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BGH Urteil v. - 3 StR 487/24

Instanzenzug: Az: 3 StR 487/24 Beschlussvorgehend LG Erfurt Az: 3 KLs 501 Js 25617/20 jug

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen gefährlicher Körperverletzung in drei tateinheitlichen Fällen, wobei es in einem Fall beim Versuch blieb, zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagten V. und W. hat es freigesprochen. Die Staatsanwaltschaft beanstandet mit ihren Revisionen, die hinsichtlich des Angeklagten B. auf die Strafaussetzung zur Bewährung beschränkt ist, zu Lasten der Angeklagten die Verletzung materiellen, in Bezug auf den Angeklagten V. auch formellen Rechts. Erfolg hat lediglich die den Angeklagten V. betreffende Revision.

A.

2Das Landgericht hat folgende Feststellungen getroffen:

3Die drei Angeklagten und weitere Personen hielten sich am Abend des zu einer privaten Feier auf der Außenterrasse eines Vereinsheims in E. auf. Nachts kamen die drei guineischen Nebenkläger auf dem Heimweg an dem Gebäude vorbei und trafen unter anderem auf die Angeklagten B. und W., die zuvor die Terrasse verlassen hatten. Der Angeklagte B. attackierte die Nebenkläger mit den Worten „Nigger, was sucht ihr hier? Wir machen euch fertig, verdammte Sklaven.“ Aus der Gruppe fielen weitere abwertende Äußerungen. Nachdem ein Nebenkläger versucht hatte, die Lage zu beruhigen, versetzte der Angeklagte B. dem Nebenkläger L. einen Faustschlag gegen den Kopf. Als der Nebenkläger Ba. seinem Begleiter zur Hilfe eilen wollte, schlug ihm von hinten eine männliche Person gegen den Kopf. Er wurde von ein bis zwei Männern gepackt und ging ebenfalls zu Boden. Von der Terrasse liefen weitere Personen zu dem Geschehen hinzu, so auch der Angeklagte V. mit einer Bierflasche in der Hand. Ein Mitangeklagter warf mit Verletzungswillen eine Bierflasche nach dem Nebenkläger D., verfehlte diesen jedoch. Der Nebenkläger D. flüchtete ebenso wie bereits zuvor der Nebenkläger L. Unterdessen kam es zu einem Geschrei, und mehrere Anwesende schlugen und traten in bewusstem Zusammenwirken auf den Nebenkläger Ba. ein. Der Angeklagte B. beteiligte sich entweder an diesen Tätlichkeiten und/oder den rassistischen sowie beleidigenden Rufen, und/oder er verfolgte einen Nebenkläger. Der Nebenkläger D. kehrte nach anfänglicher Flucht zurück und setzte noch während des Geschehens einen mehrminütigen Notruf ab. Unterdessen rannte der Angeklagte V. über eine Rasenfläche davon, kam alsbald aber ohne Bierflasche zurück und betrat das Vereinsheim. Kurz darauf trafen Polizeibeamte ein. Der Nebenkläger Ba. lag bewegungslos auf einer Wiese, reagierte nicht auf Ansprache und hatte im Kopfbereich stark blutende Verletzungen. Er erlitt eine Jochbodenimpressionsfraktur und vielfache Hautabschürfungen. Der gegen den Nebenkläger L. gerichtete Faustschlag führte zu einer Augenschwellung mit Blutunterlaufungen.

4Das Landgericht hat die Angeklagten W. und V. freigesprochen, da es sich von einem ausreichend sicheren Tatnachweis nicht überzeugt hat. In Bezug auf den Angeklagten W. bestehe die Möglichkeit, dass er zwar vor Ort gewesen, aber auf eine etwaige Aufforderung mitzuschlagen untätig geblieben sei. Der Angeklagte V. habe sich erst nach den ersten Schlägen in den Bereich des Tatorts begeben. Ob er sich anschließend an weiteren Körperverletzungen zum Nachteil des Nebenklägers Ba. beteiligt habe, sei nicht festzustellen. Spuren des Angeklagten an einer auf der Wiese gefundenen Bierflasche und Videoaufzeichnungen belegten zwar eine Anwesenheit vor Ort, nicht aber eine Tatbeteiligung.

B.

5Die Revision der Staatsanwaltschaft hat mit einer Verfahrensbeanstandung Erfolg, soweit sie sich gegen den Freispruch des Angeklagten V. richtet. Hinsichtlich der Angeklagten W. und B. sind die Revisionen der Staatsanwaltschaft unbegründet.

