Nichtigkeitsklage – Richtlinie (EU) 2022/2041 – Angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union – Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV – Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV – Achtung der der Union durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten – Art. 153 Abs. 5 AEUV – Ausschluss der Zuständigkeit – ‚Arbeitsentgelt‘ und ‚Koalitionsrecht‘ – Unmittelbarer Eingriff des Unionsrechts in die Festlegung des Arbeitsentgelts in der Union und in das Koalitionsrecht – Teilnichtigerklärung – Art. 5 Abs. 1 in Teilen, Abs. 2 und Abs. 3 in fine
Leitsatz
Der Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie sowie der Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie werden für nichtig erklärt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Das Königreich Dänemark trägt zwei Drittel der Kosten, die dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union entstanden sind, sowie zwei Drittel seiner eigenen Kosten.
Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union tragen ein Drittel der Kosten, die dem Königreich Dänemark entstanden sind, und ein Drittel ihrer eigenen Kosten.
Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
Gesetze: AEUV Art. 151, AEUV Art. 152 Abs. 1, AEUV Art. 153, AEUV Art. 153 Abs. 1 Buchst. b, AEUV Art. 153 Abs. 2 Buchst. b, AEUV Art. 153 Abs. 5, AEUV Art. 5 Abs. 1, AEUV Art. 5 Abs. 2, AEUV Art. 5 Abs. 3, EUGrdRCh Art. 12, EUGrdRCh Art. 28
Gründe
1 Mit seiner Klage beantragt das Königreich Dänemark, die Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union (ABl. 2022, L 275, S. 33, im Folgenden: angefochtene Richtlinie) insgesamt für nichtig zu erklären und, hilfsweise, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und/oder Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie für nichtig zu erklären.
I. Rechtlicher Rahmen
A. AEU-Vertrag
2 Der Titel X („Sozialpolitik“) des Dritten Teils des AEUV-Vertrags umfasst die Art. 151 bis 161 AEUV.
3 In Art. 151 AEUV heißt es: „Die [Europäische] Union und die Mitgliedstaaten verfolgen eingedenk der sozialen Grundrechte, wie sie in der am in Turin unterzeichneten Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer von 1989 [(im Folgenden: Charta der sozialen Rechte)] festgelegt sind, folgende Ziele: die Förderung der Beschäftigung, die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen, um dadurch auf dem Wege des Fortschritts ihre Angleichung zu ermöglichen, einen angemessenen sozialen Schutz, den sozialen Dialog, die Entwicklung des Arbeitskräftepotenzials im Hinblick auf ein dauerhaft hohes Beschäftigungsniveau und die Bekämpfung von Ausgrenzungen.
Zu diesem Zweck führen die Union und die Mitgliedstaaten Maßnahmen durch, die der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten, insbesondere in den vertraglichen Beziehungen, sowie der Notwendigkeit, die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft der Union zu erhalten, Rechnung tragen.
Sie sind der Auffassung, dass sich eine solche Entwicklung sowohl aus dem eine Abstimmung der Sozialordnungen begünstigenden Wirken des Binnenmarkts als auch aus den in den Verträgen vorgesehenen Verfahren sowie aus der Angleichung ihrer Rechts- und Verwaltungsvorschriften ergeben wird.“
4 Art. 152 Abs. 1 AEUV lautet:
„Die Union anerkennt und fördert die Rolle der Sozialpartner auf Ebene der Union unter Berücksichtigung der Unterschiedlichkeit der nationalen Systeme. Sie fördert den sozialen Dialog und achtet dabei die Autonomie der Sozialpartner.“
5 Art. 153 AEUV sieht vor:
„(1) Zur Verwirklichung der Ziele des Artikels 151 unterstützt und ergänzt die Union die Tätigkeit der Mitgliedstaaten auf folgenden Gebieten:
…
Arbeitsbedingungen,
…
Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung, vorbehaltlich des Absatzes 5,
…
(2) Zu diesem Zweck haben das Europäische Parlament und der Rat [der Europäischen Union]
…
in den in Absatz 1 Buchstaben a bis i genannten Bereichen unter Berücksichtigung der in den einzelnen Mitgliedstaaten bestehenden Bedingungen und technischen Regelungen durch Richtlinien Mindestvorschriften erlassen, die schrittweise anzuwenden sind. Diese Richtlinien sollen keine verwaltungsmäßigen, finanziellen oder rechtlichen Auflagen vorschreiben, die der Gründung und Entwicklung von kleinen und mittleren Unternehmen entgegenstehen.
Das Europäische Parlament und der Rat beschließen gemäß dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des [Europäischen] Wirtschafts- und Sozialausschusses [(EWSA)] und des [Europäischen] Ausschusses der Regionen [(AdR)].
In den in Absatz 1 Buchstaben c, d, f und g genannten Bereichen beschließt der Rat einstimmig gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der genannten Ausschüsse.
…
(5) Dieser Artikel gilt nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht.“
6 In Art. 156 AEUV heißt es:
„Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge fördert die [Europäische] Kommission im Hinblick auf die Erreichung der Ziele des Artikels 151 die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten und erleichtert die Abstimmung ihres Vorgehens in allen unter dieses Kapitel fallenden Bereichen der Sozialpolitik, insbesondere auf dem Gebiet
…
des Koalitionsrechts und der Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.
…“
B. Angefochtene Richtlinie
7 Die angefochtene Richtlinie wurde auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV erlassen.
8 In den Erwägungsgründen 3, 7, 8, 12, 16, 18, 19, 22, 24, 25, 28 und 29 dieser Richtlinie heißt es:
Gemäß Artikel 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union … [(im Folgenden: Charta)] hat jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen. …
…
Bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen, auch durch angemessene Mindestlöhne, kommen sowohl Arbeitnehmern und Unternehmen in der Union als auch der Gesellschaft und der Wirtschaft im Allgemeinen zugute und sind eine Grundvoraussetzung für faires, inklusives und nachhaltiges Wachstum. Durch die Verringerung der Unterschiede bei der Abdeckung und Angemessenheit des Mindestlohnschutzes wird ein Beitrag zu mehr Fairness auf dem Arbeitsmarkt der Union, zur Vorbeugung und Verringerung von lohnbezogenen und sozialen Ungleichheiten sowie zu mehr wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt und Aufwärtskonvergenz geleistet. …
Wie das Übereinkommen Nr. 131 (1970) der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die Festsetzung von Mindestlöhnen anstrebt, schützen in angemessener Höhe festgesetzte Mindestlöhne, wie sie im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind, das Einkommen der Arbeitnehmer, insbesondere benachteiligter Arbeitnehmer, und tragen dazu bei, eine angemessene Lebensgrundlage zu sichern. Mindestlöhne, die einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen und somit eine angemessene Untergrenze erreichen, können zur Verringerung der Armut auf nationaler Ebene und zur Stützung der Binnennachfrage und der Kaufkraft beitragen, die Arbeitsanreize stärken, Lohnungleichheiten, das geschlechtsspezifische Lohngefälle und Armut trotz Erwerbstätigkeit verringern und den Einkommensrückgang in Zeiten eines wirtschaftlichen Abschwungs begrenzen.
…
In allen Mitgliedstaaten gibt es einen Mindestlohnschutz; in einigen Mitgliedstaaten wird er durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften und Tarifverträge festgelegt, in anderen hingegen ausschließlich durch Tarifverträge. Die unterschiedlichen nationalen Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten sollten geachtet werden.
…
Obgleich starke Tarifverhandlungssysteme, insbesondere auf sektoraler bzw. branchenübergreifender Ebene, dazu beitragen, einen angemessenen Mindestlohnschutz sicherzustellen, wurden in den letzten Jahrzehnten traditionelle Tarifverhandlungsstrukturen untergraben … Darüber hinaus sind sektorale und branchenübergreifende Tarifverhandlungen nach der Finanzkrise 2008 in einigen Mitgliedstaaten stark unter Druck geraten. Tarifverhandlungen auf sektoraler und branchenübergreifender Ebene sind jedoch ein wesentlicher Faktor zur Erreichung eines angemessenen Mindestlohnschutzes und müssen daher gefördert und gestärkt werden.
…
Zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen und der sozialen Aufwärtskonvergenz in der Union werden mit dieser Richtlinie auf Unionsebene Mindestanforderungen und Verfahrenspflichten für die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne festgelegt und der effektive Zugang der Arbeitnehmer zum Mindestlohnschutz verbessert, und zwar in Form eines gesetzlichen Mindestlohns, wo es einen solchen gibt, oder nach Maßgabe von Tarifverträgen im Sinne dieser Richtlinie. Durch diese Richtlinie werden auch Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung gefördert.
Im Einklang mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV zielt diese Richtlinie weder darauf ab, die Höhe der Mindestlöhne in der Union zu vereinheitlichen, noch einen einheitlichen Mechanismus für die Festsetzung von Mindestlöhnen zu schaffen. Sie greift nicht in die Freiheit der Mitgliedstaaten ein, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen oder den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten und den Besonderheiten eines jeden Mitgliedstaats sowie unter vollständiger Achtung nationaler Zuständigkeiten und der Vertragsfreiheit der Sozialpartner zu fördern. Diese Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, in denen die Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, weder zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns noch zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen, und eine solche Verpflichtung sollte daraus auch nicht abgeleitet werden. Darüber hinaus wird mit der Richtlinie kein Lohnniveau festgelegt, da dies unter das Recht der Sozialpartner zum Abschluss von Verträgen auf nationaler Ebene und in die entsprechende Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.
…
Gut funktionierende Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung sind ein gutes Mittel, um sicherzustellen, dass Arbeitnehmer durch angemessene Mindestlöhne geschützt werden, die deshalb einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen. In den Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen unterstützen Tarifverhandlungen die allgemeine Lohnentwicklung und tragen somit zur Verbesserung der Angemessenheit der Mindestlöhne sowie der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer bei. In den Mitgliedstaaten, in denen der Mindestlohnschutz gänzlich auf Tarifverträgen basiert, hängen sowohl die Höhe der Mindestlöhne als auch der Anteil der geschützten Arbeitnehmer unmittelbar vom Funktionieren des Tarifverhandlungssystems und von der tarifvertraglichen Abdeckung ab. Starke und gut funktionierende Tarifverhandlungssysteme in Verbindung mit einer hohen Abdeckung durch branchenspezifische oder branchenübergreifende Tarifverträge erhöhen die Angemessenheit und Abdeckung von Mindestlöhnen.
