Wiedereinsetzung in die versäumte Einspruchsfrist bei Nichtberücksichtigung von konkludent beantragten Ausbildungsfreibeträgen
Leitsatz
1. Hat der Steuerpflichtige im Formular für die Einkommensteuererklärung in der „Anlage Kinder„ die Geburtsdaten, das erhaltene Kindergeld, die Zeiten der Berufsausbildung und die Bruttoarbeitslöhne der Kinder angegeben, hat er damit konkludent Ausbildungsfreibeträge für die Kinder beantragt, auch wenn er die Rubrik „Ausbildungsfreibetrag„ nicht ausgefüllt hat. Übergeht das FA derartige Anträge, ohne darauf im Einkommensteuerbescheid hinzuweisen, kann wegen der versäumten Einspruchsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht kommen.
2. Der nach Bestandskraft des Einkommensteuerbescheids gestellte Antrag auf Gewährung von Ausbildungsfreibeträgen ist keine die Änderung des Bescheids rechtfertigende neue Tatsache i.S. des § 173 AO 1977. Ist aus den Angaben in der Einkommensteuererklärung ersichtlich, dass sich die Kinder in der Ausbildung befinden, wird dem FA durch den Antrag auch nicht nachträglich als neue Tatsache bekannt, dass dem Steuerpflichtigen Aufwendungen für die Berufsausbildung seiner Kinder entstanden sind.
Gesetze: AO 1977 § 110AO 1977 § 126 Abs. 3AO 1977 § 173 Abs. 1 Nr. 2AO 1977 § 355 Abs. 1EStG § 33a Abs. 2 und 4
Instanzenzug: (EFG 2003, 62) (Verfahrensverlauf), ,
Gründe
I.
Die Kläger und Revisionskläger (Kläger) sind zur Einkommensteuer zusammen veranlagte Eheleute. Der Kläger ist von Beruf Diplom-Ingenieur, die Klägerin Krankenschwester. Sie sind Eltern zweier 1976 und 1977 geborener Kinder. Mit den Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1996 und 1997, die sie ohne die Hilfe eines Steuerberaters erstellten, reichten die Kläger jeweils eine „Anlage Kinder„ ein, auf der sie Namen, Geburtsdatum, Wohnort der Kinder, erhaltenes Kindergeld und das zu den Kindern bestehende Verwandtschaftsverhältnis angaben. Weiterhin kreuzten sie an, dass sich die Kinder in der Berufsausbildung befänden. Für den Sohn wurde in der dafür vorgesehenen Spalte „Dauer des gesetzlichen Grundwehr- bzw. Zivildienstes„ in der Einkommensteuererklärung 1996 der Zeitraum vom 1. November bis zum 31. Dezember angegeben und für 1997 die Zeit vom 1. Januar bis zum 31. August. Außerdem erklärten die Kläger Einnahmen der Kinder in Höhe eines Bruttoarbeitslohnes von 5 090 DM (Sohn) und 5 235,05 DM (Tochter) in 1996 und von 2 902 DM (Sohn) und 4 485 DM (Tochter) in 1997. Die in der Überschrift „Ausbildungsfreibetrag„ vorgesehenen Zeilen, die Fragen zum Familienstand der Kinder, dem Zeitraum, innerhalb dessen Aufwendungen für die Berufsausbildung entstanden sind, zu den auf diesen Zeitraum entfallenden Einnahmen des Kindes sowie zur Unterbringung des Kindes enthielten, füllten die Kläger nicht aus.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt —FA—) setzte daraufhin in den Einkommensteuerbescheiden 1996 vom und 1997 vom keine Ausbildungsfreibeträge an. Gegen die Einkommensteuerbescheide wurden keine Einsprüche eingelegt. Am beantragten die Kläger, die Einkommensteuerbescheide der Jahre 1996 und 1997 zu ändern und Ausbildungsfreibeträge für beide Kinder zu gewähren. Das FA lehnte diesen Antrag ab.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage blieb erfolglos. Die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2003, 62 veröffentlicht.
Mit ihrer Revision rügen die Kläger Verfahrensmängel und die Verletzung materiellen Rechts (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 der Abgabenordnung —AO 1977—).