6I. Die Staatsanwaltschaft rügt, dass das Landgericht entgegen § 261 StPO den Inhalt der Beweisaufnahme nicht erschöpft und sich mit in der Hauptverhandlung erhobenen Beweisen nicht in den Urteilsgründen befasst habe. Insbesondere habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass der Angeklagte V. ausweislich einer Videoaufzeichnung und von Lichtbildern zur Tatzeit ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Hitlerfan“ getragen, vor seiner Festnahme die Kleidung gewechselt und frisch wirkende Verletzungen gezeigt habe.

71. Die Rüge genügt jedenfalls hinsichtlich der in Rede stehenden Lichtbilder den Darlegungsanforderungen nach § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO. Mit der Verfahrensbeschwerde kann geltend gemacht werden, dass ein in Augenschein genommenes Lichtbild – ebenso wie eine verlesene Urkunde – im Urteil unvollständig, unrichtig oder trotz sich aufdrängender Erörterungsbedürftigkeit überhaupt nicht gewürdigt worden sei, wenn der Nachweis ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung geführt werden kann (vgl. , juris Rn. 4 mwN; vom – 3 StR 359/21, StV 2023, 293 Rn. 50; vom – 4 StR 561/14, juris Rn. 9; Beschluss vom – 4 StR 170/95, BGHSt 41, 376, 382; vgl. demgegenüber zu Videoaufzeichnungen BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 58/18, juris Rn. 23; vom – 4 StR 489/18, juris; Urteile vom – 1 StR 293/24, juris Rn. 11; vom – 1 StR 410/24, juris Rn. 11). Dies ist namentlich der Fall, wenn der erörterungsbedürftige Inhalt des Bildes gleichsam auf einen Blick erfasst werden kann.

8Die Revision trägt die zur Beurteilung des geltend gemachten Verfahrensverstoßes notwendigen Tatsachen vor und gibt insbesondere den Inhalt der in Augenschein genommenen Lichtbilder wieder. Zudem teilt sie einen auszugsweise verlesenen polizeilichen Vermerk mit, demzufolge es sich bei der abgebildeten Person um den Angeklagten V. gehandelt und dieser ein dunkles T-Shirt mit der roten Aufschrift „Hitlerfan“ im Brustbereich getragen habe.

92. Der geltend gemachte Verfahrensfehler, das Landgericht habe sich mit den in Augenschein genommenen Lichtbildern in den Urteilsgründen nicht auseinandergesetzt, kann geprüft werden, ohne dass es dazu einer dem Revisionsgericht nicht möglichen Rekonstruktion des Ergebnisses der tatgerichtlichen Beweisaufnahme bedarf. Die Beweiserhebung als solche ist durch das Hauptverhandlungsprotokoll nachgewiesen; aus der Urteilsurkunde ergibt sich die unterbliebene Erörterung. Dass sich diese mit Rücksicht auf die sonstigen Feststellungen aufgedrängt hat, kann das Revisionsgericht ebenfalls angesichts der Urteilsgründe und des Inhalts der in Rede stehenden Beweismittel selbst beurteilen (vgl. etwa , BGHR StPO § 261 Inbegriff der Verhandlung 53 Rn. 21). Dazu bedarf es hier nicht einer dem Tatgericht vorbehaltenen Bewertung des Augenscheinergebnisses (s. dazu , juris Rn. 11 mwN). So ist zumindest auf einem Foto ein dunkles T-Shirt mit der Aufschrift „Hitlerfan“ in roten Buchstaben, auf einem anderen ein augenscheinlich geschwollener Daumen erkennbar. Daher kommt es nicht entscheidend darauf an, ob sich die lediglich auszugsweise, im Protokoll nicht näher abgegrenzte Verlesung eines Vermerks auch auf die dortigen Angaben über den Inhalt der Lichtbilder bezog (vgl. zur notwendigen Kenntlichmachung , BGHR StPO § 249 Abs. 2 Selbstleseverfahren 9 Rn. 29, 30; Beschluss vom – 1 StR 181/10, NStZ 2011, 110) und daher ebenfalls eine Auseinandersetzung damit in den Urteilsgründen gebot.