…
Vor dem Hintergrund einer rückläufigen tarifvertraglichen Abdeckung ist es von grundlegender Bedeutung, dass die Mitgliedstaaten Tarifverhandlungen fördern, die Wahrnehmung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung erleichtern und damit die tarifvertragliche Lohnfestsetzung stärken, um den Mindestlohnschutz der Arbeitnehmer zu verbessern. Die Mitgliedstaaten haben das [am in San Francisco angenommene] IAO-Übereinkommen Nr. 87 (1948) über die Vereinigungsfreiheit und den Schutz des Vereinigungsrechtes und das [am in Genf angenommene] IAO-Übereinkommen Nr. 98 (1949) über die Anwendung der Grundsätze des Vereinigungsrechtes und des Rechtes zu Kollektivverhandlungen ratifiziert. Das Recht auf Kollektivverhandlungen wird im Rahmen dieser IAO-Übereinkommen, des [am in Genf angenommenen] IAO-Übereinkommens Nr. 151 (1978) über den Schutz des Vereinigungsrechts und über Verfahren zur Festsetzung der Beschäftigungsbedingungen im öffentlichen Dienst und des [am in Genf angenommenen] IAO-Übereinkommens 154 (1981) über die Förderung von Kollektivverhandlungen sowie der [am in Rom unterzeichneten] Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Europäischen Sozialcharta anerkannt. Durch die Artikel 12 und 28 der Charta werden die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit bzw. das Recht auf Tarifverhandlungen und Arbeitskampfmaßnahmen garantiert. Gemäß ihrer Präambel werden diese Rechte, wie sie sich insbesondere aus der [Europäischen] Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas ergeben, durch die Charta bekräftigt. Die Mitgliedstaaten sollten gegebenenfalls und gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen bei der Lohnfestsetzung ergreifen. Zu solchen Maßnahmen könnten unter anderem Maßnahmen gehören, die den Zugang von Gewerkschaftsvertretern zu den Arbeitnehmern erleichtern.
In Mitgliedstaaten mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung ist der Anteil der Geringverdienenden tendenziell niedrig, und die Mindestlöhne befinden sich in der Regel auf einem hohen Niveau. … Jeder Mitgliedstaat mit einer tarifvertraglichen Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % sollte einen Rahmen schaffen, mit dem die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen geschaffen werden, und einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen aufstellen, um die tarifvertragliche Abdeckung schrittweise zu erhöhen. Um die Autonomie der Sozialpartner zu respektieren, was ihr Recht auf Tarifverhandlungen einschließt und jede Verpflichtung zum Abschluss von Tarifverträgen ausschließt, sollte der Schwellenwert von 80 % tarifvertraglicher Deckung nur als ein Indikator verstanden werden, durch den die Verpflichtung zur Erstellung eines Aktionsplans ausgelöst wird. … Die tarifvertragliche Abdeckung in den Mitgliedstaaten ist sehr unterschiedlich, was auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist, darunter die nationalen Traditionen und Gepflogenheiten sowie der historische Kontext. Dies sollte bei der Analyse der Fortschritte im Hinblick auf eine höhere tarifvertragliche Abdeckung berücksichtigt werden, insbesondere im Zusammenhang mit dem in dieser Richtlinie vorgesehenen Aktionsplan.
…
Mindestlöhne gelten als angemessen, wenn sie angesichts der Lohnskala im jeweiligen Mitgliedstaat gerecht sind und den Arbeitnehmern auf der Grundlage einer Vollzeitbeschäftigung einen angemessenen Lebensstandard sichern. Die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne wird unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen sozioökonomischen Bedingungen, einschließlich des Beschäftigungswachstums und der Wettbewerbsfähigkeit, und regionaler und sektoraler Entwicklungen von jedem einzelnen Mitgliedstaat bestimmt und bewertet. Im Hinblick auf diese Bestimmung sollten die Mitgliedstaaten die Kaufkraft, die langfristigen nationalen Produktivitätsniveaus und ‑entwicklungen sowie die Lohnniveaus, die Lohnverteilung und das Lohnwachstum berücksichtigen.
…
Unbeschadet der Befugnis der Mitgliedstaaten, den gesetzlichen Mindestlohn festzulegen und Abweichungen und Abzüge zuzulassen, ist es wichtig, zu vermeiden, dass Abweichungen und Abzüge weithin genutzt werden, da sie sich negativ auf die Angemessenheit der Mindestlöhne auswirken könnten. …“
9 Die angefochtene Richtlinie besteht aus vier Kapiteln. Kapitel I („Allgemeine Bestimmungen“) dieser Richtlinie besteht aus deren Art. 1 bis 4. Kapitel II („Gesetzliche Mindestlöhne“) der Richtlinie enthält deren Art. 5 bis 8. Kapitel III („Allgemeine Bestimmungen“) der Richtlinie umfasst deren Art. 9 bis 13. Kapitel IV („Schlussbestimmungen“) der angefochtenen Richtlinie besteht aus den Art. 14 bis 19.
10 Art. 1 („Gegenstand“) Abs. 1 bis 4 der angefochtenen Richtlinie sieht vor:
„(1) Zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere der Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern, wird mit dieser Richtlinie ein Rahmen geschaffen für
die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen mit dem Ziel, angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erreichen;
die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung;
die Verbesserung des effektiven Zugangs der Arbeitnehmer zum Recht auf Mindestlohnschutz, sofern dies im nationalen Recht und/oder in Tarifverträgen festgelegt ist.
(2) Diese Richtlinie berührt nicht die Autonomie der Sozialpartner sowie deren Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen.
(3) Im Einklang mit Artikel 153 Absatz 5 AEUV berührt diese Richtlinie nicht die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Festlegung der Höhe von Mindestlöhnen sowie die Entscheidung der Mitgliedstaaten, gesetzliche Mindestlöhne festzulegen, den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz zu fördern oder beides zu tun.
(4) Die Anwendung dieser Richtlinie erfolgt in voller Übereinstimmung mit dem Recht auf Tarifverhandlungen. Diese Richtlinie darf nicht so ausgelegt werden, als verpflichte sie einen Mitgliedstaat
in dem die Lohngestaltung ausschließlich tarifvertraglich geregelt ist, zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns;
dazu, Tarifverträge für allgemein verbindlich zu erklären.“
11 Art. 2 („Geltungsbereich“) dieser Richtlinie sieht vor, dass sie „für Arbeitnehmer in der Union [gilt], die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Arbeitsverhältnis stehen, wobei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu berücksichtigen ist.“
12 In Art. 3 („Begriffsbestimmungen“) der Richtlinie heißt es:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
‚Mindestlohn‘ das gesetzlich oder tarifvertraglich festgelegte Mindestentgelt, das ein Arbeitgeber, auch im öffentlichen Sektor, den Arbeitnehmern für die in einem bestimmten Zeitraum geleistete Arbeit zu zahlen hat;
‚gesetzlicher Mindestlohn‘ einen gesetzlich oder durch andere verbindliche Rechtsvorschriften festgelegten Mindestlohn mit Ausnahme der tarifvertraglichen Mindestlöhne, die für allgemein verbindlich erklärt wurden, ohne dass die die Allgemeinverbindlichkeit erklärende Behörde über einen Ermessensspielraum bezüglich des Inhalts der anwendbaren Bestimmungen verfügt;
‚Tarifverhandlungen‘ alle Verhandlungen gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten in jedem Mitgliedstaat zwischen einem Arbeitgeber, einer Gruppe von Arbeitgebern oder einer oder mehreren Arbeitgeberorganisationen einerseits und einer oder mehreren Gewerkschaften andererseits zur Festlegung der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen;
‚Tarifvertrag‘ eine schriftliche Vereinbarung über Bestimmungen zu Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen, die von den Sozialpartnern geschlossen wird, die gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten im Namen von Arbeitnehmern bzw. Arbeitgebern Verhandlungen führen können, einschließlich solcher Tarifverträge, die für allgemein verbindlich erklärt wurden;
‚Tarifvertragliche Abdeckung‘ den Anteil der Arbeitnehmer auf nationaler Ebene, für die ein Tarifvertrag gilt, berechnet als das Verhältnis der Zahl der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt, zu der Zahl der Arbeitnehmer, deren Arbeitsbedingungen durch Tarifverträge gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten geregelt werden können.“
13 Art. 4 („Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung“) der Richtlinie sieht vor:
„(1) Um die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern, ergreifen die Mitgliedstaaten unter Beteiligung der Sozialpartner gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten folgende Maßnahmen:
…
gegebenenfalls Schutz der Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung und Schutz der Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter vor Handlungen, durch die sie in Bezug auf ihre Beschäftigung diskriminiert werden, weil sie an Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung teilnehmen oder teilnehmen wollen;
zur Förderung von Tarifverhandlungen bei der Lohnfestsetzung gegebenenfalls Schutz von Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen der jeweils anderen Seite oder ihrer Vertreter oder Mitglieder in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung.
(2) Darüber hinaus legt jeder Mitgliedstaat, in dem die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt, einen Rahmen fest, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen. Dieser Mitgliedstaat erstellt außerdem einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen. Der Mitgliedstaat erstellt den Aktionsplan nach Anhörung der Sozialpartner oder im Einvernehmen mit ihnen oder, auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner, nach Maßgabe der Einigung der Sozialpartner. Der Aktionsplan enthält einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung unter uneingeschränkter Achtung der Autonomie der Sozialpartner. Der Mitgliedstaat überprüft den Aktionsplan regelmäßig und aktualisiert ihn bei Bedarf. Aktualisiert ein Mitgliedstaat den Aktionsplan, so tut er dies nach Anhörung der Sozialpartner oder im Einvernehmen mit ihnen oder, auf gemeinsamen Antrag der Sozialpartner, nach Maßgabe der Einigung der Sozialpartner. In jedem Fall wird ein Aktionsplan mindestens alle fünf Jahre überprüft. Der Aktionsplan und seine Aktualisierungen werden öffentlich zugänglich gemacht und der Kommission mitgeteilt.“
14 Art. 5 („Verfahren zur Festlegung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne“) der angefochtenen Richtlinie lautet:
„(1) Die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen schaffen die erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne. Bei dieser Festlegung und Aktualisierung werden Kriterien zugrunde gelegt, die zu ihrer Angemessenheit beitragen, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechterspezifische Lohngefälle zu verringern. Die Mitgliedstaaten legen diese Kriterien im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten in einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften, in Beschlüssen ihrer zuständigen Stellen oder in dreiseitigen Vereinbarungen fest. Die Kriterien müssen klar definiert sein. Die Mitgliedstaaten können unter Berücksichtigung ihrer nationalen sozioökonomischen Bedingungen über das relative Gewicht dieser Kriterien, einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte, entscheiden.
(2) Die nationalen Kriterien nach Absatz 1 umfassen mindestens die folgenden Aspekte:
die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten;
das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung;
die Wachstumsrate der Löhne;
langfristige nationale Produktivitätsniveaus und ‑entwicklungen.
(3) Unbeschadet der in diesem Artikel festgelegten Verpflichtungen können die Mitgliedstaaten zusätzlich einen automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen der gesetzlichen Mindestlöhne auf der Grundlage geeigneter Kriterien und gemäß den nationalen Rechtsvorschriften und im Einklang mit Gepflogenheiten anwenden, sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt.
(4) Die Mitgliedstaaten legen bei ihrer Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde. Zu diesem Zweck können sie auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte wie 60 % des Bruttomedianlohns und 50 % des Bruttodurchschnittslohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden.
