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BGH Beschluss v. - EnVR 72/23

Besonderes Missbrauchsverfahren

Leitsatz

Besonderes Missbrauchsverfahren

1.    Ein in der Vergangenheit liegendes, mittlerweile beendetes Verhalten eines Netzbetreibers kann eine für die Einleitung eines besonderen Missbrauchsverfahrens ausreichende gegenwärtige Interessenberührung begründen (Fortführung von , RdE 2018, 531 Rn. 17).

2.    Das Beschwerdegericht muss grundsätzlich auch dann, wenn die Regulierungsbehörde einen Antrag nach § 31 Abs. 1 EnWG rechtsfehlerhaft als unzulässig zurückweist, den entscheidungserheblichen Sachverhalt vollständig feststellen, etwaige behördliche Aufklärungsdefizite selbst beheben und unklare Rechtsfragen selbst entscheiden.

Gesetze: § 31 Abs 1 EnWG

Instanzenzug: Az: VI-3 Kart 29/22 (V) Beschluss

Gründe

1A.    Die Antragstellerin betreibt zwei im Jahr 2018 in Betrieb genommene Photovoltaikfreiflächenanlagen am Standort F (nachfolgend zusammen: Photovoltaikanlage F oder Anlage). Den dort erzeugten Strom speist sie seit dem in das von der weiteren Beteiligten betriebene Verteilernetz ein. Um für ihn die Marktprämie nach §§ 19, 20 EEG 2017 zu erhalten, schloss die Antragstellerin im Februar 2018 mit der N GmbH einen Vertrag zur Direktvermarktung. Die N GmbH meldete die Anlage gegenüber der weiteren Beteiligten zu ihrem Bilanzkreis an, über den sie Strom aus verschiedenen Solar- und Biomasseanlagen nach dem Marktprämienmodell bilanzierte und vermarktete (nachfolgend: Marktprämien-Bilanzkreis). Die weitere Beteiligte bestätigte im Juni 2018 zunächst die fristgerechte Überführung der Photovoltaikanlage F in den benannten Marktprämien-Bilanzkreis. Im Januar 2019 lehnte sie gegenüber der N GmbH deren Antrag auf Überführung der Photovoltaikanlage F in ihren Marktprämien-Bilanzkreis mit der Begründung rückwirkend ab, es fehle an einer der im Erneuerbare-Energien-Gesetz geregelten Fördervoraussetzung für die Anlage. Da die N GmbH die Anlage nicht zu einem ihrer anderen Bilanzkreise ummeldete, bilanzierte die weitere Beteiligte den Strom aus der Photovoltaikanlage F in der Folgezeit in einem eigenen Bilanzkreis für erneuerbare Energien.

2In einem von der Antragstellerin und der weiteren Beteiligten durchgeführten Votumsverfahren bejahte die Clearingstelle EEG/KWKG am für den in der Photovoltaikanlage F erzeugten und in das Netz der weiteren Beteiligten eingespeisten Strom einen Förderanspruch nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz 2017. Die N GmbH beantragte im Januar 2021 bei der weiteren Beteiligten, die Photovoltaikanlage F mit Wirkung für die Zukunft in ihrem Marktprämien-Bilanzkreis anzumelden, was die weitere Beteiligte zum umsetzte. Im Februar 2021 teilte die N GmbH ihr mit, dass sie zu einer Aufnahme der Photovoltaikanlage F in ihren Marktprämien-Bilanzkreis rückwirkend zum nur bereit sei, wenn sich die weitere Beteiligte zur Übernahme der - mit knapp 600.000 € bezifferten - Ausgleichsenergiekosten bereit erkläre. Dies lehnte die weitere Beteiligte ab. Sie zahlte für den Zeitraum vom bis für den aus der Photovoltaikanlage F in ihr Netz eingespeisten Strom keine Marktprämie an die Antragstellerin.

3Am hat die Antragstellerin bei der Bundesnetzagentur die Durchführung eines besonderen Missbrauchsverfahrens mit der Feststellung beantragt, dass sich die weitere Beteiligte missbräuchlich verhalten habe, indem sie die Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH für die Zeit vom bis zum zurückgewiesen habe (Missbrauchsantrag). Mit Beschluss vom (BK6­21­075) hat die Bundesnetzagentur den Missbrauchsantrag als unzulässig zurückgewiesen.