103. Unter den gegebenen Umständen hat sich eine Erörterung der in die Hauptverhandlung eingeführten Beweismittel aufgedrängt, welche die Bekleidung des Angeklagten V. und etwaige Verletzungen betreffen. Die Strafkammer hat sich von der Täterschaft von Mitangeklagten unter anderem mit der Begründung überzeugt, dass bei ihnen „zweifellos eine rechte/fremdenfeindliche Gesinnung festzustellen“ sei, einer von ihnen Verletzungen erlitten habe und ein anderer humpelnd auf die Terrasse zurückgekehrt sei. Angesichts dieser für bedeutend gehaltenen Einstellung ist es erforderlich gewesen, dass sich das Landgericht zu den Erkenntnissen verhält, die es aus den Beweismitteln zur Bekleidung des Angeklagten V. gewonnen hat, die Rückschlüsse auf dessen politische Überzeugung nahelegen („Hitlerfreund“). Hierfür spricht auch, dass es – anders als bei Mitangeklagten – einen Zusammenhang mit früheren Vorstrafen nicht erörtert hat, obwohl der Angeklagte in zeitlicher Nähe zur Tat wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte geahndet wurde. Schließlich ergibt sich nicht, welche Schlussfolgerungen das Landgericht in Bezug auf Verletzungen des Angeklagten aus in Augenschein genommenen Fotos mit Aufnahmen einer Hand und eines Schienbeins gezogen hat.

11Einer etwaigen Tatbeteiligung des Angeklagten V. stehen – entgegen dem Verteidigungsvorbringen in der Revisionshauptverhandlung – die sich aus den Urteilsfeststellungen ergebenden zeitlichen Abläufe nicht entgegen. Danach verließ er um 02:59:55 Uhr die Terrasse. Der telefonische Notruf des Nebenklägers D. „während des Tatgeschehens“, in dem er unter anderem schilderte, er werde von mehr als zehn Personen verfolgt und ein Freund sei „schon ins Koma gesetzt worden“, dauerte von 02:59:52 Uhr bis 03:05:14 Uhr. Mithin scheidet nicht grundsätzlich aus, dass der Angeklagte V. an Tathandlungen mitwirkte.

124. Die unterbliebene Erörterung der Beweise in den Urteilsgründen führt zur Aufhebung des den Angeklagten V. betreffenden Freispruchs mitsamt den zugehörigen Feststellungen.

13II. Dagegen hat die materiellrechtliche Nachprüfung des Freispruchs des Angeklagten W. auf die Sachrüge keinen Rechtsfehler ergeben.

141. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei, weil es auf der Grundlage einer Gesamtbewertung aller Umstände des Einzelfalls Zweifel an der Täterschaft nicht zu überwinden vermag, so hat das Revisionsgericht dies grundsätzlich hinzunehmen; denn die Beweiswürdigung ist vom Gesetz dem Tatgericht übertragen (§ 261 StPO). Es obliegt allein ihm, sich unter dem umfassenden Eindruck der Hauptverhandlung ein Urteil über die Schuld des Angeklagten zu bilden. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind. Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich darauf, ob ihm bei der Beweiswürdigung ein Rechtsfehler unterlaufen ist. Dies ist in sachlichrechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen ein Denkgesetz oder einen gesicherten Erfahrungssatz verstößt oder erkennen lässt, dass das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für die Verurteilung erforderliche Überzeugung gestellt hat. Liegt ein Rechtsfehler nicht vor, hat das Revisionsgericht die tatrichterliche Überzeugungsbildung auch dann hinzunehmen, wenn eine abweichende Würdigung der Beweise möglich oder sogar näherliegend gewesen wäre. Gleichermaßen Sache des Tatgerichts ist es, die Bedeutung und das Gewicht der einzelnen be- und entlastenden Indizien zu bewerten. Das Revisionsgericht ist insoweit auf eine Vertretbarkeitskontrolle beschränkt und nicht befugt, auf der Grundlage einer abweichenden Beurteilung der Bedeutung der Indiztatsachen in dessen Überzeugungsbildung einzugreifen (, StV 2022, 486 Rn. 23 mwN; st. Rspr.).

