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BFH Beschluss v. - V B 6/24

Qualifizierter Rechtsfehler bei geltend gemachter Nichtigkeit des angefochtenen Bescheids

Leitsatz

NV: Wird die Zulassung nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 der Finanzgerichtsordnung wegen eines qualifizierten Rechtsfehlers begehrt und konnte die eingelegte Klage nur Erfolg haben, wenn der angefochtene Bescheid als gemäß § 125 der Abgabenordnung nichtig anzusehen ist, liegt ein entscheidungserheblicher Zulassungsgrund in Bezug auf das die Klage abweisende Urteil des Finanzgerichts (FG) nur dann vor, wenn dem FG bei seiner Verneinung dieser Nichtigkeit ein qualifizierter Rechtsfehler unterlaufen ist.

Gesetze: AO § 125; FGO § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2

Instanzenzug:

Gründe

1 Die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) ist unbegründet. Soweit Zulassungsgründe im Sinne des § 115 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) überhaupt in einer § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO entsprechenden Form dargelegt wurden, liegen sie jedenfalls nicht vor.

2 1. Die Revision ist nicht wegen eines qualifizierten Rechtsfehlers, der im allgemeinen Interesse einer Korrektur durch das Revisionsgericht bedürfte, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO zuzulassen.

3 a) Ein solcher Rechtsfehler liegt nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn die Entscheidung des Finanzgerichts (FG) in einem solchen Maß fehlerhaft ist, dass das Vertrauen in die Rechtsprechung nur durch eine höchstrichterliche Korrektur der finanzgerichtlichen Entscheidung wiederhergestellt werden kann, wofür ein selbst „erheblicher Rechtsfehler“ nicht ausreicht, sondern eine „greifbare Gesetzwidrigkeit“ oder „Willkürlichkeit der angefochtenen Entscheidung“ erforderlich ist (so z.B. BFH-Beschlüsse vom  - II B 100/15, BFH/NV 2017, 39, Rz 18; vom  - III B 7/18, BFH/NV 2019, 515, Rz 16; vom  - IV B 53/16, BFH/NV 2017, 1032, Rz 29; vom  - VI B 74/22, BFH/NV 2023, 1221, Rz 39; vom  - VII B 40/19, BFH/NV 2020, 81, Rz 38; vom  - VIII B 37/23, BFH/NV 2024, 944, Rz 11; vom  - IX B 9/21, BFH/NV 2022, 1061, Rz 4; vom  - X B 76/18, BFH/NV 2019, 1113, Rz 12; ebenso Senatsbeschluss vom  - V B 15/23, BFH/NV 2024, 1424, Rz 9; vgl. auch BFH-Beschlüsse vom  - I B 148/11, BFH/NV 2012, 1802, Rz 32, und vom  - XI B 115/18, BFH/NV 2020, 340, Rz 19).

4 b) Bei der Prüfung, ob dem FG ein derartiger Rechtsfehler unterlaufen ist, ist im Streitfall die Besonderheit zu berücksichtigen, dass die für das Streitjahr eingelegte Klage nur Erfolg haben konnte, wenn der für das Streitjahr gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO) bereits vorliegende Schätzungsbescheid als gemäß § 125 AO nichtig anzusehen ist. Dementsprechend liegt ein entscheidungserheblicher Zulassungsgrund in Bezug auf das die Klage abweisende Urteil des FG nur dann vor, wenn dem FG bei seiner Verneinung dieser Nichtigkeit ein qualifizierter Rechtsfehler unterlaufen ist.

5 Nach den Verhältnissen des Streitfalls ist daher eine gestufte Betrachtung vorzunehmen, bei der für eine Zulassung der Revision eine Willkürlichkeit —oder ein der Willkürlichkeit gleichzustellender Umstand— auf beiden Prüfungsstufen vorliegen muss. Zum einen muss dem für das Streitjahr ergangenen Schätzungsbescheid eine willkürliche Schätzung oder zumindest eine Schätzung zugrunde liegen, die trotz vorhandener Möglichkeiten, den Sachverhalt aufzuklären und Schätzungsgrundlagen zu ermitteln, krass von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht und bei der in keiner Weise erkennbar ist, dass überhaupt und gegebenenfalls welche Schätzungserwägungen angestellt wurden (, BFH/NV 2018, 606, Rz 40). Zum anderen muss das FG derartige Nichtigkeitsgründe willkürlich oder zumindest greifbar gesetzwidrig verneint haben.

6 c) Der Senat lässt offen, ob der für das Streitjahr ergangene Schätzungsbescheid im Sinne von § 125 AO nichtig ist und ob das FG diese Frage materiell-rechtlich zutreffend beurteilt hat, da jedenfalls die Verneinung dieser Nichtigkeit durch das FG weder willkürlich noch greifbar gesetzwidrig ist.

7 aa) In Bezug auf die Schätzung der Ausgangsumsätze ist die Verneinung der Nichtigkeit einer Schätzung, die im Ergebnis die Verhältnisse zweier Voranmeldungszeiträume —vergleichbar dem für Zwecke des Ertragsteuerrechts als Schätzungsmethode anerkannten Zeitreihenvergleich (vgl. hierzu z.B. , BFHE 249, 390, BStBl II 2015, 743)— auf den gesamten Besteuerungszeitraum überträgt, weder willkürlich noch greifbar gesetzwidrig. Unternehmensbezogene Besonderheiten, die gegen eine derartige Betrachtung sprechen könnten, wie es etwa bei einem Saisongeschäft der Fall wäre, sind nicht ersichtlich.