4Auf die Beschwerde der Antragstellerin hat das Beschwerdegericht den Beschluss der Bundesnetzagentur aufgehoben und diese verpflichtet, den Missbrauchsantrag unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden. Hiergegen wendet sich die Bundesnetzagentur mit der Rechtsbeschwerde, mit der sie die Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und die Zurückweisung der Beschwerde erstrebt.

5B.    Die Rechtsbeschwerde führt zur Aufhebung der Beschwerdeentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das Beschwerdegericht.

6I.    Das Beschwerdegericht (RdE 2023, 333) hat ausgeführt, die Bundesnetzagentur habe rechtsfehlerhaft ein gegenwärtiges erhebliches Interesse der Antragstellerin an einer Überprüfung der von der weiteren Beteiligten für den Zeitraum vom bis verweigerten Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH verneint und daher den Missbrauchsantrag zu Unrecht als unzulässig zurückgewiesen. Das beanstandete Verhalten der weiteren Beteiligten berühre die wirtschaftlichen Interessen der Antragstellerin erheblich. Nach ihrem Vorbringen seien ihr infolge der für den Zeitraum vom bis verweigerten Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH Marktprämienzahlungen in Höhe von rund 1,2 Mio. € entgangen. Auch wenn das Verhalten der weiteren Beteiligten im Zeitpunkt der Antragstellung im besonderen Missbrauchsverfahren bereits beendet gewesen sei, fehle es nicht an der nach dem Sinn und Zweck des § 31 EnWG als Streitschlichtungsinstrument erforderlichen gegenwärtigen Interessenbeeinträchtigung der Antragstellerin. Nicht erforderlich sei darüber hinaus die Gegenwärtigkeit des gerügten Verhaltens oder der Rechtsverletzung, sodass auch ein beendetes Verhalten Gegenstand eines Missbrauchsantrags nach § 31 EnWG sein könne, wenn die Verhaltensänderung nicht zu einer vollständigen Streitbeilegung führe.

7Eine der Streitschlichtung zugängliche gegenwärtige Interessenbeeinträchtigung der Antragstellerin sei auch deshalb zu bejahen, weil die weitere Beteiligte im Beschwerdeverfahren an ihrer Auffassung festhalte, wegen der aus ihrer damaligen Sicht unklaren Förderfähigkeit dazu berechtigt gewesen zu sein, die Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH im Zeitraum vor dem zu verweigern, und daher eine Einstandspflicht für die durch ihre Weigerung bei der Antragstellerin eingetretenen negativen wirtschaftlichen Folgen in Abrede stelle. Die in der Änderung der Bilanzkreis-Zuordnung zum liegende Verhaltensänderung der weiteren Beteiligten wirke nicht positiv auf den davorliegenden Zeitraum und die daraus resultierende wirtschaftliche Beeinträchtigung der Antragstellerin zurück. Daher sei, auch wenn sich die begehrte Überprüfung auf einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt beziehe, eine Streitschlichtung noch sinnvoll möglich. Zudem könne wegen der Bindungswirkung nach § 32 Abs. 4 EnWG bereits die bloße Feststellung einer Zuwiderhandlung durch die Regulierungsbehörde streitbeilegend wirken.

8Die Bundesnetzagentur sei ohne Prüfung durch das Beschwerdegericht, ob eine Rechtsverletzung durch die weitere Beteiligte vorliege und damit die materiellen Voraussetzungen für den Erlass des begehrten Missbrauchsausspruchs in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht erfüllt seien, zur Neubescheidung zu verpflichten. Dem stünden die - im energiewirtschaftsrechtlichen Verwaltungsverfahren entsprechend anzuwendenden - Grundsätze des § 113 Abs. 5 VwGO nicht entgegen, wonach das Gericht zur Herstellung der Spruchreife verpflichtet sei. Die materielle Prüfung, ob die Ablehnung der beantragten Bilanzkreis-Zuordnung durch die weitere Beteiligte für den Zeitraum vom bis zum als relevante Rechtsverletzung im Sinn des § 31 Abs. 1 Satz 2 EnWG einzuordnen sei, betreffe eine komplexe energiewirtschaftliche Fragestellung. Die Beantwortung solcher Fragen sei durch das besondere Missbrauchsverfahren nach § 31 EnWG bewusst der mit besonderen Fachkompetenzen ausgestatteten Regulierungsbehörde übertragen worden, damit diese mit dem Ziel der Streitbeilegung tätig werden könne. Das lasse es in der Gesamtwürdigung als zulässig und angezeigt erscheinen, die Sache ohne vorherige Bejahung einer Rechtsverletzung an die Bundesnetzagentur zur Neubescheidung zurückzuverweisen.