(5) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig mindestens alle zwei Jahre oder – bei Mitgliedstaaten, die einen automatischen Indexierungsmechanismus gemäß Absatz 3 verwenden – mindestens alle vier Jahre aktualisiert werden.
(6) Jeder Mitgliedstaat bestimmt oder richtet ein oder mehrere Beratungsgremien ein, welche die zuständigen Stellen in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns beraten und ermöglicht die Arbeitsfähigkeit dieser Gremien.“
15 In Art. 6 („Abweichungen und Abzüge“) dieser Richtlinie heißt es:
„(1) Lassen Mitgliedstaaten für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedliche Sätze des gesetzlichen Mindestlohns oder Abzüge zu, durch die das gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird, so stellen sie sicher, dass bei diesen Abweichungen und Abzügen die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit eingehalten werden, wobei der letztere Grundsatz auch einschließt, dass ein legitimes Ziel verfolgt wird.
(2) Diese Richtlinie darf nicht so ausgelegt werden, als verpflichte sie die Mitgliedstaaten, Abweichungen oder Abzüge von den Mindestlöhnen einzuführen.“
16 Die Art. 7 und 8 der genannten Richtlinie tragen die Überschrift „Beteiligung der Sozialpartner an der Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne“ bzw. „Wirksamer Zugang der Arbeitnehmer zu gesetzlichen Mindestlöhnen“.
17 Die Art. 9 bis 11 der Richtlinie tragen die Überschrift „Vergabe öffentlicher Aufträge“, „Überwachung und Datenerhebung“ und „Informationen über den Mindestlohnschutz“.
18 Art. 12 („Anspruch auf Rechtsbehelfe und Schutz vor Benachteiligung oder negativen Konsequenzen“) der angefochtenen Richtlinie bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Arbeitnehmer, einschließlich derjenigen, deren Beschäftigungsverhältnis beendet ist, unbeschadet besonderer Formen von Rechtsbehelfen und Streitbeilegungsverfahren, die gegebenenfalls in Tarifverträgen festgelegt sind, bei Verstößen gegen Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz, sofern solche Rechte im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind, Zugang zu einer wirksamen, rechtzeitigen und unparteiischen Streitbeilegung und Anspruch auf Rechtsbehelfe haben.
(2) Die Mitgliedstaaten ergreifen die erforderlichen Maßnahmen, um die Arbeitnehmer und Arbeitnehmervertreter, einschließlich derjenigen, die Gewerkschaftsmitglieder oder in der Arbeitnehmervertretung tätig sind, vor Benachteiligungen durch den Arbeitgeber und vor nachteiligen Folgen zu schützen, die sich aus einer Beschwerde beim Arbeitgeber oder aus Verfahren ergeben, die eingeleitet wurden, um die Einhaltung der Rechte in Bezug auf den Mindestlohnschutz durchzusetzen, sofern solche Rechte im nationalen Recht oder in Tarifverträgen verankert sind und gegen sie verstoßen wurde.“
19 Art. 13 („Sanktionen“) dieser Richtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten legen Regeln für Sanktionen fest, die bei Verstößen gegen die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Rechte und Pflichten zu verhängen sind, sofern diese Rechte und Pflichten im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind. In Mitgliedstaaten, in denen es keine gesetzlichen Mindestlöhne gibt, können diese Vorschriften einen Verweis auf Entschädigungen und/oder Vertragsstrafen, die gegebenenfalls in den Vorschriften zur Durchsetzung von Tarifverträgen festgelegt sind, enthalten oder sich auf einen solchen Verweis beschränken. Die vorgesehenen Sanktionen müssen wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sein.“
20 Art. 16 („Regressionsverbot und günstigere Bestimmungen“) Abs. 1 der Richtlinie bestimmt:
„Diese Richtlinie rechtfertigt nicht eine Verringerung des den Arbeitnehmern in den Mitgliedstaaten bereits jetzt gewährten allgemeinen Schutzniveaus, insbesondere nicht die Senkung oder Abschaffung von Mindestlöhnen.“
II. Anträge der Parteien und Verfahren vor dem Gerichtshof
21 Das Königreich Dänemark beantragt,
die angefochtene Richtlinie für nichtig zu erklären;
hilfsweise, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und/oder Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie für nichtig zu erklären;
dem Parlament und dem Rat die Kosten aufzuerlegen.
22 Das Parlament beantragt,
die Klage abzuweisen und
dem Königreich Dänemark die Kosten aufzuerlegen.
23 Der Rat beantragt,
den Antrag als unbegründet zurückzuweisen,
den Hilfsantrag als unzulässig oder, hilfsweise, als unbegründet zurückzuweisen;
dem Königreich Dänemark die Kosten aufzuerlegen.
24 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 26. April und sind das Königreich Belgien und die Portugiesische Republik als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Rates zugelassen worden.
25 Mit Beschlüssen des Präsidenten des Gerichtshofs vom 8. und 26. Mai bzw. vom 5. und sind die Kommission, das Königreich Spanien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik und das Großherzogtum Luxemburg sowie die Französische Republik als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Parlaments und des Rates zugelassen worden.
26 Mit Beschluss des Präsidenten des Gerichtshofs vom ist das Königreich Schweden als Streithelfer zur Unterstützung der Anträge des Königreichs Dänemark zugelassen worden.
III. Zur Klage
27 Mit seiner Klage beantragt das Königreich Dänemark, unterstützt durch das Königreich Schweden, die angefochtene Richtlinie in vollem Umfang für nichtig zu erklären und, hilfsweise, Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und/oder Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie für nichtig zu erklären.
28 Das Königreich Dänemark stützt seinen Antrag auf zwei Klagegründe. Erstens macht es einen Verstoß gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und einen Missbrauch der dem Unionsgesetzgeber durch die Verträge übertragenen Befugnisse geltend. Zweitens bringt es vor, dass es nicht möglich sei, die angefochtene Richtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV zu erlassen, da mit dieser Richtlinie mehrere andere Ziele verfolgt würden.
29 Seinen Hilfsantrag stützt das Königreich Dänemark auf einen Klagegrund, mit dem es geltend macht, das Parlament und der Rat hätten mit dem Erlass von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie gegen den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung und gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoßen.
A. Zum Antrag auf Nichtigerklärung der angefochtenen Richtlinie
1. Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und Missbrauch der dem Unionsgesetzgeber durch die Verträge übertragenen Befugnisse
a) Vorbringen der Parteien
30 Mit dem ersten Teil seines ersten Klagegrundes macht das Königreich Dänemark geltend, dass das Unionsrecht mit der angefochtenen Richtlinie, wenn man ihren Gegenstand, den durch sie geschaffenen Rahmen und ihre Wirkungen in einer Gesamtschau betrachte, unter Verstoß gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV und die in diesem Artikel vorgesehene Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten unmittelbar in die Festlegung des Arbeitsentgelts in den Mitgliedstaaten eingreife.
31 Zunächst habe die angefochtene Richtlinie das Mindestentgelt zum Gegenstand. Indes gehöre das Mindestentgelt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Kernbereich von Art. 153 Abs. 5 AEUV. Sodann müssten die Mitgliedstaaten gemäß dem durch diese Richtlinie geschaffenen Rahmen verschiedene Verfahren durchführen und verschiedene Maßnahmen erlassen, mit denen ausdrücklich bezweckt werde, dass sie sich auf das Mindestniveau des Arbeitsentgelts in der Union auswirken und so seine Angemessenheit gewährleisten. Schließlich bestehe der Zweck der Richtlinie offensichtlich darin, Wirkungen auf das Lohnniveau in den Mitgliedstaaten zu entfalten, indem sie dazu führe, dass dieses Lohnniveau angehoben werde.
32 Mehrere Bestimmungen untermauerten diese Bewertung.
33 Aus Art. 1 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie gehe nämlich hervor, dass mit dieser Richtlinie bezweckt werde, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere die Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, zu verbessern. Dies setze indes voraus, dass sich die Bestimmungen dieser Richtlinie auf das Lohnniveau in den Mitgliedstaaten auswirkten und zu seiner Anhebung führten, was von der Kommission auch beabsichtigt sei. Der in dieser Bestimmung vorgesehene Rahmen zur Sicherstellung dieser Wirkung umfasse zum einen Maßnahmen zur Erhöhung der in Art. 4 der Richtlinie vorgesehenen tarifvertraglichen Abdeckung und zum anderen die in den Art. 5 und 6 der Richtlinie vorgesehenen Maßnahmen, mit denen die Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne gewährleistet werden solle.
34 Erstens sehe Art. 4 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sowohl Maßnahmen vor, die „Programmsätzen“ ähnelten, als auch Maßnahmen, die von den Mitgliedstaaten erlassen würden.
35 Des Weiteren hätten Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liege, nach Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie – entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen – einen Rahmen festzulegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schaffe, und einen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen zu erstellen. Dieser Rahmen, der „Voraussetzungen“ für Tarifverhandlungen „schafft“, müsse in einem Mitgliedstaat – zumindest für die Sozialpartner – rechtsverbindlich sein.
36 Sollte die tarifvertragliche Abdeckung in einem Mitgliedstaat unter die Schwelle von 80 % sinken, könnte dies Auswirkungen auf den derzeit für die Sozialpartner geltenden Rechtsrahmen für die Fortsetzung von Tarifverhandlungen haben, insbesondere im Bereich des Arbeitsentgelts. Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb dieser Schwelle liege, müssten Maßnahmen ergreifen und einen Aktionsplan zur wirksamen Förderung von Tarifverhandlungen erstellen. Diese Mitgliedstaaten seien somit aufgefordert, in Bereiche einzugreifen, für die – etwa in Dänemark – die Sozialpartner zuständig seien.
37 Das Unionsrecht greife mit Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie somit unmittelbar in den „Kernbereich des dänischen Modells“ ein, nach dem es ausschließlich Sache der Sozialpartner sei, das Lohnniveau in völliger Autonomie auszuhandeln und festzulegen.
38 Zweitens impliziere Art. 5 der angefochtenen Richtlinie, der ein Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne einführe, dass das Unionsrecht de facto in die Festlegung des Arbeitsentgelts in den Mitgliedstaaten eingreife, unabhängig davon, dass nicht präzisiert sei, wann gesetzliche Mindestlöhne „angemessen“ seien, so dass sie es erlaubten, einen „angemessenen Lebensstandard“ zu erreichen, und selbst wenn dieser Artikel kein bestimmtes Niveau festlege, unterhalb dessen ein gesetzlicher Mindestlohn als unangemessen angesehen werden könne.
