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BGH Urteil v. - 6 StR 179/25

Instanzenzug: LG Regensburg Az: 7 KLs 708 Js 18533/22

Gründe

1Das Landgericht hat den Angeklagten von den mit den Anklageschriften erhobenen Vorwürfen wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Gegen dieses Urteil wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützten Revision. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.

I.

21. Der 1962 geborene Angeklagte leidet seit dem Jahr 1999 an paranoider Schizophrenie, die mit paranoidem Wahnerleben und mit Größenideen einhergeht. Im Jahr 2001 ordnete das Landgericht Regensburg seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an, nachdem der Angeklagte krankheitsbedingt einen Fahrradfahrer vom Rad gestoßen und auf ihn eingeschlagen hatte, gegenüber einem Kind „handgreiflich geworden“ war und bei der anschließenden Festnahme Polizeibeamte verletzt hatte. Nach medikamentöser Einstellung und intensiver Therapie im Maßregelvollzug wurde die Unterbringung im Jahr 2003 zur Bewährung ausgesetzt. In den folgenden Jahren lebte der Angeklagte strafrechtlich unauffällig.

3Im Verlauf des Jahres 2022 kam es zu einem erneuten Krankheitsschub und zu zahlreichen rechtswidrigen Handlungen des Angeklagten:

4Am lief der Angeklagte nackt auf einem Feldweg umher. Den Aufforderungen der von unbekannt gebliebenen Dritten herbeigerufenen Polizeibeamten widersetzte er sich, floh schließlich in ein Feld und wurde durch vier Polizeibeamte zu Boden gebracht. Die Strafkammer hat wegen der „sich abzeichnenden Schuldunfähigkeit“ und weil keine „schwerwiegenden Verletzungen im Raum standen“ keine näheren Feststellungen getroffen, ob der Angeklagte einen der eingesetzten Beamten schlagen wollte und ihn verfehlte und ob er sich den nachfolgenden polizeilichen Maßnahmen mit gezielten oder ungezielten Schlägen widersetzte und dabei einen der Polizeibeamten leicht am Finger verletzte (Fall II.a der Urteilsgründe).

5Am versetzte der Angeklagte einem ihm unbekannten Passanten, der sich an ihm vorbeidrängte und dabei leicht anrempelte, einen Schlag auf den Arm (Fall II.b der Urteilsgründe).

6Am trat der Angeklagte heftig gegen den Hund seines Nachbarn K.     . Das Tier flog durch die Luft und erlitt Schmerzen (Fall II.c der Urteilsgründe).

7Am ergriff der Angeklagte das im Treppenhaus abgestellte Elektrokleinstfahrzeug seines Nachbarn P.       und warf es vor die Hauseingangstür, wodurch es beschädigt wurde (Fall II.d der Urteilsgründe).

8Am sowie im September, Oktober und November 2023 befuhr der Angeklagte mit seinem Pkw insgesamt sieben Mal öffentliche Straßen, obgleich ihm, wie er wusste, die Fahrerlaubnis entzogen worden war, wobei der Angeklagte nach der Fahrt im November den dies beobachtenden Nachbarn P.      beschimpfte und beleidigte (Fälle II.e und k der Urteilsgründe).

9Ferner richtete der Angeklagte im Juli 2023 zwei Schreiben an den gegen ihn wegen Verdachts des Fahrens ohne Fahrerlaubnis ermittelnden PHM B.         und drohte ihm, dass er ihn töten werde (Fall II.f der Urteilsgründe).

10Am fühlte sich der Angeklagte von seinem Nachbarn P.     , der ihm auf einem kombinierten Fuß- und Radweg auf einem Elektroroller mit einer Geschwindigkeit von 20 km/h entgegen kam, bedroht und streckte, als dieser ihn passieren wollte, seinen linken Arm aus, um ihn zu veranlassen, auf die Straße auszuweichen; tatsächlich wich der Geschädigte P.     auf die Straße aus (Fall II.g der Urteilsgründe).