9II.    Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Zwar hat das Beschwerdegericht die Zurückweisung des Antrags der Antragstellerin auf Durchführung eines besonderen Missbrauchsverfahrens als unzulässig durch die Bundesnetzagentur zu Recht als rechtsfehlerhaft eingeordnet (dazu nachfolgend 1). Es durfte die Bundesnetzagentur jedoch nicht ohne eigene rechtliche Prüfung der Begründetheit des Missbrauchsantrags zur Neubescheidung der Antragstellerin verpflichten (dazu nachfolgend 2).

101.    Das Beschwerdegericht hat zutreffend angenommen, dass die Bundesnetzagentur den von der Antragstellerin im besonderen Missbrauchsverfahren erhobenen Antrag auf Überprüfung des Verhaltens der weiteren Beteiligten im Zusammenhang mit der Bilanzkreiszuordnung der Photovoltaikanlage F nicht als unzulässig zurückweisen durfte. Die Bundesnetzagentur hat eine Interessenberührung der Antragstellerin gemäß § 31 Abs. 1 Satz 1 EnWG durch die Weigerung der weiteren Beteiligten, die Anlage für den Zeitraum vom bis zum wie beantragt dem Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH zuzuordnen, zu Unrecht wegen fehlender Gegenwärtigkeit verneint.

11a)    Nach § 31 Abs. 1 Satz 1 EnWG können Personen, deren Interessen durch das Verhalten eines Netzbetreibers erheblich berührt werden, bei der Regulierungsbehörde einen Antrag auf Überprüfung dieses Verhaltens stellen; die Berührung erheblicher wirtschaftlicher Interessen reicht dafür aus (BGH, Beschlüsse vom - EnVR 12/17, RdE 2018, 531 Rn. 16; vom - EnVR 91/20, WM 2023, 537 Rn. 14 - Netzreservekapazität II). Der - im Präsens gehaltene - Wortlaut des § 31 Abs. 1 Satz 1 EnWG spricht dafür, dass sein Anwendungsbereich grundsätzlich nur bei einer gegenwärtigen Interessenberührung durch das beanstandete Verhalten eröffnet ist (vgl. Hollmann in Bourwieg/Hellermann/Hermes, EnWG, 4. Aufl., § 31 Rn. 15; s. auch Baumgart in Assmann/Peiffer, BeckOK EnWG [Stand: ], § 31 Rn. 16; Weyer in Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 4. Aufl., § 31 EnWG Rn. 10). Das folgt aus der Zwecksetzung des § 31 EnWG, wonach - in Umsetzung von Art. 23 Abs. 5 der Richtlinie 2003/54/EG (sodann Art. 37 Abs. 11 der Richtlinie 2009/72/EG, jetzt Art. 60 Abs. 2 Richtlinie 2019/944 [EU] - nachfolgend EltRL 2003, 2009 und 2019) - die Regulierungsbehörde in den dort geregelten Fällen als Streitbeilegungsstelle eine Entscheidung treffen soll (vgl. , juris Rn. 15 f. - Galvanische Verbindung).

12b)    Entgegen der Auffassung der Bundesnetzagentur setzt § 31 EnWG darüber hinaus nicht voraus, dass das als rechtswidrig beanstandete Verhalten des Netzbetreibers selbst andauert, nicht nur seine (negative) Wirkung auf die berechtigten Interessen des Antragstellers. Das Beschwerdegericht geht zu Recht davon aus, dass auch ein in der Vergangenheit liegendes, mittlerweile beendetes Verhalten eine für die Einleitung eines besonderen Missbrauchsverfahrens ausreichende gegenwärtige Interessenberührung begründen kann. Dies folgt aus der Systematik des Energiewirtschaftsgesetzes, aus Sinn und Zweck des § 31 EnWG als Streitbeilegungsinstrument sowie dem weiten Verständnis der Interessenberührung, wie es sich aus der unionsrechtlichen Grundlage der Norm in Art. 23 Abs. 5 EltRL 2003, Art. 37 Abs. 11 EltRL 2009 und Art. 60 Abs. 2 EltRL 2019 ergibt.