39 Gemäß Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie haben die Mitgliedstaaten die erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne unter Zugrundelegung rechtsverbindlicher Kriterien, darunter die in Art. 5 Abs. 2 Buchst. a bis d dieser Richtlinie genannten Aspekte, zu schaffen. Angesichts der Tragweite dieser Aspekte belasse Art. 5 der Richtlinie den Mitgliedstaaten aber wohl keine wirkliche Freiheit zur Festlegung zusätzlicher Kriterien, auch wenn es ihnen freistehe, über das relative Gewicht der auf diese Weise aufgestellten Kriterien zu entscheiden. Jedenfalls greife das Unionsrecht aufgrund des Umstands, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet seien, bei der Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne die in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie festgelegten Kriterien einzubeziehen, in die Festlegung des Arbeitsentgelts in den Mitgliedstaaten ein. Untermauert werde diese Bewertung außerdem durch Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie, in dem die Anwendung eines automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen, der „zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns“ führe, untersagt werde, und durch Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie, wonach die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig je nach Fall mindestens alle zwei bzw. vier Jahre aktualisiert werden müssten.
40 Daraus folge, dass in Art. 5 der angefochtenen Richtlinie de facto die Anwendung von Mindestkriterien sowie die Verwendung von Referenzwerten vorgeschrieben werde, die unmittelbar mit den gesetzlichen Mindestlöhnen in den Mitgliedstaaten zusammenhingen und unmittelbar darauf abzielten, eine Anhebung des Niveaus dieser Löhne zu bewirken.
41 Drittens beschränke Art. 6 der angefochtenen Richtlinie angesichts seines Inhalts die Befugnis der Mitgliedstaaten, Abweichungen und Abzüge von gesetzlichen Mindestlöhnen vorzusehen, was belege, dass die Autonomie der Mitgliedstaaten bei der Festlegung der gesetzlichen Mindestlöhne erheblich eingeschränkt werde und folglich unmittelbar in die Festlegung des Arbeitsentgelts eingegriffen werde. Die Mitgliedstaaten, die gesetzliche Mindestlöhne eingeführt hätten und für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedliche Sätze zulassen wollten, hätten nämlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einzuhalten und eine solche Unterscheidung mit einem „legitimen Ziel“ zu rechtfertigen.
42 Folglich weise der in den Art. 4 bis 6 der angefochtenen Richtlinie festgelegte Gesamtrahmen unter Verstoß gegen Art. 153 Abs. 5 AEUV einen direkten und unmittelbaren Zusammenhang mit dem Arbeitsentgelt auf.
43 Außerdem sei die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung von Art. 153 Abs. 5 AEUV für die Beurteilung der Frage, ob das Unionsrecht mit der angefochtenen Richtlinie unmittelbar in die Festlegung des Arbeitsentgelts in den Mitgliedstaaten eingreife, nicht relevant.
44 Mit dem zweiten Teil seines ersten Klagegrundes bringt das Königreich Dänemark vor, dass die angefochtene Richtlinie Bereiche regele, die unter den Begriff „Koalitionsrecht“ fielen, und somit gegen den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das Koalitionsrecht verstoße.
45 Art. 153 Abs. 5 AEUV ziele darauf ab, die Vertragsautonomie der Sozialpartner vor etwaigen Eingriffen zu schützen. Maßnahmen, die einen Bezug zum Koalitionsrecht aufwiesen, könnten nach Art. 153 Abs. 1 AEUV daher nur erlassen werden, wenn sie sich nicht unmittelbar auf die nationalen Rechtsvorschriften auswirkten, die das Koalitionsrecht regelten. In Anbetracht der Bedeutung, die dem in Art. 153 Abs. 5 AEUV genannten Begriff „Koalitionsrecht“ insbesondere in der Charta der sozialen Rechte beigemessen werde, sei dieser Begriff dahin zu verstehen, dass damit das Recht jedes Arbeitnehmers und jedes Arbeitgebers gemeint sei, zu entscheiden, ob er einer Organisation oder Gewerkschaft beitritt und an Tarifverhandlungen teilnimmt.
46 Insoweit ist das Königreich Dänemark der Ansicht, dass das Unionsrecht mit der in Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie enthaltenen Verpflichtung der Mitgliedstaaten, Maßnahmen zu ergreifen, um Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen, vor Eingriffen in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung zu schützen, unmittelbar in das „Koalitionsrecht“ eingreife und dadurch gegen den in Bezug hierauf bestehenden Ausschluss der Zuständigkeit nach Art. 153 Abs. 5 AEUV verstoße.
47 Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie wirke sich ferner auch auf den rechtlichen Rahmen für die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft oder Organisation aus und greife daher in den Kernbereich des Koalitionsrechts ein, der den Rahmen für die dänischen Sozialpartner bilde. Damit die Richtlinie eine Wirkung entfalten könne, müsste sie nämlich zwangsläufig zum Ziel haben, dass mehr Arbeitnehmer durch den Beitritt zu einer Gewerkschaft tarifvertraglich abgedeckt würden.
48 Das Parlament, der Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der beklagten Organe beigetreten sind, machen zum ersten Teil des ersten Klagegrundes geltend, dass die angefochtene Richtlinie, deren alleiniges Ziel darin bestehe, die Arbeitsbedingungen durch Maßnahmen zur Angemessenheit und Förderung von Mindestlöhnen sowie zur Förderung von Tarifverhandlungen im Bereich der Lohnfestsetzung zu verbessern, unter uneingeschränkter Achtung von Art. 153 Art. 5 AEUV habe erlassen werden können.
49 Die angefochtene Richtlinie definiere mittels unionsweiter Mindestanforderungen lediglich verfahrensrechtliche Verpflichtungen zur Festlegung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne und fördere die Verhandlungen über die Festlegung dieser Löhne. Unter uneingeschränkter Achtung der Autonomie der Sozialpartner und der verschiedenen Lohnfestsetzungssysteme in den Mitgliedstaaten begründe diese Richtlinie demnach verfahrensrechtliche Handlungspflichten, aber keine Erfolgspflichten. Die Richtlinie schreibe daher kein spezifisches Niveau oder keine spezifischen Bestandteile des Arbeitsentgelts vor, die die Mitgliedstaaten in harmonisierter Weise sicherstellen müssten, und könne somit für sich genommen das Arbeitsentgelt in der Union nicht unmittelbar festlegen.
50 Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes machen das Parlament, der Rat, die Kommission und die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der beklagten Organe beigetreten sind, geltend, dass das Koalitionsrecht zwar eine Voraussetzung für das Recht auf Tarifverhandlungen sei, es sich bei den beiden Rechten jedoch um unterschiedliche Rechte handele.
51 Vorliegend schreibe die angefochtene Richtlinie, insbesondere ihr Art. 4, im Bereich des Koalitionsrechts keine Regelung vor. Die Richtlinie schaffe lediglich einen Rahmen, um die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zu erleichtern, ohne Verpflichtungen zum Beitritt zu Gewerkschaften oder Vereinigungen, zum Austritt aus Gewerkschaften oder Vereinigungen oder zur Auflösung von Gewerkschaften oder Vereinigungen festzulegen. Sie lege zudem weder eine Voraussetzung in Bezug auf die Arbeitsweise dieser Gewerkschaften oder Vereinigungen fest noch greife sie in deren Arbeitsweise ein.
b) Würdigung durch den Gerichtshof
52 Gemäß dem in Art. 4 Abs. 1 und Art. 5 Abs. 1 und 2 EUV verankerten Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben, und verbleiben alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten bei den Mitgliedstaaten.
53 Beim Erlass der angefochtenen Richtlinie hat sich der Unionsgesetzgeber auf Art. 153 Abs. 2 Buchst. b in Verbindung mit Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV gestützt, der das Parlament und den Rat ermächtigt, durch Richtlinien Mindestvorschriften im Bereich der „Arbeitsbedingungen“ zu erlassen.
54 Nach Art. 153 Abs. 5 AEUV gilt dieser Artikel jedoch „nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht und das Aussperrungsrecht“. Die Bestimmungen von Art. 153 Abs. 1 bis 4 AEUV können daher nicht als Rechtsgrundlage herangezogen werden, um den ausdrücklichen Ausschluss einer Zuständigkeit nach Art. 153 Abs. 5 zu umgehen (vgl. entsprechend Urteil vom , Deutschland/Parlament und Rat, C‑376/98, EU:C:2000:544, Rn. 79).
55 Daher ist zu prüfen, ob sich der Unionsgesetzgeber dadurch, dass er die angefochtene Richtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 und 2 AEUV erlassen hat, über den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf „Arbeitsentgelt“ und „Koalitionsrecht“ hinweggesetzt hat und damit gegen die der Union durch die Verträge übertragenen Zuständigkeiten verstoßen hat.
56 Insoweit ist die ständige Rechtsprechung zu berücksichtigen, wonach die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen muss, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören (Urteile vom , Vereinigtes Königreich/Rat, C‑84/94, EU:C:1996:431, Rn. 25, und vom , Ungarn/Parlament und Rat, C‑620/18, EU:C:2020:1001, Rn. 38). Anhand dieser objektiven Umstände ist zu prüfen, ob ein Rechtsakt der Union ganz oder teilweise unter den in den Verträgen vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit der Union fällt.
1) Zu Ziel und Inhalt der angefochtenen Richtlinie
57 Was als Erstes das Ziel der angefochtenen Richtlinie betrifft, soll diese, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union, insbesondere die Angemessenheit der Mindestlöhne der Arbeitnehmer, verbessern, um zur sozialen Aufwärtskonvergenz beizutragen und die Lohnungleichheit zu verringern.
58 Insoweit führt der siebte Erwägungsgrund dieser Richtlinie aus, dass „[b]essere Lebens- und Arbeitsbedingungen, auch durch angemessene Mindestlöhne … sowohl Arbeitnehmern und Unternehmen in der Union als auch der Gesellschaft und der Wirtschaft im Allgemeinen [zugutekommen] und … eine Grundvoraussetzung für faires, inklusives und nachhaltiges Wachstum [sind]“. Dieser Erwägungsgrund erläutert ferner, dass „[d]urch die Verringerung der Unterschiede bei der Abdeckung und Angemessenheit des Mindestlohnschutzes … ein Beitrag zu mehr Fairness auf dem Arbeitsmarkt der Union, zur Vorbeugung und Verringerung von lohnbezogenen und sozialen Ungleichheiten sowie zu mehr wirtschaftlichem und sozialem Fortschritt und Aufwärtskonvergenz geleistet [wird]“. Der achte Erwägungsgrund dieser Richtlinie ergänzt, dass „in angemessener Höhe festgesetzte Mindestlöhne, wie sie im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind, das Einkommen der Arbeitnehmer, insbesondere benachteiligter Arbeitnehmer, [schützen] und … dazu [beitragen], eine angemessene Lebensgrundlage zu sichern“.
59 Was als Zweites den Inhalt der angefochtenen Richtlinie anbelangt, so umfasst diese 19 Artikel. In den Art. 1 und 2 dieser Richtlinie werden deren Gegenstand und Geltungsbereich definiert, während Art. 3 der Richtlinie eine harmonisierte Definition der Begriffe „Mindestlohn“, „gesetzlicher Mindestlohn“, „Tarifverhandlungen“, „Tarifvertrag“ und „tarifvertragliche Abdeckung“ enthält.