152. Hieran gemessen ist der Freispruch des Angeklagten W. nicht zu beanstanden. Das Landgericht hat sich nicht von einer Beteiligung dieses Angeklagten an dem Tatgeschehen überzeugt. Dabei hat es berücksichtigt, dass sich der aus einer Aufnahme ergebende Ruf „F. hau druff komm los“ angesichts des Vornamens und der Anwesenheit vor Ort auf den Angeklagten bezogen haben könne. Wegen des anschließenden Rufes „kannst nicht boxen oder was“ bestünden aber Zweifel, ob der Angeklagte W. tatsächlich geschlagen habe und die Äußerung nicht gerade eine Reaktion auf seine Untätigkeit darstelle. Hierbei handelt es sich um mögliche Schlüsse.

16Überspannte Anforderungen des Landgerichts an die Überzeugungsbildung ergeben sich daraus nicht, wie im Übrigen die Verurteilung mehrerer Mitangeklagter zeigt. Dass die Strafkammer aus der Anwesenheit des Angeklagten vor Ort in Zusammenschau mit den Äußerungen mangels konkreter weiterer Anhaltspunkte nicht auf eine Tatbeteiligung geschlossen hat, stellt unter den gegebenen Umständen keinen Rechtsfehler dar. Weil das Landgericht keine konkrete Handlung des Angeklagten W. festgestellt hat, ist zudem nicht ersichtlich, dass er zumindest wegen Beihilfe zu verurteilen gewesen wäre. Soweit die Revision einen Widerspruch in den Urteilsgründen darin sieht, dass von einem Zusammenwirken des Angeklagten B. „mit den übrigen Angeklagten“ die Rede ist, ist dem Zusammenhang ohne Weiteres zu entnehmen, dass es um ein gemeinsames Tätigwerden mit den nach den Feststellungen handelnden und ebenfalls verurteilten Mitangeklagten, nicht mit sämtlichen Angeklagten geht.

17III. Schließlich hat die wirksam auf die Frage der Strafaussetzung beschränkte Revision zum Nachteil des Angeklagten B. keinen Erfolg (zur Beschränkung s. , BGHSt 24, 164, 165; vom – 3 StR 385/17, NStZ-RR 2018, 86 f.).

181. Die Entscheidung, ob die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wird, ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Bei einer Strafaussetzung müssen die Urteilsgründe in einer der revisionsrechtlichen Überprüfung zugänglichen Weise die dafür maßgebenden Gründe angeben. Zu besonderen Umständen im Sinne des § 56 Abs. 2 StGB, welche die Aussetzung einer Strafe von über einem Jahr bis zu zwei Jahren zulassen, können auch solche gehören, die schon für die Prognose nach § 56 Abs. 1 StGB zu berücksichtigen waren. Wenngleich einzelne durchschnittliche Milderungsgründe eine Aussetzung nicht rechtfertigen, verlangt § 56 Abs. 2 StGB keine „ganz außergewöhnlichen“ Umstände. Vielmehr können sich dessen Voraussetzungen aus dem Zusammentreffen durchschnittlicher Milderungsgründe ergeben. Die besonderen Umstände müssen allerdings umso gewichtiger sein, je näher die Freiheitsstrafe an der Zweijahresgrenze liegt. Bei der Prüfung ist eine Gesamtwürdigung von Tat und Persönlichkeit des Verurteilten in einer für das Revisionsgericht nachprüfbaren Weise vorzunehmen. Eine erschöpfende Darlegung aller Erwägungen ist weder möglich noch geboten; nachprüfbar darzulegen sind lediglich die wesentlichen Umstände. Die Entscheidung steht im pflichtgemäßen Ermessen des Tatgerichts; das Revisionsgericht hat dessen ganz maßgeblich auf dem in der Hauptverhandlung gewonnenen persönlichen Eindruck beruhende Wertungen bis zur Grenze des Vertretbaren zu respektieren (, NJW 2017, 3011 Rn. 22, 25 mwN).

192. Diesen Maßstäben werden die Urteilsgründe noch gerecht. Das Landgericht hat sowohl die positive Prognose als auch die besonderen Umstände maßgeblich darauf gestützt, dass der Angeklagte B. privat und beruflich integriert, bislang nicht bestraft worden und seit der – im Urteilszeitpunkt beinahe drei Jahre zurückliegenden Tat – nicht erneut mit Straftaten in Erscheinung getreten sei. Dass es bei der gebotenen Gesamtwürdigung die im Rahmen der unmittelbar zuvor dargelegten Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten angeführten Gesichtspunkte außer Betracht gelassen hat, ist nach dem hier gegebenen Zusammenhang auszuschließen.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:291025U3STR487.24.0

Fundstelle(n):
VAAAK-07215