13aa)    Wie der Bundesgerichtshof bereits entschieden hat, spricht die Systematik der Vorschriften über das allgemeine und das besondere Missbrauchsverfahren in §§ 30 und 31 EnWG sowie über das Aufsichtsverfahren in § 65 EnWG dafür, den Anwendungsbereich des besonderen Missbrauchsverfahrens auch für ein in der Vergangenheit liegendes Verhalten des Netzbetreibers zu eröffnen, das die wirtschaftlichen Interessen des Antragstellers (weiterhin) berührt (BGH, RdE 2018, 531 Rn. 17). Nach § 65 Abs. 3 EnWG und nach dem mit Wirkung vom eingefügten Absatz 3 des § 30 EnWG kann die Regulierungsbehörde bei Bestehen eines berechtigten Interesses auch eine Zuwiderhandlung feststellen, nachdem diese beendet ist. Es ist kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, dass dies nicht auch für das besondere Missbrauchsverfahren nach § 31 EnWG gelten sollte. Dessen Zweck erschöpft sich im Verhältnis zu den beiden anderen Verfahrensarten darin, dem Antragsteller im Fall der Ablehnung einer Überprüfung nach § 31 Abs. 1 Satz 2 EnWG durch die Regulierungsbehörde eine gerichtliche Nachprüfungsmöglichkeit einzuräumen, während dort nur eine Überprüfung des der Regulierungsbehörde zustehenden Aufgreif- und Auswahlermessens erfolgt (vgl. BGH, aaO; Beschluss vom - EnVR 10/13, EnWZ 2014, 470 Rn. 15 - Stromnetz Homberg). Aus dem Fehlen einer § 30 Abs. 3 EnWG und § 65 Abs. 3 EnWG entsprechenden ausdrücklichen Regelung in § 31 EnWG kann nichts Gegenteiliges geschlossen werden. Anders als beim allgemeinen Missbrauchsverfahren und beim Aufsichtsverfahren ist das Vorliegen eines berechtigten Interesses beim besonderen Missbrauchsverfahren bereits Voraussetzung für das Tätigwerden der Regulierungsbehörde, während diese ein Verfahren nach § 30 Abs. 2 EnWG und Maßnahmen nach § 65 EnWG auch ohne die Feststellung der Berührung von Interessen Dritter allein wegen eines rechtswidrigen Verhaltens des Netzbetreibers beziehungsweise Elektrizitätsversorgungsunternehmens durchführen kann. § 30 Abs. 3 und § 65 Abs. 3 EnWG stellen insofern eine Einschränkung des Anwendungsbereichs von allgemeinem Missbrauchsverfahren und Aufsichtsverfahren für ein in der Vergangenheit liegendes Fehlverhalten dar, der es in § 31 EnWG nicht bedurfte.

14bb)    Anders als die Bundesnetzagentur meint, streitet auch die Funktion des § 31 EnWG als (zügiges) Streitbeilegungsinstrument nicht dagegen, vergangenes Verhalten eines Netzbetreibers, das die erheblichen Interessen des Antragstellers weiterhin berührt, als zulässigen Gegenstand eines besonderen Missbrauchsverfahrens einzuordnen (BGH, RdE 2018, 531 Rn. 18). Ziel des Verfahrens ist die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des Verhaltens eines Netzbetreibers, wozu die Regulierungsbehörde als sachnahe, kompetente und unabhängige Institution berufen ist. Dieser Funktion kann sie auch im Hinblick auf einen in der Vergangenheit liegenden Sachverhalt gerecht werden, der unmittelbare Ursache für einen ungelösten aktuellen Konflikt ist. Da sie keine Entscheidung über etwaige Sekundäransprüche des Antragstellers zu treffen hat (vgl. , RdE 2021, 141 Rn. 49 - Baltic Cable AB II), beschränkt sich ihre Aufgabe auch in einem solchen Fall auf die Kontrolle der Vereinbarkeit des gerügten Verhaltens mit den energiewirtschaftsrechtlichen Normen. Es ist daher nicht ersichtlich, dass die Durchführung eines besonderen Missbrauchsverfahrens aufwändiger wäre, wenn das beanstandete Verhalten beendet ist, aber erhebliche wirtschaftliche Nachwirkungen hat, als wenn es noch andauert. Insofern ist auch die von der Rechtsbeschwerde ins Feld geführte enge Fristenbindung der Regulierungsbehörde nach § 31 Abs. 3 EnWG kein durchgreifendes Argument gegen eine Beschränkung des Verfahrensgegenstands des § 31 EnWG auf anhaltende Rechtsverstöße durch den Netzbetreiber.