60 Um die in den Rn. 57 und 58 des vorliegenden Urteils dargelegten Ziele zu erreichen, legt die angefochtene Richtlinie gemäß ihrem Art. 1 Abs. 1 im Licht ihres 18. Erwägungsgrund einen Rahmen fest, der sich in die drei in den Buchst. a bis c dieser Bestimmung genannten Schwerpunkte gliedert. Der erste Schwerpunkt betrifft die Angemessenheit von gesetzlichen Mindestlöhnen, mit dem Ziel, angemessene Lebens- und Arbeitsbedingungen zu erreichen. Der zweite Schwerpunkt behandelt die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung. Der dritte Schwerpunkt schließlich bezieht sich auf die Verbesserung des effektiven Zugangs der Arbeitnehmer zum Recht auf Mindestlohnschutz, sofern dies im nationalen Recht und/oder in Tarifverträgen festgelegt ist.
61 Was den ersten Schwerpunkt betrifft, schreibt Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie den Mitgliedstaaten, in denen gesetzliche Mindestlöhne bestehen, die Schaffung der erforderlichen Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne vor, für die Kriterien zugrunde zu legen sind, die zu ihrer Angemessenheit beitragen; Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie sieht Kriterien vor, die von den Mitgliedstaaten zu diesem Zweck zwingend zu berücksichtigen sind. Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie bestätigt ausdrücklich, dass die Mitgliedstaaten vorbehaltlich der dort genannten Pflichten und Bedingungen einen automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen der gesetzlichen Mindestlöhne anwenden dürfen. Ferner sieht Art. 5 Abs. 4 der angefochtenen Richtlinie vor, dass bei der Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne Referenzwerte zugrunde zu legen sind. Außerdem betrifft Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie die Häufigkeit der Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne und Art. 5 Abs. 6 der Richtlinie die Bestimmung oder Einrichtung von Beratungsgremien, welche die zuständigen Stellen in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns beraten.
62 Die Art. 6 bis 8 der angefochtenen Richtlinie betreffen Abweichungen und Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen, die Beteiligung der Sozialpartner an der Festsetzung und Aktualisierung dieser Löhne bzw. den wirksamen Zugang der Arbeitnehmer zu den Löhnen.
63 Was den zweiten Schwerpunkt betrifft, sieht zum einen Art. 4 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie u.a. vor, dass die Mitgliedstaaten, um die tarifliche Abdeckung zu erhöhen und die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu erleichtern, gegebenenfalls die in den Buchst. c und d genannten Maßnahmen ergreifen, um Arbeitnehmer und Gewerkschaftsvertreter sowie Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen zu schützen, die an solchen Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen wollen.
64 Zum anderen verpflichtet Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie die Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt, einen Rahmen festzulegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, entweder durch Erlass eines Gesetzes nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine Vereinbarung mit diesen, und zu diesem Zweck einen Aktionsplan zu erstellen, der einen klaren Zeitplan und konkrete Maßnahmen enthält, um die tarifvertragliche Abdeckung schrittweise zu erhöhen, sowie regelmäßig überprüft und bei Bedarf aktualisiert werden muss. Aus den Erwägungsgründen 16 und 22 dieser Richtlinie geht hervor, dass sich der Unionsgesetzgeber insoweit auf die Annahme gestützt hat, dass eine Wechselwirkung zwischen einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung und der Angemessenheit von Mindestlöhnen besteht.
65 In Bezug auf den dritten Schwerpunkt sehen die Art. 9 bis 13 der Richtlinie bereichsübergreifende Bestimmungen für die Vergabe öffentlicher Aufträge, die Überwachung und Datenerhebung, die Informationen über den Mindestlohnschutz, den Anspruch auf Rechtsbehelfe und Schutz vor Benachteiligung oder negativen Konsequenzen sowie die Regeln für Sanktionen vor.
66 Unter diesen Umständen ergibt sich aus einer Prüfung des Ziels und des Inhalts der angefochtenen Richtlinie, dass diese insbesondere einen Rahmen für die Festlegung angemessener Mindestlöhne geschaffen hat, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union zu verbessern. Die Richtlinie betrifft daher auf den ersten Blick eines oder mehrere der in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführten Gebiete, darunter die „Arbeitsbedingungen“ gemäß Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV, und bezieht sich zugleich auf das Gebiet des „Arbeitsentgelts“, was unter den Ausschluss der Zuständigkeit nach Art. 153 Abs. 5 AEUV in Bezug auf das „Arbeitsentgelt“ fallen könnte.
2) Zum ersten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen den Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf „Arbeitsentgelte“
67 Ausgehend von dem in den Rn. 52 bis 56 des vorliegenden Urteils dargelegten Prüfungsschema hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass der Grund für die in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehene Ausnahme in Bezug auf „Arbeitsentgelt“ darin liegt, dass die Festsetzung des Arbeitsentgelts der Vertragsautonomie der Sozialpartner auf nationaler Ebene und der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten auf diesem Gebiet unterliegt. Daher ist es beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts als angemessen erachtet worden, die Bestimmung des Lohn- und Gehaltsniveaus von einer Harmonisierung nach den Art. 151 ff. AEUV auszunehmen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Del Cerro Alonso, C‑307/05, EU:C:2007:509, Rn. 40 und 46, sowie vom , Coca-Cola European Partners Deutschland, C‑257/21 und C‑258/21, EU:C:2022:529, Rn. 47).
68 Folglich ist dieser Ausschluss der Zuständigkeit so zu verstehen, dass er sich auf Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter in den Mitgliedstaaten oder die Einführung eines Mindestlohns auf Unionsebene bezieht, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union eingreift. Er lässt sich jedoch nicht auf alle mit dem Arbeitsentgelt in irgendeinem Zusammenhang stehenden Fragen erstrecken, ohne dass einige in Art. 153 Abs. 1 AEUV aufgeführte Bereiche weitgehend ausgehöhlt werden (Urteile vom , Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 124 und 125, sowie vom , Glavna direktsia „Pozharna bezopasnost i zashtita na naselenieto“, C‑262/20, EU:C:2022:117, Rn. 30).
69 Zwar hatte der Gerichtshof, wie das Königreich Dänemark und das Königreich Schweden hervorgehoben haben, in den Rechtssachen, in denen die oben in Rn. 68 angeführten Urteile ergangen sind, die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten in den von Art. 153 AEUV erfassten Gebieten in Bezug auf Rechtsakte zu prüfen, die sich nicht auf den Bereich des Arbeitsentgelts beziehen, sondern andere Arbeitsbedingungen regeln oder einen anderen Gegenstand haben und deren Bestimmungen bestimmte Folgen oder Auswirkungen für die Festsetzung des Arbeitsentgelts haben könnten. Gleichwohl hat der Gerichtshof in diesen Urteilen die Tragweite des Ausschlusses in Bezug auf das „Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV allgemein ausgelegt, ohne auf den mehr oder weniger engen Zusammenhang der Rechtsakte, um deren Auslegung ersucht wurde, mit dem Gebiet des Arbeitsentgelts abzustellen.
70 Unter Berücksichtigung der Erfordernisse der Rechtssicherheit, der Klarheit und der Kontinuität bei der Anwendung der Kriterien für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen der Union und den Mitgliedstaaten ist daher das in Rn. 68 des vorliegenden Urteils genannte Kriterium des „unmittelbaren Eingriffs des Unionsrechts in die Festsetzung des Arbeitsentgelts“ als Richtschnur für die Prüfung heranzuziehen, ob der in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehene Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf „Arbeitsentgelte“ beachtet wurde, unabhängig davon, ob der in Rede stehende Rechtsakt einen mehr oder weniger engen Zusammenhang mit der Materie des „Arbeitsentgelts“ aufweist. Dies bedeutet, dass die Zuständigkeit der Union nicht automatisch als ausgeschlossen angesehen werden kann, wenn der Rechtsakt sich auf diese Materie bezieht.
71 Darüber hinaus wäre die Fähigkeit des Unionsgesetzgebers, die in Art. 151 Abs. 1 AEUV genannten Ziele der Sozialpolitik zu verwirklichen und ganz allgemein die soziale Dimension der Integration in die Union auszugestalten, stark beeinträchtigt, wenn er selbst dann daran gehindert wäre, Maßnahmen zu erlassen, die in der Praxis positive Auswirkungen oder Folgen für das Lohnniveau haben, wenn er dabei gemäß Art. 151 Abs. 2 AEUV und Art. 152 Abs. 1 AEUV der Vielfalt der einzelstaatlichen Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten und die Autonomie der Sozialpartner umfassend Rechnung trüge.
72 Dies gilt erst recht für die „Arbeitsbedingungen“, die zu den Bereichen gehören, in denen Art. 153 Abs. 1 AEUV der Union eine Zuständigkeit zur Unterstützung und Ergänzung der Tätigkeit der Mitgliedstaaten überträgt, deren Tragweite sich teilweise mit dem Anwendungsbereich der Ausnahme für „Arbeitsentgelt“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV überschneidet, da das Arbeitsentgelt Bestandteil der Arbeitsbedingungen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Delahaye, C‑425/02, EU:C:2004:706, Rn. 33, sowie vom , Gavieiro Gavieiro und Iglesias Torres, C‑444/09 und C‑456/09, EU:C:2010:819, Rn. 58).
73 Im Übrigen ist der vom Parlament angeführte Umstand, dass der Unionsgesetzgeber auf der Grundlage der in Art. 153 AEUV genannten Rechtsgrundlagen bereits andere Rechtsakte in Bezug auf das Arbeitsentgelt erlassen hatte, nicht maßgeblich dafür, ob die angefochtene Richtlinie auf der Grundlage einer in diesem Artikel genannten Rechtsgrundlage wirksam erlassen werden konnte, ohne sich über den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das „Arbeitsentgelt“ hinwegzusetzen. Nach der Rechtsprechung ist die Rechtsgrundlage eines Rechtsakts nämlich nicht anhand der Rechtsgrundlage zu bestimmen, die für den Erlass anderer Rechtsakte der Union, die gegebenenfalls ähnliche Merkmale aufweisen, herangezogen wurde, sondern anhand seines Ziels und seines Inhalts (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Parlament/Rat, C‑187/93, EU:C:1994:265, Rn. 28, und vom , Parlament/Rat, C‑48/14, EU:C:2015:91, Rn. 30).
74 Auch wenn sich aus der in den Rn. 57 bis 66 des vorliegenden Urteils vorgenommenen Prüfung ergibt, dass sich die angefochtene Richtlinie auf die Materie des Arbeitsentgelts bezieht und sich auf dessen Höhe auswirken kann, können diese Umstände daher für sich genommen nicht automatisch zu dem Schluss führen, dass sich der Unionsgesetzgeber mit dem Erlass dieser Richtlinie über den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das „Arbeitsentgelt“ hinweggesetzt hat.