Die Kläger beantragen, das FG-Urteil aufzuheben und die Einkommensteuer 1996 um 1 400,00 DM (715,81 €) und die Einkommensteuer 1997 um 1 072 DM (548,10 €) zu mindern.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II.
Die Revision ist hinsichtlich des Streitjahres 1997 begründet und führt insoweit zur Aufhebung des FG-Urteils und zur Stattgabe der Klage. Im Übrigen ist die Revision unbegründet.
Den Klägern stehen für das Jahr 1997 Ausbildungsfreibeträge für beide Kinder zu.
1. Zu Recht hat das FG im Ergebnis die Voraussetzungen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 verneint. Es sind keine neuen Tatsachen nachträglich bekannt geworden.
Steuerbescheide sind nach § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977 zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer niedrigeren Steuer führen, und den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass die Tatsachen oder Beweismittel erst nachträglich bekannt werden.
Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 AO 1977 ist, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Tatbestandes sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen, Eigenschaften materieller oder immaterieller Art (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. , BFHE 194, 9, BStBl II 2001, 379).
Nach allgemeiner Auffassung (, BFHE 157, 488, BStBl II 1989, 960; Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 33 EStG Rz. 53; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 22. Aufl., § 33 Rz. 3) ist die Stellung eines Antrags keine neue Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO 1977, wohl aber der der Steuervergünstigung zugrunde liegende Sachverhalt, wenn er erstmals nach Bestandskraft der Steuerfestsetzung bekannt wird.
Die Kläger haben sämtliche Angaben, die zur Prüfung, ob ihnen Ausbildungsfreibeträge für die Kinder zustehen, im Steuererklärungsformular eingetragen. Danach lebten beide in den Streitjahren bereits volljährigen Kinder im Haushalt der Kläger. Die Tochter befand sich jeweils ganzjährig in Ausbildung, der Sohn vom bis zum , danach wieder ab dem . In der Zeit dazwischen leistete er seinen Grundwehr-/Zivildienst ab. Angegeben wurden auch die jeweiligen Bruttolöhne der Kinder. Mehr Angaben sind zur Erlangung des Ausbildungsfreibetrages nicht erforderlich.
Zwar haben die Kläger die im Formular gestellte Frage nach dem Familienstand ihrer Kinder nicht beantwortet. Zur Prüfung, ob den Klägern ein Ausbildungsfreibetrag zusteht, sind diese Angaben jedoch nicht erforderlich. Der Familienstand des Kindes kann allenfalls dann von Bedeutung sein, wenn es verheiratet oder geschieden ist und Unterhaltsleistungen vom (ehemaligen) Ehepartner erhält. Da an anderer Stelle des Formulars aber nach Einkünften und Bezügen des Kindes gefragt wird und diese von den Klägern auch ausgefüllt wurde, wird hierdurch keine weitere Information abgefragt, die nicht bereits zuvor im Formular beantwortet wurde.
Die Inanspruchnahme eines Ausbildungsfreibetrages setzt nach § 33a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) Aufwendungen des Steuerpflichtigen für die Berufsausbildung voraus. Das FG hat angenommen, dem FA sei nachträglich die steuermindernde Tatsache bekannt geworden, dass den Klägern derartige Aufwendungen entstanden seien. Das Entstehen von Aufwendungen für die Berufsausbildung kann jedoch nicht als neue Tatsache gewertet werden. Denn die Berufsausbildung eines Kindes, das nicht über ausreichende eigene Einnahmen oder eigenes Vermögen verfügt, führt zwangsläufig zu Aufwendungen der Eltern.
Eltern schulden im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit sowohl ihren minderjährigen als auch den volljährigen Kindern nach § 1610 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) eine angemessene Berufsausbildung (vgl. , BFHE 197, 233, BStBl II 2002, 195). Etwas anderes gilt nur dann, wenn die Kinder über eigene Einkünfte oder Bezüge verfügen, mit denen sie ihre Berufsausbildung bestreiten (, BFHE 173, 551, BStBl II 1994, 694). Liegt dieser Ausnahmetatbestand nicht vor, ist typisierend davon auszugehen, dass Eltern in jedem Kalendermonat, in dem sich ihr Kind in der Berufsausbildung befindet, Aufwendungen für die Berufsausbildung erwachsen (, BFHE 182, 199, BStBl II 1997, 430). Nach Auffassung der Finanzverwaltung sind selbst Unterhaltsaufwendungen für ein in Berufsausbildung befindliches Kind als Aufwendungen für seine Berufsausbildung anzusehen (R 191 Abs. 2 Satz 3 der Einkommensteuer-Richtlinien —EStR—).