15cc)    Soweit die Bundesnetzagentur geltend macht, die Schutzrichtung des besonderen Missbrauchsverfahrens liege darin, eine missbräuchliche Verhaltensweise abzustellen, und sein Verfahrensziel bestehe (allein) in einer Verhaltensänderung des Netzbetreibers, kann dem nach den vorstehenden Ausführungen und unter Berücksichtigung der unionsrechtlichen Grundlage des § 31 EnWG nicht beigetreten werden. Art. 23 Abs. 5 EltRL 2003, Art. 37 Abs. 11 EltRL 2009 und Art. 60 Abs. 2 EltRL 2019 sehen jeweils vor, dass jeder Betroffene, der in Bezug auf die von einem Betreiber im Rahmen der Richtlinie eingegangenen Verpflichtungen eine Beschwerde gegen einen Übertragungs- oder Verteilernetzbetreiber hat, damit die Regulierungsbehörde befassen kann, die als Streitbeilegungsstelle innerhalb eines Zeitraums von zwei Monaten nach Eingang der Beschwerde eine Entscheidung trifft. Ausgehend von der weiten Formulierung des Art. 37 Abs. 11 EltRL 2009, wonach die Zuständigkeit der Regulierungsbehörde als Streitbeilegungsstelle für die Beschwerde "jedes Betroffenen" besteht, hat der Gerichtshof der Europäischen Union aus dem Regelungszusammenhang geschlossen, dass bei einer Einschränkung des Anwendungsbereichs auf Personen, die unmittelbar betroffen sind, nicht die gebotene volle Wirksamkeit der zum Schutz der Kunden ergriffenen Maßnahmen gewährleistet wäre (vgl. , NVwZ-RR 2021, 153 Rn. 26). Er hat daher entschieden, dass auch mittelbar Betroffene beschwerdebefugt sein müssen (EuGH, aaO Rn. 36). Der Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 EnWG darf also bei richtlinienkonformer Auslegung nicht zu eng verstanden werden. Somit kommt auch eine Verengung seines Anwendungsbereichs auf Beschwerden, bei denen neben einer Beeinträchtigung der Interessen des Antragstellers zusätzlich ein gegenwärtiges Fehlverhalten des Netzbetreibers festgestellt werden muss, nicht in Betracht.

16c)    Danach hat das Beschwerdegericht eine zur Antragstellung nach § 31 EnWG berechtigende erhebliche gegenwärtige Interessenberührung der Antragstellerin zutreffend bejaht.

17aa)    Es geht zu Recht davon aus, dass für die Durchführung eines besonderen Missbrauchsverfahrens eine mittelbare Interessenberührung ausreicht (vgl. EuGH, NVwZ-RR 2021, 153 Rn. 19 bis 36). Daher ist unerheblich, dass zwischen der Antragstellerin und der weiteren Beteiligten aufgrund der Direktvermarktung des in der Photovoltaikanlage F erzeugten und in das Netz der weiteren Beteiligten eingespeisten Stroms im Hinblick auf die Bilanzkreiszuordnung kein unmittelbares Rechtsverhältnis besteht. Eine mittelbare Betroffenheit der Antragstellerin liegt vor. Die Ablehnung der Zuordnung des in der Anlage erzeugten Stroms zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH hat zur Folge, dass bis zum eine zwingende Voraussetzung für einen Anspruch der Antragstellerin auf Zahlung der Marktprämie gemäß § 20 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 in Verbindung mit § 19 Abs. 1 Nr. 1 EEG 2017 fehlt.