75 Insofern ist weiter zu prüfen, ob das Unionsrecht mit Art. 4 bis 6 der angefochtenen Richtlinie, auf die sich die Einwände des Königreichs Dänemark und des Königreichs Schweden im Wesentlichen beziehen, unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eingreift.
i) Art. 4 der angefochtenen Richtlinie
76 Wie das Königreich Dänemark und das Königreich Schweden geltend machen, enthält Art. 4 der angefochtenen Richtlinie einige Vorgaben, die teils allgemein formuliert sind und teils dahin gehend, dass im Hinblick auf die Lohnfestsetzung zur Förderung von Tarifverhandlungen der Erlass konkreter Maßnahmen erforderlich ist. Konkret schreibt Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie vor, dass Mitgliedstaaten, in denen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 % liegt, einen Rahmen festlegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, und zwar entweder durch Erlass eines „Gesetzes“ nach Anhörung der Sozialpartner oder durch eine „Vereinbarung“ mit diesen. Diese Mitgliedstaaten müssen ferner einen „Aktionsplan“ erstellen, der einen klaren Zeitplan und „konkrete Maßnahmen“ zur schrittweisen Erhöhung der tarifvertraglichen Abdeckung enthält, den sie regelmäßig überprüfen, öffentlich zugänglich machen und der Kommission mitteilen müssen. Außerdem ist festzustellen, dass Art. 3 Nrn. 3 bis 5 der Richtlinie die darin genannten Begriffe „Tarifverhandlungen“, „Tarifvertrag“ und „tarifvertragliche Abdeckung“ in harmonisierter Weise definiert.
77 Zwar geht mit Art. 4 der angefochtenen Richtlinie somit eine gewisse Form staatlicher Einflussnahme auf die Einzelheiten von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung einher, doch folgt daraus nicht, dass das Unionsrecht mit den Bestimmungen dieses Artikels unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eingreift.
78 Zum einen greift Art. 4 der angefochtenen Richtlinie nicht in die Entscheidung der Mitgliedstaaten hinsichtlich des Modells der Lohnfestsetzung ein, die nämlich entweder mittels eines Gesetzes oder mittels Tarifverhandlungen oder mittels einer Kombination aus beiden erfolgen kann. Der zwölfte Erwägungsgrund dieser Richtlinie stellt außerdem klar, dass „[d]ie unterschiedlichen nationalen Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten … geachtet werden [sollten]“.
79 Zum anderen regelt Art. 4 der angefochtenen Richtlinie weder den Inhalt von Tarifverhandlungen noch schreibt er deren Ergebnis vor. Wie das Parlament und der Rat geltend machen, erlegen die verschiedenen Maßnahmen, die Art. 4 dieser Richtlinie vorsieht, den Mitgliedstaaten keine Erfolgspflichten, sondern allenfalls Handlungspflichten auf. So sieht Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie vor, dass die Mitgliedstaaten nicht die in dieser Bestimmung genannte Schwelle einer tarifvertraglichen Abdeckung von 80 % zu erreichen haben, sondern einen „Rahmen“ umsetzen müssen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, und einen „Aktionsplan“ zur Förderung von Tarifverhandlungen erstellen müssen. Diese Bestimmung ist im Übrigen im Licht des 25. Erwägungsgrundes der angefochtenen Richtlinie zu lesen, der hierzu klarstellt, dass „der Schwellenwert von 80 % tarifvertraglicher Abdeckung nur als ein Indikator verstanden werden [sollte], durch den die Verpflichtung zur Erstellung eines Aktionsplans ausgelöst wird“, und dass bei der Bewertung der Fortschritte im Hinblick auf eine höhere tarifvertragliche Abdeckung, insbesondere in Bezug auf den in dieser Richtlinie vorgesehenen Aktionsplan, zu berücksichtigen ist, dass „[d]ie tarifvertragliche Abdeckung in den Mitgliedstaaten … sehr unterschiedlich ist, was auf eine Reihe von Faktoren zurückzuführen ist, darunter die nationalen Traditionen und Gepflogenheiten sowie der historische Kontext.“
80 Unterschreitet ein Mitgliedstaat die in Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie genannte tarifvertragliche Abdeckung von 80 %, stellt dies daher für sich genommen keinen Verstoß gegen eine diesem Mitgliedstaat obliegende Verpflichtung dar.
81 Des Weiteren ist Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie so formuliert, dass er die Autonomie der Sozialpartner in vollem Umfang gewährleistet. Nach dieser Bestimmung haben Mitgliedstaaten, die in ihren Geltungsbereich fallen, die Sozialpartner sowohl in die Festlegung des Rahmens, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, unabhängig davon, ob dieser „Rahmen“ durch Erlass eines Gesetzes oder durch eine Vereinbarung beschlossen wird, als auch in die Erstellung, Aktualisierung und Überprüfung des Aktionsplans, auf den er sich bezieht, einzubeziehen. Zudem sieht Art. 1 Abs. 2 dieser Richtlinie vor, dass diese „die Autonomie der Sozialpartner sowie deren Recht, Tarifverträge auszuhandeln und abzuschließen, nicht berührt“, und Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie, dass „[d]ie Anwendung dieser Richtlinie … in voller Übereinstimmung mit dem Recht auf Tarifverhandlungen [erfolgt]“.
82 Art. 4 der angefochtenen Richtlinie ist in Verbindung mit dem 19. Erwägungsgrund dieser Richtlinie zu lesen, der erläutert, dass die Richtlinie nicht in die Freiheit der Mitgliedstaaten eingreift, u.a. den Zugang zum tarifvertraglich garantierten Mindestlohnschutz „gemäß dem nationalen Recht und im Einklang mit den nationalen Gepflogenheiten und den Besonderheiten eines jeden Mitgliedstaats sowie unter vollständiger Achtung nationaler Zuständigkeiten und der Vertragsfreiheit der Sozialpartner“ zu fördern.
83 Daraus folgt, dass Art. 4 der angefochtenen Richtlinie das weite Ermessen wahrt, über das die Sozialpartner bei der Aushandlung und dem Abschluss von Tarifverträgen verfügen.
84 Darüber hinaus ist Art. 4 der angefochtenen Richtlinie im Licht von Art. 152 AEUV zu lesen, der durch den Vertrag von Lissabon eingeführt wurde und in dessen Abs. 1 die Achtung der Autonomie der Sozialpartner ausdrücklich verankert ist. Deswegen kann Art. 4 Abs. 2 dieser Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten vorschreibt, einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad von Arbeitnehmern durchzusetzen. Wie Art. 1 Abs. 4 der Richtlinie ausdrücklich feststellt, kann er auch nicht dahin ausgelegt werden, dass er die Mitgliedstaaten zur Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen verpflichtet.
85 Nach alledem ist festzustellen, dass das Unionsrecht mit Art. 4 der angefochtenen Richtlinie nicht unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eingreift.
ii) Art. 5 der angefochtenen Richtlinie
86 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 5 („Verfahren zur Festsetzung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne“) der angefochtenen Richtlinie, wie sich aus seinem Abs. 1 ergibt, für Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen gilt. Art. 1 Abs. 4 Buchst. a dieser Richtlinie sieht im Licht ihres 19. Erwägungsgrundes insoweit vor, dass keine Bestimmung dieser Richtlinie dahin ausgelegt werden darf, als verpflichte sie einen Mitgliedstaat, in dem die Lohngestaltung tarifvertraglich geregelt ist, zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Folglich wahrt Art. 5 der Richtlinie, wie das Königreich Dänemark und das Königreich Schweden einräumen, die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, sich für ein Modell der Lohngestaltung zu entscheiden.
87 Gleichwohl ist zu prüfen, ob das Unionsrecht mit den spezifischen Bestimmungen von Art. 5 der angefochtenen Richtlinie im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union eingreift.
88 Erstens schreibt Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 der angefochtenen Richtlinie den Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen vor, „die erforderlichen Verfahren für die Festsetzung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne“ zu schaffen. Darüber hinaus müssen diese Verfahren auf Kriterien beruhen, die „klar“ definiert sind und „[zur] Angemessenheit [der gesetzlichen Mindestlöhne] beitragen, mit dem Ziel, einen angemessenen Lebensstandard zu erreichen, die Armut trotz Erwerbstätigkeit zu verringern, den sozialen Zusammenhalt und die soziale Aufwärtskonvergenz zu fördern und das geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern“.
89 Wie das Parlament, der Rat und die Französische Republik jedoch vor dem Gerichtshof zu Recht geltend machen, definiert weder Art. 5 der angefochtenen Richtlinie noch eine andere Bestimmung dieser Richtlinie den Begriff der „Angemessenheit“ der gesetzlichen Mindestlöhne. Vielmehr belässt Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie unter Berücksichtigung der weiten darin verwendeten Formulierungen, den Mitgliedstaaten ein weites Ermessen bei der Definition dieses Begriffs und der Bestimmung seiner genauen Tragweite. Die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne stellt allenfalls einen Richtwert dar, an dem sich die Mitgliedstaaten bei der Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne ausrichten sollten. Diese Auslegung wird sowohl durch Art. 5 Abs. 1 Satz 3 dieser Richtlinie bestätigt, der für die Festlegung der in Art. 5 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie genannten Kriterien auf die nationalen Gepflogenheiten der Mitgliedstaaten, die Beschlüsse ihrer zuständigen Stellen und dreiseitige Vereinbarungen verweist, als auch durch Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der Richtlinie, wonach die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihrer nationalen sozioökonomischen Bedingungen über das relative Gewicht dieser Kriterien entscheiden können.
90 In Anbetracht des ausdrücklichen Verweises in dieser Bestimmung u.a. auf die nationalen Gepflogenheiten in einschlägigen nationalen Rechtsvorschriften kann der Begriff der „Angemessenheit“ der gesetzlichen Mindestlöhne daher nicht als autonomer Begriff des Unionsrechts angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , CU und ND [Sozialhilfe – Mittelbare Diskriminierung], C‑112/22 und C‑223/22, EU:C:2024:636, Rn. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung), worüber auch Einigkeit zwischen dem Parlament und dem Rat besteht.
91 Außerdem regelt Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie das „Verfahren“ für die Festsetzung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne, indem er die betreffenden Mitgliedstaaten verpflichtet, Verfahren zu schaffen, bei denen Kriterien zugrunde gelegt werden, die auf nationaler Ebene zur Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne und zu ihrer Aktualisierung beitragen und über deren relatives Gewicht sie bestimmen können. Diese allgemein formulierte und auf einem verfahrensrechtlichen Ansatz beruhende Bestimmung gewährt den Arbeitnehmern somit weder einen eigenen unionrechtlichen Anspruch auf angemessene gesetzliche Mindestlöhne noch auf eine Aktualisierung der betreffenden Löhne. Eine solche Auslegung dieser Bestimmung wird durch die Art. 12 und 13 dieser Richtlinie bestätigt, die den Zugang zu den dort vorgesehenen Rechtsbehelfen bei Verstößen gegen „Rechte in Bezug auf gesetzliche Mindestlöhne oder den Mindestlohnschutz“ davon abhängig machen, dass diese Rechte im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind (Art. 12 der Richtlinie) und von den Mitgliedstaaten verlangen, Regeln für Sanktionen festzulegen, die bei Verstößen gegen die „in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallenden Rechte und Pflichten“ zu verhängen sind, „sofern diese Rechte und Pflichten im nationalen Recht oder in Tarifverträgen festgelegt sind“ (Art. 13 der Richtlinie).