Ergibt sich —wie hier— aus der Steuererklärung, dass die Kinder über keine ausreichenden eigenen Einkünfte oder Bezüge verfügen, und sind alle weiteren nach § 33a Abs. 2 EStG erforderlichen Angaben gemacht, wird hierdurch konkludent erklärt, dass dem Steuerpflichtigen Aufwendungen für die Berufsausbildung erwachsen sind.
2. Den Klägern ist jedoch hinsichtlich des Jahres 1997 Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumnis der Einspruchsfrist zu gewähren.
a) Die Kläger haben in ihren Einkommensteuererklärungen für die Jahre 1996 und 1997 mit den Angaben, dass und wann die Kinder sich in Berufsausbildung in den Streitjahren befunden haben und welche Einkünfte und Bezüge sie hatten, jeweils konkludent einen Ausbildungsfreibetrag für ihre beiden Kinder beantragt. Denn es kann unterstellt werden, dass derjenige, der einen steuerlichen Abzug geltend machen kann und alle Angaben hierzu macht, diesen Abzug auch geltend machen will. Einen ausdrücklich gestellten Antrag sieht weder das Gesetz noch die „Anlage Kinder„ vor. Entsprechend ist die Finanzverwaltung bei der Steuerermäßigung nach § 34f EStG verfahren. War dem FA bekannt, dass der Steuerpflichtige auf Dauer zum Haushalt gehörende Kinder hatte und § 10e EStG in Anspruch nahm, wurde ein Antrag auf Steuerermäßigung nach § 34f EStG unterstellt (, BStBl I 1987, 434, Abs. 42).
Dieses Ergebnis folgt auch aus dem (BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182). Danach muss, soweit sich das Familienexistenzminimum nach personenbezogenen Daten wie Familienstand, Anzahl der Kinder und Alter bestimmt, der gesetzliche Tatbestand so gefasst werden, dass die bloße Angabe dieser Daten die Anwendung des Gesetzes möglich macht (BVerfG in BVerfGE 99, 216, BStBl II 1999, 182, unter C. III.). Nichts anderes kann für den Ausbildungsfreibetrag gelten, der ebenfalls —jedenfalls zum Teil— verfassungsrechtlich verbürgt ist (vgl. BFH-Urteil in BFHE 197, 233, BStBl II 2002, 195, unter II. 1.).
b) Da die Kläger konkludent Ausbildungsfreibeträge beantragt haben, ist das FA im Einkommensteuerbescheid vom Antrag der Kläger abgewichen, ohne im Bescheid hierauf hinzuweisen. Die Anträge der Kläger auf Gewährung von Ausbildungsfreibeträgen sind als Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide 1996 und 1997 zu beurteilen. Diese wurden zwar erst nach Ablauf der Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO 1977 und damit verspätet eingelegt. Die Kläger konnten jedoch mangels Begründung nicht erkennen, weshalb ihnen die Freibeträge versagt wurden (vgl. , BFH/NV 1989, 561, m.w.N.). Gemäß § 126 Abs. 3 Satz 1 AO 1977 liegt damit ein Verschulden der Kläger i.S. des § 110 AO 1977 nicht vor. Das für die Wiedereinsetzungsfrist nach § 110 Abs. 2 AO 1977 maßgebende Ereignis ist in dem Zeitpunkt eingetreten, in dem sie den Einspruch nachgeholt haben (§ 126 Abs. 3 Satz 2 AO 1977).
c) Hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 1996 ist allerdings die Jahresfrist des § 110 Abs. 3 AO 1977 versäumt worden, denn die Kläger haben erst im April 1999 Ausbildungsfreibeträge für die Jahre 1996 und 1997 beantragt. Der Einkommensteuerbescheid 1996 ist aber bereits am ergangen. Hinsichtlich des Einkommensteuerbescheides 1997 vom ist die Jahresfrist nicht versäumt, so dass insoweit Wiedereinsetzung gewährt werden kann.