18bb)    Die Antragstellerin ist auch erheblich in ihren wirtschaftlichen Interessen berührt. Nach den vom Beschwerdegericht getroffenen Feststellungen hat sie aufgrund der Weigerung der weiteren Beteiligten, die Photovoltaikanlage F ab dem dem Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH zuzuordnen, für den bis zum in das Netz der weiteren Beteiligten eingespeisten Strom keine Marktprämie nach §§ 19, 20 EEG 2017 erhalten und dadurch Einbußen in Höhe von rund 1,2 Mio. € erlitten. Die zum erfolgte Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH hat diese Interessenberührung nicht entfallen lassen, da sie sich nur auf Marktprämienansprüche der Antragstellerin für ab diesem Zeitpunkt eingespeisten Strom auswirkt und die weitere Beteiligte die rückwirkende Zuordnung weiterhin verweigert. Unabhängig davon, dass die Zulässigkeit eines besonderen Missbrauchsverfahrens nicht mit der Begründung verneint werden kann, dieses diene lediglich der Vorbereitung einer zivilrechtlichen Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen (vgl. BGH, RdE 2018, 531 Rn. 19; Beschluss vom - EnVR 17/22, RdE 2025, 291 Rn. 16 - Batteriespeicher als Erzeugungsanlage), ist im Streitfall nicht ausgeschlossen, dass die weitere Beteiligte - sollte sich ihr Verhalten im Herbst 2018 als rechtswidrig erweisen - die Zuordnung der Photovoltaikanlage F zum Marktprämien-Bilanzkreis der N GmbH noch rückwirkend für den Zeitraum vom bis zum vornehmen kann, gegebenenfalls unter Übernahme der für Ausgleichsenergie anfallenden Kosten (vgl. Rn. 106 bis 110 - Lieferantenausfall bei Mittelspannungskunden).

19d)    Rechtsfehlerfrei hat das Beschwerdegericht unter Zugrundelegung des Vorbringens der Antragstellerin auch einen relevanten Rechtsverstoß der weiteren Beteiligten für möglich sowie für nicht offensichtlich ausgeschlossen erachtet (vgl. zum insoweit anzulegenden Maßstab , RdE 2016, 31 Rn. 12 - Stadtwerke Schwerte GmbH) und den Missbrauchsantrag daher als statthaft angesehen. Dabei hat es zutreffend angenommen, dass das von der Antragstellerin beanstandete Verhalten der weiteren Beteiligten in den materiellen Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 Satz 2 EnWG fällt, weil eine Verletzung des Rechts auf Zugang zu den Energieversorgungsnetzen nach § 20 EnWG, § 4 Abs. 3 StromNZV in Verbindung mit Ziffer 3.2 und 3.3 der seit dem gültigen Anlage 3 zur Festlegung BK6-20-160 vom Marktprozesse für erzeugende Marktlokationen (Strom) - MPES - gerügt wird. Es erscheint auch möglich, dass die weitere Beteiligte nach den Vorgaben der MPES und der Stromnetzzugangsverordnung nicht berechtigt war, die von der N GmbH beantragte Bilanzkreiszuordnung der Photovoltaikanlage F zu verweigern, und ihren Zweifeln an der Förderfähigkeit des dort erzeugten Stroms durch Nichtzahlung der Marktprämie an die Antragstellerin hätte Ausdruck verleihen können. Damit ist zugleich von der Möglichkeit eines Verstoßes der weiteren Beteiligten gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 31 Abs. 2 EltRL 2019 auszugehen.

202.    Rechtsfehlerhaft hat das Beschwerdegericht den verfahrensgegenständlichen Beschluss der Bundesnetzagentur jedoch aufgehoben und die Bundesnetzagentur zur Neubescheidung der Antragstellerin verpflichtet, ohne selbst zuvor die Begründetheit des Missbrauchsantrags zu prüfen.

21a)    Gemäß § 83 Abs. 4 EnWG spricht das Beschwerdegericht, wenn es die Ablehnung oder Unterlassung einer Entscheidung durch die Regulierungsbehörde für unzulässig oder unbegründet hält, deren Verpflichtung aus, die beantragte Entscheidung vorzunehmen.

