO 1977.
Das FA beantragt, das Urteil des Finanzgerichts (FG) aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Kläger beantragen sinngemäß, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Der Umfang des Vorläufigkeitsvermerks beziehe sich auf den gesamten Regelungsgehalt des § 10 Abs. 3 EStG.
II. Die Revision des FA ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben. Die Klage wird abgewiesen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung —FGO—). Nach bestandskräftiger Veranlagung für die Streitjahre 1995 und 1996 können die Bescheide nicht mehr geändert werden. Die Voraussetzungen einer Änderung nach § 165 Abs. 2 Satz 1 AO 1977 liegen entgegen der Auffassung des FG nicht vor.
1. Der BFH hat entschieden, dass ein Vermerk, nach dem die Steuerfestsetzung im Hinblick auf anhängige Verfassungsbeschwerden hinsichtlich der beschränkten Abzugsfähigkeit von Vorsorgeaufwendungen für vorläufig erklärt wird, sich nicht auf die Frage erstreckt, ob der Steuerpflichtige zum Abzug von Sonderausgaben mit oder ohne Kürzung des Vorwegabzugs berechtigt ist (BFH in BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791). Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf dieses Urteil Bezug genommen.
2. Im Streitfall gilt unter Berücksichtigung des Wortlauts des Zusatzes in den Einkommensteuerbescheiden und der weiteren bei seiner Auslegung heranzuziehenden Umstände (, BFH/NV 1995, 466) nichts anderes.
Der Wortlaut des Vermerks über die Vorläufigkeit deckt sich im Wesentlichen mit dem des Vermerks, den der BFH in der genannten Entscheidung zu beurteilen hatte. Die zusätzliche Benennung des § 10 Abs. 3 EStG ist rechtlich unerheblich. Sie erweitert —aus der Sicht des Empfängers— nicht den Umfang der Vorläufigkeit (vgl. § 165 Abs. 1 Satz 3 AO 1977) über den in BFHE 183, 348, BStBl II 1997, 791 genannten Rahmen hinaus. Durch das Gesetzeszitat wird lediglich die Norm bezeichnet, deren Verfassungsmäßigkeit in anhängigen Verfahren höchstrichterlich geprüft wird. Dass die Steuerfestsetzung nicht hinsichtlich jedweder im Rahmen des § 10 Abs. 3 EStG streitig gewordener Rechtsfrage vorläufig ist, verdeutlicht auch der anschließende Zusatz, wonach die Vorläufigkeitserklärung nur aus verfahrenstechnischen Gründen erfolge und nicht dahin zu verstehen sei, dass die Regelung als verfassungswidrig angesehen werde. Damit wird objektiv hinreichend deutlich, dass Grund für die vorläufige Steuerfestsetzung die bestrittene Verfassungsmäßigkeit der zitierten Norm ist.
Nur mit dieser inhaltlichen Beschränkung auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit deckt sich die Vorläufigkeitserklärung mit ihrer Rechtsgrundlage. Eine Steuer kann vorläufig festgesetzt werden, wenn ungewiss ist, ob die Voraussetzungen für die Entstehung der Steuer eingetreten sind (§ 165 Abs. 1 Satz 1 AO 1977), ob und wann Verträge mit anderen Staaten über die Besteuerung, die sich zugunsten des Steuerpflichtigen auswirken, für die Steuerfestsetzung wirksam werden (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AO 1977), das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Unvereinbarkeit eines Steuergesetzes mit dem Grundgesetz festgestellt hat und der Gesetzgeber zu einer Neuregelung verpflichtet ist (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO 1977) oder die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH), dem BVerfG oder einem anderen Bundesgericht ist (§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO 1977). Eine vorläufige Festsetzung hinsichtlich ungeklärter Rechtsfragen des einfachen Rechts sieht § 165 Abs. 1 AO 1977 nicht vor. Die —mittlerweile vom erkennenden Senat im vorläufigen Verfahren entschiedene (vgl. Beschluss vom XI B 226/02, BFHE 202, 294, BStBl II 2003, 708)— Rechtsfrage, ob bei einer Zusammenveranlagung auch der von einem Gesellschafter-Geschäftsführer einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung bezogene Arbeitslohn zur Kürzung des Vorwegabzugs führt, wenn dieser weder der gesetzlichen Sozialversicherungspflicht unterliegt noch anderweitig Anwartschaftsrechte auf eine Pension erwirbt (§ 10c Abs. 3 Nr. 1 und 2 EStG), betrifft die Anwendung und Auslegung einfachen Rechts.
Im Übrigen erging der Vorläufigkeitsvermerk nach seinem ausdrücklichen Wortlaut nur im Hinblick auf „anhängige„ Verfassungsbeschwerden bzw. andere gerichtliche Verfahren. Entgegen der Auffassung des FG erfasst er daher nicht zugleich jedwedes Verfahren, das nach Wirksamwerden der für vorläufig erklärten Steuerfestsetzung beim EuGH, dem BVerfG oder einem obersten Bundesgericht anhängig wird (Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, § 165 AO 1977 Tz. 12). Das Verfahren über die hier streitige, die Kürzung des Vorwegabzugs bei einem nicht sozialversicherungspflichtigen Gesellschafter-Geschäftsführer betreffende Rechtsfrage wurde beim BFH erst im Jahr 2002 anhängig.
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Verwaltungsanweisungen:
Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:
Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 1064
BFH/NV 2004 S. 1064 Nr. 8
NWB-Eilnachricht Nr. 52/2007 S. 4746
LAAAB-22080