92 Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das Unionsrecht mit Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie nicht unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eingreift.
93 Dem ist hinzuzufügen, dass in Anbetracht des in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschlusses der Zuständigkeit für „Arbeitsentgelt“ ein eigener unionsrechtlicher Anspruch auf „angemessene“ oder „faire“ gesetzliche Mindestlöhne auch nicht aus Art. 5 Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie in Verbindung mit Art. 31 Abs. 1 der Charta abgeleitet werden kann. Die Charta dehnt nämlich nach ihrem Art. 51 Abs. 2 den Geltungsbereich des Unionsrechts nicht über die Zuständigkeiten der Union hinaus aus und begründet weder neue Zuständigkeiten noch neue Aufgaben für die Union, noch ändert sie die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten und Aufgaben.
94 Zweitens zählt Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie in seinen Buchst. a bis d vier Aspekte auf, nämlich „die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten“, „das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung“, die „Wachstumsrate der Löhne“ sowie „langfristige nationale Produktivitätsniveaus und ‑entwicklungen“, die die nationalen Kriterien nach Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie mindestens umfassen müssen.
95 Zwar ist diese Aufzählung, wie der Ausdruck „mindestens“ in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie belegt, nicht abschließend, da es den Mitgliedstaaten freisteht, weitere Aspekte hinzuzufügen. Außerdem geht, wie in Rn. 89 des vorliegenden Urteils ausgeführt, aus Art. 5 Abs. 1 Satz 3 der angefochtenen Richtlinie hervor, dass die Mitgliedstaaten die in dieser Bestimmung genannten nationalen Kriterien u.a. im Einklang mit ihren nationalen Gepflogenheiten festlegen, und aus Art. 5 Abs. 1 Satz 5 dieser Richtlinie, dass die Mitgliedstaaten auch über das relative Gewicht der unterschiedlichen nationalen Kriterien einschließlich der in Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie genannten Aspekte entscheiden können. Im Übrigen dienen die in den einzelnen Mitgliedstaaten herrschenden sozioökonomischen Bedingungen als Referenzwert für die unterschiedlichen nationalen Kriterien. Gleichwohl verpflichtet Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie, wie das Königreich Dänemark zu Recht geltend macht, die Mitgliedstaaten mit gesetzlichen Mindestlöhnen, sicherzustellen, dass diese Kriterien mindestens die vier dort aufgeführten Aspekte umfassen. Indem der Unionsgesetzgeber die Berücksichtigung dieser Aspekte in den Verfahren für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne vorgeschrieben hat, hat er eine Anforderung aufgestellt, die sich auf die Bestandteile dieser Löhne bezieht. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Höhe dieser Löhne aus, und zwar entgegen den Ausführungen in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der angefochtenen Richtlinie unabhängig davon, ob diese Aspekte auf nationaler Ebene unter Berücksichtigung der sozioökonomischen Bedingungen in den Mitgliedstaaten relevant sind.
96 Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie beinhaltet folglich eine Harmonisierung eines Teils der Bestandteile dieser Löhne und somit einen unmittelbaren Eingriff des Unionsrechts in die Festlegung der Arbeitsentgelte innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung.
97 Drittens beschränkt sich Art. 5 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie zwar darauf, den Mitgliedstaaten die Anwendung eines automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen der gesetzlichen Mindestlöhne zu gestatten, und in Bezug auf die geeigneten Kriterien, auf denen dieser Mechanismus beruhen muss, auf die nationalen Rechtsvorschriften und die nationalen Gepflogenheiten zu verweisen, allerdings macht der letzte Satzteil dieser Bestimmung die Verwendung eines automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen durch die Mitgliedstaaten davon abhängig, dass „die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“.
98 Daraus folgt, dass das Unionsrecht mit Art. 5 Abs. 3 der angefochtenen Richtlinie, soweit er für die Mitgliedstaaten, die einen automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen dieser Löhne verwenden, ein Verbot der Verschlechterung des Niveaus der gesetzlichen Mindestlöhne festlegt, wie das Königreich Dänemark zu Recht geltend macht, im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union eingreift.
99 Viertens können nach Art. 5 Abs. 4 der angefochtenen Richtlinie die Mitgliedstaaten als Richtschnur für ihre Bewertung der Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne auf internationaler Ebene übliche „Referenzwerte“ wie 60 % des Bruttomedianlohns und/oder Referenzwerte, die auf nationaler Ebene verwendet werden, verwenden. Wie die Bundesrepublik Deutschland im Wesentlichen geltend macht, unterscheiden sich diese Referenzwerte von den Aspekten, die in den in Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie genannten Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung der nationalen gesetzlichen Mindestlöhne zwingend als Kriterium zu berücksichtigen sind, dadurch, dass es sich um reine Kontrollparameter handelt, um die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne zu bewerten, bei deren Wahl die Mitgliedstaaten überdies frei sind. So können die Mitgliedstaaten entweder auf nationaler Ebene übliche Referenzwerte, auf internationaler Ebene übliche Referenzwerte oder eine Kombination aus beiden verwenden. Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie schreibt demnach keine zwingenden Bestandteile in Bezug auf die Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne vor und harmonisiert nicht einzelne oder alle Bestandteile dieser Löhne, so dass das Unionsrecht im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung nicht unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union eingreift.
100 Fünftens verpflichtet Art. 5 Abs. 5 der angefochtenen Richtlinie die Mitgliedstaaten, die gesetzlichen Mindestlöhne regelmäßig und rechtzeitig mindestens alle zwei Jahre oder – bei Mitgliedstaaten, die einen automatischen Mechanismus für Indexierungsanpassungen verwenden – mindestens alle vier Jahre zu aktualisieren, wobei Art. 5 Abs. 6 dieser Richtlinie sie verpflichtet, ein oder mehrere Beratungsgremien einzurichten, welche die zuständigen Stellen in Fragen des gesetzlichen Mindestlohns beraten. Art. 5 Abs. 5 und 6 der Richtlinie beschränkt sich darauf, die Einzelheiten des Verfahrens für die Festlegung und Aktualisierung der gesetzlichen Mindestlöhne vorzugeben, ohne für die Mitgliedstaaten inhaltlich verbindliche Angaben zur Höhe der gesetzlichen Mindestlöhne vorzuschreiben oder einzelne oder alle Bestandteile dieser gesetzlichen Mindestlöhne zu harmonisieren. Folglich greift das Unionsrecht mit Art. 5 Abs. 5 und 6 der Richtlinie entgegen dem Vorbringen des Königreichs Dänemark nicht unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ein.
101 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Unionsrecht mit Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie und dem Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie unmittelbar in die Festlegung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung eingreift und sich demnach über den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss in Bezug auf „Arbeitsentgelt“ hinwegsetzt.
iii) Art. 6 der angefochtenen Richtlinie
102 Art. 6 („Abweichungen und Abzüge“) Abs. 1 der angefochtenen Richtlinie sieht vor, dass die Mitgliedstaaten, wenn sie für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedliche Sätze des gesetzlichen Mindestlohns oder Abzüge zulassen, durch die das gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird, sicherstellen müssen, dass die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit, einschließlich des Grundsatzes, dass ein legitimes Ziel verfolgt wird, eingehalten werden. Art. 6 Abs. 2 dieser Richtlinie ergänzt, dass die Richtlinie nicht so ausgelegt werden darf, als verpflichte sie die Mitgliedstaaten, Abweichungen oder Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen einzuführen. Diese Bestimmungen sind im Licht des 29. Erwägungsgrundes der Richtlinie zu lesen, wonach es wichtig ist, zu vermeiden, dass diese Abweichungen und Abzüge „weithin genutzt“ werden, da sie sich negativ auf die Angemessenheit der gesetzlichen Mindestlöhne auswirken könnten.
103 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es den Mitgliedstaaten nach Art. 6 der angefochtenen Richtlinie freisteht, ob sie Änderungen oder Abzüge von den gesetzlichen Mindestlöhnen einführen, durch die das gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des betreffenden gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird. Im Übrigen greift das Unionsrecht mit Art. 6 dieser Richtlinie, der sich darauf beschränkt, von den Mitgliedstaaten zu verlangen, dass sie die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit einhalten, wenn sie für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern unterschiedliche Sätze des gesetzlichen Mindestlohns oder Abzüge zulassen, durch die das gezahlte Entgelt auf ein Niveau unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns gesenkt wird, nicht unmittelbar in die Festsetzung des Arbeitsentgelts innerhalb der Union im Sinne der in den Rn. 67 und 68 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung ein.
104 Daher ist dem ersten Teil des ersten Klagegrundes stattzugeben, soweit er sich auf Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie und folglich auf den Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 dieser Richtlinie sowie auf den Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie bezieht. Im Übrigen ist der erste Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen.
3) Zum zweiten Teil des ersten Klagegrundes: Verstoß gegen den Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das „Koalitionsrecht“
105 Art. 153 Abs. 5 AEUV sieht vor, dass dieser Artikel u.a. nicht für das „Koalitionsrecht“ gilt.
106 Zwar ist der in Art. 153 Abs. 5 AEUV verwendete Begriff „Koalitionsrecht“ im AEU-Vertrag nicht definiert, doch sind nach ständiger Rechtsprechung bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut und die mit ihr verfolgten Ziele zu berücksichtigen, sondern auch ihr Zusammenhang und das gesamte Unionsrecht, wobei auch die Entstehungsgeschichte einer solchen Vorschrift relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Wightman u.a., C‑621/18, EU:C:2018:999, Rn. 47 und die dort angeführte Rechtsprechung, sowie vom , Kommission/Tschechische Republik [Zulässigkeit und Mitgliedschaft in einer politischen Partei], C‑808/21, EU:C:2024:962, Rn. 91).
107 Insoweit nimmt Art. 153 Abs. 5 AEUV vier Materien, nämlich das „Arbeitsentgelt“, das „Koalitionsrecht“, das „Streikrecht“ und das „Aussperrungsrecht“, von den der Union durch Art. 153 Abs. 1 bis 4 AEUV übertragenen Zuständigkeiten im Bereich der Sozialpolitik aus, die, wie der Generalanwalt in Nr. 67 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, insofern miteinander verbunden sind, als sie sich sämtlich zumindest teilweise auf Vorrechte der Sozialpartner beziehen. Dem ist hinzuzufügen, dass, wie sich aus Art. 152 Abs. 1 AEUV ergibt, es im besonderen Bereich der Sozialpolitik zu den Zielen des Titels X des Dritten Teils des AEU-Vertrags gehört, die Rolle der Sozialpartner zu fördern und den Dialog zwischen ihnen unter Achtung ihrer Autonomie zu unterstützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , EPSU/Kommission, C‑928/19 P, EU:C:2021:656, Rn. 60 und 61). Dies lässt den Schluss zu, dass der Ausschluss in Bezug auf das „Koalitionsrecht“ ebenso wie der Ausschluss in Bezug auf das „Arbeitsentgelt“ in erster Linie darauf abzielt, dass die Autonomie der Sozialpartner auf nationaler Ebene gewahrt wird (vgl. entsprechend Urteile vom , Del Cerro Alonso, C‑307/05, EU:C:2007:509, Rn. 40, und vom , Coca-Cola European Partners Deutschland, C‑257/21 und C‑258/21, EU:C:2022:529, Rn. 47).
