BFH Beschluss v. - II B 111/02

Kein Verzicht auf den Verfahrensmangel der nicht vorschriftsgemäßen Besetzung des Gerichts

Gesetze: FGO § 119 Nr. 1, §§ 92, 96

Instanzenzug:

Gründe

I. Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) hat gegen einen Grunderwerbsteuerbescheid des Beklagten und Beschwerdegegners (Finanzamt —FA—) Klage erhoben. Das Finanzgericht (FG) hat in dieser Sache Termin zur mündlichen Verhandlung auf den um 9.30 Uhr bestimmt. In dem Protokoll über die mündliche Verhandlung heißt es u.a.:

„Die ehrenamtliche Richterin X hat telefonisch erklärt, wegen eines Verkehrsstaus erst später erscheinen zu können. Die Beteiligten haben sich auf die Frage des Gerichts ausdrücklich damit einverstanden erklärt, die mündliche Verhandlung mit dem Sachvortrag schon jetzt beginnen zu lassen und insoweit die fehlerhafte Besetzung des Gerichts nicht zu rügen. Um 9.40 Uhr erscheint die ehrenamtliche Richterin X.„

Das FG hat die Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen. Hiergegen richtet sich die vorliegende Beschwerde der Klägerin, die u.a. rügt, das FG sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen (§ 119 Nr. 1 der FinanzgerichtsordnungFGO—). Die ehrenamtliche Richterin X sei erst 10 Minuten nach Beginn der mündlichen Verhandlung erschienen. Der Vorsitzende habe den Vorschlag gemacht, in Abwesenheit der ehrenamtlichen Richterin schon mit dem Sachvortrag zu beginnen. Die Beteiligten hätten sich einverstanden erklärt und auf ihr Rügerecht verzichtet; sie hätten es angesichts der offen zum Ausdruck gebrachten Ungeduld des Vorsitzenden nicht gewagt, diesem Vorschlag zu widersprechen. Der Verzicht sei jedoch unwirksam.

Das FA hat keine Stellungnahme abgegeben.

II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO).

Die Voraussetzungen des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO sind gegeben. Der von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmangel der nicht vorschriftsgemäßen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO) liegt vor.

Vorschriftsmäßig besetzt ist das erkennende Gericht nur, wenn jeder der an der Verhandlung und Entscheidung beteiligten Richter in der Lage war, die wesentlichen Vorgänge der Verhandlung wahrzunehmen und in sich aufzunehmen (vgl. , BFHE 147, 402, BStBl II 1986, 908). Nur wenn jeder Richter die wesentlichen Vorgänge in sich aufgenommen hat, ist er in der Lage, seine Überzeugung aus dem Gesamtergebnis der Verhandlung zu gewinnen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Diese Möglichkeit ist nicht gegeben, wenn ein Richter einem Teil der mündlichen Verhandlung nicht beiwohnt und deshalb wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrnehmen kann. Das Gericht ist in einem solchen Fall nicht mehr i.S. von § 119 Nr. 1 FGO vorschriftsmäßig besetzt.

Im Streitfall ergibt sich aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung, dass die ehrenamtliche Richterin X erst ca. 10 Minuten nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung eingetroffen und deshalb dem nach § 92 Abs. 2 FGO erforderlichen Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten nicht oder nur teilweise beigewohnt hat. Damit hat sie wesentliche Vorgänge der Verhandlung nicht wahrgenommen. Denn der Vortrag des wesentlichen Inhalts der Akten dient (auch) der Unterrichtung der ehrenamtlichen Richter, die regelmäßig keine Kenntnis vom Sachstand haben und deshalb ohne entsprechende Information der Verhandlung nicht in der gebotenen Weise folgen und einen sachlich angemessenen Entscheidungsbeitrag nicht leisten können.

Auf den Verfahrensmangel der nicht vorschriftsgemäßen Besetzung des erkennenden Gerichts (§ 119 Nr. 1 FGO) kann wirksam nicht verzichtet werden. Diese Frage ist der Disposition der Parteien entzogen (, BFHE 187, 404, BStBl II 1999, 300; , Neue Juristische Wochenschrift 1993, 600).

Auf diese Entscheidung wird Bezug genommen in folgenden Gerichtsentscheidungen:


Fundstelle(n):
BFH/NV 2004 S. 661
BFH/NV 2004 S. 661 Nr. 5
NAAAB-17290