22aa)    Dafür reicht es jedoch nach allgemeiner Ansicht trotz des weiten Wortlauts der Norm nicht aus, dass die Ablehnung der beantragten Entscheidung unzulässig oder unbegründet war; vielmehr muss ein Anspruch des Beschwerdeführers auf ein Einschreiten der Regulierungsbehörde bestehen, müssen also die Voraussetzungen der Ermächtigungsgrundlage vorliegen (vgl. Boos in Theobald/Kühling, Energierecht [Stand April 2025], § 83 EnWG Rn. 13 f.; Johanns/Roesen in Säcker, Berliner Kommentar zum Energierecht, 4. Aufl., § 83 EnWG Rn. 16; Laubenstein/Bourazeri in Bourwieg/Hellermann/Hermes, EnWG, 4. Aufl., § 83 Rn. 19; van Rossum in Assmann/Peiffer, BeckOK EnWG [Stand ], § 83 Rn. 29). Ergibt die rechtliche Prüfung durch das Beschwerdegericht, dass zwar eine Verpflichtung der Regulierungsbehörde zur (positiven) Bescheidung besteht, dieser jedoch hinsichtlich des Entscheidungsinhalts ein Ermessen eingeräumt ist, spricht es in analoger Anwendung des § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO deren Verpflichtung aus, den Beschwerdeführer unter Beachtung der Rechtsauffassung des Beschwerdegerichts neu zu bescheiden (vgl. auch Johanns/Roesen, aaO Rn. 17; Laubenstein/Bourazeri, aaO; van Rossum, aaO Rn. 30). Nach den im energiewirtschaftsrechtlichen Verfahren ergänzend heranzuziehenden allgemeinen verwaltungsprozessualen Grundsätzen (vgl. , ZNER 2025, 330 Rn. 24 - Batteriespeicher II mwN) darf das Gericht eine Verpflichtung zur Neubescheidung allerdings erst nach vollständiger rechtlicher Prüfung der Anspruchsgrundlage treffen. Vor einer Entscheidung nach § 113 Abs. 5 VwGO muss das Gericht grundsätzlich feststellen, ob die begehrte Verpflichtung der Behörde zum Erlass einer - gegebenenfalls in ihrem Ermessen stehenden - Bescheidung besteht, und sodann eine abschließende Entscheidung über das Klagebegehren, mithin den geltend gemachten Anspruch treffen. Dazu hat es den entscheidungserheblichen Sachverhalt grundsätzlich vollständig festzustellen, etwaige behördliche Aufklärungsdefizite selbst zu beheben und unklare Rechtsfragen selbst zu entscheiden (vgl. , BVerwGE 107, 128 [juris Rn. 10 ff.]; vom - 4 C 6/15, BVerwGE 156, 136 Rn. 47; Decker in Posser/Wolff/Decker, BeckOK VwGO [Stand: ], § 113 Rn. 73; Riese in Schoch/Schneider, Verwaltungsrecht [Stand: August 2024], § 113 VwGO Rn. 223). Gleiches gilt für das fusionskontrollrechtliche Beschwerdeverfahren (vgl. , BGHZ 155, 214 [juris Rn. 20 ff.] - HABET/Lekkerland mwN).

23bb)    Ausnahmen von diesen Grundsätzen sind in der höchstrichterlichen Rechtsprechung nur unter engen Voraussetzungen anerkannt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in Einzelfällen bei sogenannten steckengebliebenen Genehmigungsverfahren, in denen komplexe Fragestellungen erstmals im gerichtlichen Verfahren geklärt werden müssten, ein Bescheidungsurteil auch ohne vollständige Rechtsprüfung zugelassen (vgl. , ZfBR 1989, 225 [juris Rn. 18]; BVerwGE 156, 136 Rn. 47). Ähnlich hat es in Verfahren nach dem Informationsfreiheitsgesetz geurteilt, in denen Voraussetzung für die Entscheidung der Behörde eine Anhörung Dritter ist (§ 8 Abs. 1 IFG), die aufgrund des Daten- und Geheimnisschutzes nicht im gerichtlichen Verfahren nachgeholt werden kann (, BVerwGE 150, 383 [juris Rn. 47]; s. auch Decker, aaO Rn. 73.1; Riese, aaO Rn. 224). Der Bundesgerichtshof hat für das fusionskontrollrechtliche Beschwerdeverfahren entschieden, dass ein ohne Herbeiführung der Spruchreife ergehender Bescheidungsbeschluss durch das Beschwerdegericht an enge Voraussetzungen gebunden ist und insbesondere auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich sein muss. An der erforderlichen Sachdienlichkeit fehlt es dabei regelmäßig schon deshalb, weil auch im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit besteht, die noch erforderlichen Ermittlungen durch die Kartellbehörde durchführen zu lassen. Sieht das Gesetz für die in Frage stehende behördliche Entscheidung zudem kurze Fristen vor, ist eine Aufhebung der behördlichen Entscheidung ohne Herbeiführung der Spruchreife zudem mit dem daraus resultierenden besonderen Beschleunigungsgebot grundsätzlich nicht zu vereinbaren (BGHZ 155, 214 [juris Rn. 25 f.] - HABET/Lekkerland mwN).