11Am Tag darauf befestigte der Angeklagte einen Zettel an der Wohnungstür des Geschädigten P.     , und bezichtigte ihn als „Mordversucher“, um ihn öffentlich herabzuwürdigen (Fall II.h der Urteilsgründe).

12Am trat der Angeklagte bei einer lokalen Festveranstaltung einem angelehnt stehenden Kellner in die Kniekehle und später einem der Sicherheitsmitarbeiter, die ihn an der Rückkehr ins Festzelt hinderten, gegen das Schienbein, wobei er „Bergschuhe“ trug (Fall II.i der Urteilsgründe).

13Am beleidigte der Angeklagte seinen Nachbarn P.      in einem Brief, den er in den Briefkasten des Geschädigten einwarf, und drohte an, ihn zu töten (Fall II.j der Urteilsgründe).

14Am traf der Angeklagte auf den ihm unbekannten Geschädigten Ki.     , der mit einem Elektroroller einen für Radfahrer freigegebenen Fußweg im Stadtpark befuhr. Der Angeklagte trat dem Geschädigten mehrfach in den Weg, um ihn zum Anhalten zu zwingen. Der Geschädigte bremste ab und wollte an dem Angeklagten mit verringerter Geschwindigkeit vorbeifahren. Als der Geschädigte den Angeklagten passieren wollte, stieß der Angeklagte ihn an, wodurch der Geschädigte stürzte und sich eine Rippenprellung zuzog. Er litt zwei bis drei Wochen lang unter leichten Schmerzen und nahm Schmerzmittel ein (Fall II.l der Urteilsgründe).

15Am traf der Angeklagte vor dem Wohnhaus auf den Geschädigten K.     . Er trat dem Hund des Geschädigten auf die Schnauze und ergriff den Geschädigten auf dessen Frage, was das solle, an der Jacke, drückte diesen gegen ein Auto und schlug ihm mit der Hand gegen den Oberkörper, die Schulter und das Ohr, wodurch der Geschädigte Schmerzen erlitt; ferner wurden seine Jacke und seine Brille beschädigt. Der Geschädigte konnte sich losreißen. Als der Angeklagte hinter ihm herging, sprühte der Geschädigte ihm Pfefferspray in die Augen (Fall II.m der Urteilsgründe).

16Am 23. oder drohte der Angeklagte dem Geschädigten P.     , dass er ihm den Schädel einschlagen werde (Fall II.n der Urteilsgründe).

172. Das sachverständig beratene Landgericht hat festgestellt, dass der Angeklagte im Tatzeitraum an einer Exazerbation der paranoiden Schizophrenie litt und wahnhaft davon überzeugt gewesen sei, in den Tatsituationen bedroht zu werden und sich verteidigen zu müssen. In den Fällen II.a, e, g, h, i, k, l und n der Urteilsgründe sei die Einsichtsfähigkeit daher aufgehoben gewesen; im Übrigen könne dies nicht ausgeschlossen werden. Von der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat das Landgericht abgesehen. Weder sei dem Angeklagten eine positive Gefahrprognose zu stellen, noch wäre die Anordnung der Maßregel verhältnismäßig.

II.

18Die zu Ungunsten des Angeklagten eingelegte und auf die Sachrüge gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg und führt zur Aufhebung des Urteils mit den Feststellungen.

191. Das Rechtsmittel ist umfassend eingelegt. Die Staatsanwaltschaft hat beantragt, das Urteil in vollem Umfang aufzuheben. Zwar beanstandet sie mit ihrem Rechtsmittel „in erster Linie“ die unterbliebene Maßregelanordnung. Die Auslegung unter Berücksichtigung von Nr. 156 Abs. 2 RiStBV (vgl. , Rn. 8 mwN) ergibt aber, dass hiermit keine Beschränkung des Rechtsmittels auf die unterbliebene Maßregelanordnung verbunden ist. Sie wäre unter den hier gegebenen Umständen vielmehr unwirksam, weil die Frage der Schuldunfähigkeit sowohl für den Freispruch als auch für die Frage der Maßregelanordnung von Bedeutung ist (vgl. , Rn. 17; vom ‒ 4 StR 193/17, Rn. 13) und damit die Gefahr einer inkonsistenten Gesamtentscheidung entstünde, wenn die Beschränkung des Rechtsmittels auf die Nichtanordnung der Maßregel nach § 63 StGB als wirksam erachtet würde.