3. Den Klägern steht für das Jahr 1997 für beide Kinder ein Ausbildungsfreibetrag zu.
Nach § 33a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 EStG 1997 beträgt der Ausbildungsfreibetrag für ein Kind, für das der Steuerpflichtige Kindergeld oder einen Kinderfreibetrag erhält und welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, 2 400 DM. Der Ausbildungsfreibetrag vermindert sich unter anderem um die —zur Bestreitung des Unterhalts und der Berufsausbildung bestimmten und geeigneten— eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes, soweit sie 3 600 DM im Kalenderjahr übersteigen (§ 33a Abs. 2 Satz 2 EStG 1997). Für jeden vollen Monat, in dem diese Voraussetzungen nicht vorgelegen haben, ermäßigen sich die Beträge um je 1/12 (§ 33a Abs. 4 Satz 1 EStG).
Da die Tochter sich ganzjährig in Ausbildung befand und ihr Arbeitslohn nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrages (§ 9a Satz 1 Nr. 1 EStG) von 2 000 DM mit 2 485 DM unterhalb des anrechnungsfreien Betrages von 3 600 DM liegt, ist ein Ausbildungsfreibetrag in Höhe von 2 400 DM vom Gesamtbetrag der Einkünfte abzuziehen.
Der Sohn befand sich nur im Zeitraum 1. September bis in Berufsausbildung. Die übrige Zeit leistete er seinen Grundwehr-/Zivildienst ab. Nach den Angaben der Kläger in der Einkommensteuererklärung erhielt der Sohn im Jahr 1997 einen Bruttoarbeitslohn von 2 902 DM. Dies ergibt nach Abzug des Arbeitnehmer-Pauschbetrags einen Betrag von 902 DM. Nach der Rechtsprechung sind Einkünfte und Bezüge, die ein Kind während des Kalenderjahrs bezogen hat, den Monaten zuzurechnen, die sie wirtschaftlich betreffen (, BFHE 180, 541, BStBl II 1997, 30). Die Kläger haben Zeile 47 der „Anlage Kinder„ nicht ausgefüllt, in der die Einkünfte anzugeben sind, die auf den Ausbildungszeitraum entfallen. Selbst wenn die gesamten in Zeile 31 angegebenen Einkünfte dem Ausbildungszeitraum zugerechnet werden, liegen sie unter dem anteiligen, anrechenbaren Betrag von 1 200 DM (= 4/12 von 3 600 DM), so dass den Klägern für die Monate September bis Dezember 1997 ein anteiliger Ausbildungsfreibetrag für den Sohn von 800 DM (4/12 von 2 400 DM) zusteht (vgl. auch BFH, Urteil in BFHE 182, 199, BStBl II 1997, 430).
Insgesamt stehen den Klägern daher Ausbildungsfreibeträge in Höhe von 3 200 DM zu. Das entspricht einem Betrag von 1 636,13 €.
4. Eine Änderungsmöglichkeit des bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides 1996 aufgrund anderer Vorschriften liegt nicht vor.
5. Die Verfahrensrügen greifen nicht durch. Der Senat sieht gemäß § 126 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung von einer Begründung ab.
Diese Entscheidung steht in Bezug zu
Fundstelle(n):
BStBl 2004 II Seite 394
BB 2004 S. 594 Nr. 11
BFH/NV 2004 S. 548
BFH/NV 2004 S. 548 Nr. 4
BStBl II 2004 S. 394 Nr. 9
DB 2004 S. 630 Nr. 12
DStRE 2004 S. 462 Nr. 8
FR 2004 S. 539 Nr. 9
INF 2004 S. 281 Nr. 8
NWB-Eilnachricht Nr. 48/2005 S. 4064
NWB-Eilnachricht Nr. 50/2005 S. 4261
StB 2004 S. 125 Nr. 4
KAAAB-16831