24b)    Mit diesen Grundsätzen ist die vom Beschwerdegericht gewählte Verfahrensweise, den Beschluss der Bundesnetzagentur vom ohne eigene Prüfung der Begründetheit des Missbrauchsantrags der Antragstellerin aufzuheben und die Sache zur Neubescheidung an die Bundesnetzagentur zurückzugeben, nicht vereinbar. Insbesondere liegt hier kein Fall vor, der mit den in Rechtsprechung und Literatur anerkannten Ausnahmen von der umfassenden Prüfungspflicht des Gerichts vergleichbar wäre oder aus anderen Gründen eine abweichende Bewertung erfordern würde.

25aa)    Der für die rechtliche Prüfung des von der Antragstellerin beanstandeten Verhaltens der weiteren Beteiligten zu ermittelnde Sachverhalt weist keine besondere Komplexität auf. Seine Ermittlung durch das Beschwerdegericht ist auch nicht aufgrund notwendiger Beteiligung Dritter oder anderer rechtlicher Hürden unmöglich oder wesentlich erschwert. Gleiches gilt für die Beantwortung der aufgeworfenen Rechtsfragen, zumal auch im energiewirtschaftsrechtlichen Beschwerdeverfahren der Sachverstand der Bundesnetzagentur als Verfahrensbeteiligte genutzt und ihr - sofern erforderlich und mit dem Beschleunigungsgebot vereinbar - gegebenenfalls für die Herbeiführung der Spruchreife erforderliche weitere Ermittlungen übertragen werden können (vgl. [für die Kartellbehörde] BGHZ 155, 214 [juris Rn. 23] - HABET/Lekkerland mwN). Im Streitfall tritt hinzu, dass § 31 Abs. 3 EnWG sehr kurze Fristen für die Durchführung des Verfahrens durch die Regulierungsbehörde vorsieht, nämlich zwei Monate, die ohne Zustimmung des Antragstellers maximal einmal um weitere zwei Monate verlängert werden können. Das lässt darauf schließen, dass der Gesetzgeber der Klärung der dem besonderen Missbrauchsverfahren zugänglichen Streitfragen zugunsten des Antragstellers generell eine hohe Eilbedürftigkeit zumisst.

26bb)    Eine andere Beurteilung ist auch nicht wegen der besonderen Funktion des besonderen Missbrauchsverfahrens gemäß § 31 EnWG oder dessen unionsrechtlicher Grundlage geboten. Zwar handelt die Regulierungsbehörde hier als Streitbeilegungsstelle (vgl. oben Rn. 14). Lehnt sie aber nach eigener Prüfung des ihr angetragenen Sachverhalts die Erfüllung dieser ihr übertragenen Rolle - zu Unrecht - ab, so ist eine möglichst zügige endgültige Klärung der Streitfrage im gerichtlichen Verfahren im Interesse des Antragstellers herbeizuführen. Die von Art. 60 Abs. 2 EltRL 2019 (und ebenso nach Art. 23 Abs. 5 EltRL 2003 und Art. 37 Abs. 11 EltRL 2009) geforderte Befassung der Regulierungsbehörde mit der vom Betroffenen erhobenen Beschwerde gegen den Netzbetreiber hat im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung stattgefunden.

Roloff                              Tolkmitt                              Picker

                  Holzinger                          Kochendörfer

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:230925BENVR72.23.0

Fundstelle(n):
HAAAK-05938