8 bb) Auch soweit sich die Klägerin gegen den fehlenden Ansatz von Vorsteuerbeträgen wendet und sie insbesondere vorbringt, an dem Vorsatz zur Vornahme einer unrichtigen Schätzung ändere sich auch nichts durch den Hinweis, dass keine Eingangsrechnungen vorgelegt worden seien, ist nicht von einem qualifizierten Rechtsfehler des FG auszugehen. Bis zu dem Zeitpunkt des Erlasses des Schätzungsbescheids lagen —was von der Klägerin nicht in Zweifel gezogen wird— weder für den Vorsteuerabzug erforderliche (vgl. hierzu Senatsurteil vom  - V R 75/78, BFHE 146, 569, BStBl II 1986, 721; Senatsbeschlüsse vom  - V B 48/97, BFH/NV 1998, 563; vom  - V B 148/01, BFH/NV 2002, 682) Originalrechnungen vor noch ist ersichtlich, dass die Klägerin geltend gemacht hat, dass sich solche bei Geltendmachung des Vorsteuerabzugs in ihrem Besitz befanden (vgl. hierzu Senatsurteil vom  - V R 23/13, BFHE 247, 480, BStBl II 2015, 313, Rz 23). Die Annahme des FG, der Umstand, dass das FA Vorsteuerbeträge nicht berücksichtigt habe, vermöge einen offensichtlichen, schweren Mangel des angefochtenen Bescheids nicht zu begründen, ist danach im Rahmen des § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO anzulegenden Maßstabs nicht zu beanstanden. Hinzu kommt, dass Ausgangsumsätze auch ohne steuerpflichtige Eingangsumsätze im Besteuerungszeitraum vorliegen können, wie es etwa auch dann der Fall sein kann, wenn Gegenstände geliefert werden, die von Nichtunternehmern oder vor längerer Zeit erworben wurden.

9 d) Lediglich ergänzend weist der Senat darauf hin, dass sich die Problematik des Streitfalls daraus ergibt, dass die Klägerin zwar gegen den Schätzungsbescheid Einspruch eingelegt, aber gegen die Einspruchsentscheidung, mit der der Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben wurde, keine Klage erhoben (zu diesem Erfordernis , BFHE 139, 135, BStBl II 1984, 85), sondern erst Monate später einen Änderungsantrag gestellt hat, für dessen Bearbeitung es an einer Korrekturgrundlage nach den §§ 172 ff. AO fehlt, so dass das FG mit dem angefochtenen Urteil die auf Änderung eines bestandskräftigen Bescheids gerichtete Klage abgewiesen hat.

10 2. Es kann offenbleiben, ob ein qualifizierter Rechtsfehler weitergehend auch dann vorliegt, wenn dargelegt wird (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FGO), dass eine nicht auf einen Verfahrensmangel bezogene Rechtsverletzung (Sachrüge) zu einer begründeten Revision (§ 118 Abs. 2 i.V.m. § 126 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 FGO) führt, wobei ohne weiteres erkennbar —und damit ohne Befassung mit einer nach ihrer sachlichen Tiefe dem Revisionsverfahren vorbehaltenen Argumentation— mit einem Erfolg der Revision zu rechnen ist (vgl. hierzu Senatsbeschluss vom  - V B 7/24, BFH/NV 2025, 710, Rz 35). Denn auch ein derartiger Rechtsfehler ist im Hinblick auf die zahlreichen Umstände, die bei einer Schätzung zu berücksichtigen sind, nicht dargelegt.

11 3. Die Revision ist schließlich auch nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) zuzulassen.

12 a) Grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO kommt einer Rechtssache zu, wenn die für die Beurteilung des Streitfalls maßgebliche Rechtsfrage das abstrakte Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts berührt. Außerdem muss die Rechtsfrage klärungsbedürftig und in einem künftigen Revisionsverfahren klärungsfähig sein (, BFH/NV 2025, 710, Rz 17).

13 b) Die Klägerin misst der Rechtsfrage, ob im Rahmen einer Schätzung von Ausgangsumsätzen Vorsteuerbeträge entgegen einem wahrscheinlichen Ergebnis nur deshalb nicht berücksichtigt werden dürfen, weil keine Unterlagen vorliegen, grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO bei.

14 c) Ungeachtet der Frage, ob die Klägerin, die lediglich nicht näher bestimmte „Unterlagen“ in Bezug nimmt, damit eine hinreichend bestimmte Rechtsfrage formuliert hat oder ob —was die grundsätzliche Bedeutung ausschließen kann (vgl. etwa Senatsbeschluss vom  - V B 72/23, BFH/NV 2025, 1189)— die Beantwortung der von ihr aufgeworfenen Frage nicht vielmehr von den Umständen des Einzelfalls abhängt, fehlt der von der Klägerin aufgeworfenen Frage die erforderliche Klärungsfähigkeit (vgl. , BFH/NV 2025, 1055, Rz 7), da im Streitfall nicht über die Rechtmäßigkeit, sondern nur über die Nichtigkeit eines Schätzungsbescheids entschieden werden könnte. Hierzu legt die Klägerin, die mit ihrem diesbezüglichen Vorbringen im Kern die Rechtswidrigkeit des Schätzungsbescheids geltend macht, nicht hinreichend dar, weshalb aus der Nichtberücksichtigung von Vorsteuerbeträgen im Rahmen einer Schätzung die Nichtigkeit des Schätzungsbescheids folgen sollte, obwohl sich die Berechtigung zum Vorsteuerabzug nicht bereits aus dem Vorliegen einer Eingangsleistung, sondern erst aus dem Vorliegen der nach § 15 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) zu erfüllenden Voraussetzungen —zu denen unter anderem eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung zählt— ergibt.

15 4. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO abgesehen.

16 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BFH:2025:B.171125.VB6.24.0

Fundstelle(n):
NAAAK-05855