202. Die Nichtanordnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

21a) Eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 Satz 1 StGB kommt als außerordentlich beschwerende Maßnahme nur in Betracht, wenn eine Gesamtwürdigung des Täters und seiner Tat(en) ergibt, dass von ihm infolge seines Zustands erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten sind, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird und er deshalb für die Allgemeinheit gefährlich ist. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens sowie der von ihm begangenen Anlasstat(en) zu entwickeln und hat sich darauf zu erstrecken, ob und welche rechtswidrigen Taten von dem Täter infolge seines Zustands drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt (st. Rspr.; vgl. , Rn. 19; vom – 4 StR 380/21, NStZ-RR 2022, 173, 174; vom – 1 StR 5/16, Rn. 32; Beschluss vom – 1 StR 417/24, Rn. 5). Das Tatgericht ist nicht nur zu einer sorgfältigen Prüfung der Anordnungsvoraussetzungen verpflichtet, sondern auch dazu, die wesentlichen Umstände in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr.; vgl. , Rn. 19; Beschlüsse vom – 6 StR 155/24, Rn. 7; vom – 4 StR 78/16, Rn. 9). Dabei sind an die Darlegungen umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt – wie hier – um einen Grenzfall handelt (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 185/16, Rn. 6; vom – 4 StR 224/12, NStZ-RR 2012, 337, 338; jeweils mwN).

22b) Die tatgerichtliche Annahme, bei den verfahrensgegenständlichen Anlasstaten handele es sich nicht um erhebliche Taten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, ist nicht nachvollziehbar begründet.

23aa) Eine Tat ist erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB, wenn sie mindestens der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen. Insbesondere Gewalt- und Aggressionsdelikte zählen auch nach der am in Kraft getretenen Fassung des § 63 StGB regelmäßig zu den erheblichen Straftaten im Sinne des § 63 Satz 1 StGB (vgl. , NStZ-RR 2022, 173, 174; vom – 2 StR 42/19, Rn. 10; vom – 5 StR 495/18, Rn. 21; Beschluss vom – 4 StR 81/12, Rn. 5). Dies gilt insbesondere dann, wenn sich diese Taten gegen Zufallsopfer im öffentlichen Raum richten und zu erheblichen Einschränkungen in der Lebensführung der Opfer oder sonst schwerwiegenden Folgen führen (vgl. , Rn. 20; vom – 4 StR 380/21, NStZ-RR 2022, 173, 174; vom – 5 StR 211/21, Rn. 15; jeweils mwN). Anders kann es zwar bei einfachen Körperverletzungen im Sinne des § 223 Abs. 1 StGB liegen, wenn diese mit nur geringer Gewaltanwendung verbunden sind und die Erheblichkeitsschwelle der tatbestandlich vorausgesetzten Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit nur unwesentlich überschreiten (vgl. , NStZ-RR 2022, 173, 174; vom – 5 StR 495/18 mwN). Nicht erforderlich ist aber, dass Straftaten zu erwarten sind, durch welche die Opfer körperlich oder seelisch „schwer“ geschädigt werden; dementsprechend sind etwa Faustschläge ins Gesicht in der Regel bereits der mittleren Kriminalität zuzurechnen, insbesondere wenn sie Verletzungen zur Folge haben, die ärztlich versorgt werden müssen (vgl. , Rn. 21; vom – 3 StR 174/18, Rn. 12).

24bb) Unter Zugrundelegung dieser Anforderungen hält die Annahme des Landgerichts, dass die festgestellten körperlichen Angriffe gegen Polizeibeamte, Nachbarn und Zufallsopfer nicht erheblich seien, rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

25(1) Die Feststellungen erweisen sich hinsichtlich der Anlasstat II.a der Urteilsgründe als lückenhaft. Zwar stellt das Landgericht bei den Angriffen gegen die Polizeibeamten im Ausgangspunkt zutreffend darauf ab, dass auch derartige Taten erheblich im Sinne des § 63 Satz 1 StGB sein können (vgl. , Rn. 17; vom – 5 StR 115/21, Rn. 27; Beschluss vom – 5 StR 464/22, NStZ-RR 2023, 7). Es hat auch in den Blick genommen, dass Polizeibeamte darin ausgebildet sind, professionell mit Konfliktsituationen umzugehen und zumeist über besondere Hilfs- und Schutzmittel verfügen (vgl. BGH, Beschlüsse vom – 5 StR 464/22, NStZ-RR 2023, 7; vom – 4 StR 565/16, Rn. 10). Die Urteilsgründe enthalten aber keine Feststellungen zur konkreten Art und Intensität der Angriffshandlungen. Damit kann die Wertung des Landgerichts, dass der Angriff auf die Polizeibeamten am (Fall II.a der Urteilsgründe) tatsächlich nur niederschwellig und die Anlasstat daher nicht erheblich sei, revisionsgerichtlich nicht überprüft werden.

26(2) Die Nötigungshandlung zum Nachteil des Nachbarn P.        (Fall II.g der Urteilsgründe) und die Taten zum Nachteil des Geschädigten Ki.      (Fall II.l der Urteilsgründe) sowie des Nachbarn K.      (Fall II.m der Urteilsgründe) sind nicht nachvollziehbar als lediglich unerhebliche Anlasstaten bewertet.

27Soweit das Landgericht bei der Bewertung des Tatgeschehens zum Nachteil P.       s darauf abstellt, dass dem Geschädigten ein Ausweichen auf die Straße unter den gegebenen Umständen gefahrlos möglich gewesen sei, hat es sich nicht näher mit der Frage beschäftigt, ob das Ausbleiben schwererer Folgen nicht lediglich vom Zufall abhängig war (vgl. dazu ). Anlass hätte hierzu insbesondere deshalb bestanden, weil der Angeklagte sich in einer Bedrohungssituation wähnte und es nicht in der Hand hatte, die Verletzungsfolgen seines aggressiven Vorgehens zu steuern (vgl. dazu , Rn. 21; vom – 5 StR 495/18, Rn. 23). Gleiches gilt für die Tat vom zum Nachteil Ki.       s (Fall II.l der Urteilsgründe). Hier hat das Landgericht überdies nicht erkennbar in den Blick genommen, dass die Tat den Geschädigten als Zufallsopfer im öffentlichen Raum traf (vgl. , Rn. 20 mwN). Schließlich hat die Strafkammer im Fall II.m der Urteilsgründe die Tatfolgen (Schädel-Hirn-Trauma) mit nicht nachvollziehbarer Begründung bagatellisiert.

28c) Darüber hinaus geben die Urteilsgründe Anlass zu der Besorgnis, dass das Landgericht im Rahmen der Gefährlichkeitsprognose die Anlasstaten jeweils nur isoliert gewürdigt und nicht die zu erwartende Häufigkeit und Rückfallfrequenz bedacht hat (vgl. dazu BT-Drucks. 18/7244 S. 19; , juris Rn. 22; , Rn. 27; Beschluss vom – 2 StR 121/18, Rn. 14).

293. Die Ablehnung der Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus hat daher keinen Bestand. Dies führt zur Aufhebung auch des Freispruchs und sämtlicher Feststellungen, auch derjenigen zu den Anlasstaten. Die Sache bedarf daher in vollem Umfang neuer Verhandlung und Entscheidung.

Bartel                                Wenske                            Fritsche

               von Schmettau                               Arnoldi

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:151025U6STR179.25.0

Fundstelle(n):
FAAAK-06941