108 Was das Verhältnis zwischen der Freiheit, an Tarifverhandlungen teilzunehmen, und dem „Koalitionsrecht“ im Sinne von Art. 153 Abs. 5 AEUV betrifft, so wird die Freiheit, an Tarifverhandlungen teilzunehmen, zwar nicht ausdrücklich unter den Materien aufgeführt, in denen Art. 153 AEUV der Union eine Zuständigkeit zur Harmonisierung überträgt, um die in Art. 151 AEUV genannten Ziele zu verwirklichen. Außerdem besteht, wie das Königreich Dänemark zu Recht geltend macht, ein Zusammenhang zwischen diesen Rechten, da das Koalitionsrecht eine Voraussetzung für die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen darstellt. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, dass die Freiheit, an Tarifverhandlungen teilzunehmen, weil sie Bestandteil des „Koalitionsrechts“ ist, dem Ausschluss der Zuständigkeit der Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV unterfällt.
109 Zunächst überträgt Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV dem Unionsgesetzgeber ausdrücklich die Zuständigkeit für den Erlass von Maßnahmen, die „die Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen, einschließlich der Mitbestimmung“ betreffen. Der Wortlaut dieser Bestimmung verleiht dieser einen hinreichend weiten Anwendungsbereich, um Maßnahmen zu erfassen, die das Recht auf Tarifverhandlungen regeln, ungeachtet des in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschlusses in Bezug auf das Koalitionsrecht.
110 Sodann lässt sich aus dem Nebeneinander der Begriffe „Koalitionsrecht“ und „Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ im siebten Gedankenstrich von Art. 156 Abs. 1 AEUV ableiten, dass die Verfasser der Verträge für die Zwecke dieses Artikels und allgemeiner der Bestimmungen von Titel X des Dritten Teils des AEU-Vertrags zwischen den von diesen beiden Begriffen erfassten Bereichen unterscheiden wollten.
111 Sodann lässt sich aus dem Nebeneinander der Begriffe „Koalitionsrecht“ und „Kollektivverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ im siebten Gedankenstrich von Art. 156 Abs. 1 AEUV ableiten, dass die Verfasser der Verträge für die Zwecke dieses Artikels und allgemeiner der Bestimmungen von Titel X des Dritten Teils des AEU-Vertrags zwischen den von diesen beiden Begriffen erfassten Bereichen unterscheiden wollten.
112 Was insbesondere die Charta betrifft, verweist zum einen die in ihrem Art. 12 vorgesehene Vereinigungsfreiheit u.a. auf das „Recht jeder Person … zum Schutz ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und Gewerkschaften beizutreten“. Dieses Recht umfasst auch das Recht, sich nicht zu einer Organisation, einschließlich einer Gewerkschaft, zusammenzuschließen und ihr nicht beizutreten. Es zielt insoweit auch darauf ab, dass eine Vereinigung ihre Tätigkeiten fortsetzen und ohne ungerechtfertigte staatliche Eingriffe arbeiten kann (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Werhof, C‑499/04, EU:C:2006:168, Rn. 33, und vom , Kommission/Ungarn [Transparenz von Vereinigungen], C‑78/18, EU:C:2020:476, Rn. 113).
113 Zum anderen umfasst das in Art. 28 der Charta vorgesehene Recht auf Kollektivverhandlungen u.a. das Recht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber oder ihrer jeweiligen Organisationen, „Tarifverträge auf den geeigneten Ebenen auszuhandeln und zu schließen“.
114 Insoweit trifft es zwar zu, dass die in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehene Ausnahme, wie das Königreich Dänemark geltend macht, auf Art. 2 Abs. 6 des Abkommens zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft mit Ausnahme des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland über die Sozialpolitik (ABl. 1992, C 191, S. 91), das dem Protokoll (Nr. 14) über die Sozialpolitik im Anhang des EG-Vertrags beigefügt wurde, beruht und somit dem Erlass der Charta vorausgeht. Die Ansicht des Königreichs Dänemark, dass die Verfasser der Verträge die Freiheit, an Tarifverhandlungen teilzunehmen, als Bestandteil des Koalitionsrechts von den Zuständigkeiten der Union nach Art. 153 Abs. 5 AEUV hätten ausnehmen wollen, wird jedoch weder durch die Charta noch durch die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta und der Charta der sozialen Rechte gestützt, die ihrerseits vor dem Abschluss des Abkommens über die Sozialpolitik erlassen wurden. Denn auch die Europäische Sozialcharta und die Charta der sozialen Rechte behandeln das Koalitionsrecht bzw. das Recht auf Kollektivverhandlungen als unterschiedliche Rechte, d.h. die Europäische Sozialcharta in ihren Art. 5 bzw. 6 und die Charta der sozialen Rechte in ihren Art. 11 bzw. 12.
115 Folglich ist der Begriff „Koalitionsrecht“ in Art. 153 Abs. 5 AEUV dahin auszulegen, dass er auf die Freiheit der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber verweist, sich in Organisationen, einschließlich Gewerkschaften, zusammenzuschließen, diese aufzulösen oder ihnen beizutreten, ohne jedoch Maßnahmen zu erfassen, die das Recht auf Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern regeln.
116 Was das rechtliche Kriterium für die Prüfung der Achtung des in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschlusses in Bezug auf das „Koalitionsrecht“ betrifft, ist in Übereinstimmung mit den Ausführungen des Generalanwalts in Nr. 107 seiner Schlussanträge davon auszugehen, dass der Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das „Koalitionsrecht“, wie es in Rn. 115 des vorliegenden Urteils definiert worden ist, nicht jede Maßnahme erfasst, die im Zusammenhang mit dem Koalitionsrecht steht, sondern lediglich solche Maßnahmen, mit denen das Unionsrecht unmittelbar in dieses Recht oder dessen Ausübung eingreift. Maßnahmen, die zwar im Zusammenhang mit dem Koalitionsrecht stehen, aber dieses Recht nicht unmittelbar regeln, sondern eine Regelung in Bezug auf das Recht auf Tarifverhandlungen treffen, fallen dagegen nicht unter diesen Ausschluss.
117 Entgegen dem Vorbringen des Königreichs Dänemark lässt daher der Umstand, dass Art. 4 der angefochtenen Richtlinie möglicherweise im Zusammenhang mit Bereichen steht, die unter das Recht auf Tarifverhandlungen fallen, für sich genommen nicht den Schluss zu, dass der Unionsgesetzgeber unter Verstoß gegen den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf das Koalitionsrecht gehandelt hätte. Hierzu ist jedoch zu prüfen, ob das Unionsrecht mit den Bestimmungen von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie, auf die das Vorbringen des Königreichs Dänemark besonders Bezug nimmt, „unmittelbar“ in das Koalitionsrecht „eingreift“.
118 Erstens ist zum einen festzustellen, dass sich das Vorbringen des Königreichs Dänemark zwar nicht konkret auf Art. 4 Abs. 1 Buchst. c der angefochtenen Richtlinie bezieht, diese Bestimmung aber darauf abzielt, die Ausübung des Rechts auf Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung zu schützen sowie Arbeitnehmern und Gewerkschaftsvertretern Schutz vor Handlungen zu gewähren, durch die sie im Arbeitsleben benachteiligt werden, weil sie an Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung teilnehmen oder teilnehmen wollen. Die Bestimmung regelt nicht die Freiheit von Arbeitnehmern und Arbeitgebern, Organisationen, einschließlich Gewerkschaften, zu gründen oder aufzulösen oder ihnen beizutreten, sondern Bereiche, die unter das Recht auf Tarifverhandlungen fallen.
119 Zum anderen zielt Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie darauf ab, Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen, die an Tarifverhandlungen teilnehmen oder teilnehmen möchten, vor Eingriffen der jeweils anderen Seite oder ihrer Vertreter oder Mitglieder in ihre Gründung, ihre Arbeitsweise oder ihre Verwaltung zu schützen. Nach dieser Bestimmung „ergreifen“ die Mitgliedstaaten zu diesem Zweck „gegebenenfalls“ „Maßnahmen“. Der Schutz, den diese Bestimmung vor Eingriffen gewähren soll, bezieht sich auf die „Gründung“, die „Arbeitsweise“ und die „Verwaltung“ von Gewerkschaften sowie Arbeitgeberorganisationen, also Bereiche, die zum Koalitionsrecht gehören, und zwar sowohl in seiner positiven als auch in seiner negativen Dimension, d.h. die Freiheit, sich zu Organisationen, einschließlich Gewerkschaften, zusammenzuschließen und diese zu organisieren.
120 Die Achtung des in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschlusses der Zuständigkeit in Bezug auf das „Koalitionsrecht“ setzt jedoch voraus, dass weder Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie noch die von den Mitgliedstaaten zur Umsetzung dieser Bestimmung in ihr innerstaatliches Recht ergriffenen Maßnahmen unmittelbar in die Gründung, die Arbeitsweise und die Verwaltung von Vereinigungen eingreifen.
121 Insoweit ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie, dass diese Bestimmung, auch wenn sie im Zusammenhang mit dem Koalitionsrecht steht, die Freiheit, an Tarifverhandlungen teilzunehmen, fördern soll.
122 Folglich greift Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie nicht in die Befugnis der Mitgliedstaaten ein, Maßnahmen zu erlassen, die unmittelbar das Koalitionsrecht regeln. Diese Feststellung wird dadurch bestätigt, dass die Mitgliedstaaten, wie sich zum einen aus dem Verweis in Art. 4 Abs. 1 dieser Richtlinie auf das „nationale Recht“ und die „nationalen Gepflogenheiten“ und zum anderen aus dem Ausdruck „gegebenenfalls“ in Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie ergibt, nicht zwingend „Maßnahmen“ nach dieser Bestimmung zu ergreifen haben und dies jedenfalls nur tun müssen, soweit ihr nationales Recht und ihre nationalen Gepflogenheiten dies zulassen. In diesem Zusammenhang ist außerdem darauf hinzuweisen, dass diese Bestimmung den Inhalt der vorgeschriebenen Maßnahmen nicht harmonisiert. Im Übrigen sind, wie sich aus Rn. 84 des vorliegenden Urteils ergibt, die Bestimmungen von Art. 4 der Richtlinie im Licht von Art. 152 Abs. 1 AEUV zu lesen, in dem die Achtung der Autonomie der Sozialpartner seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ausdrücklich verankert ist.
123 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, dass das Unionsrecht mit Art. 4 Abs. 1 Buchst. d der angefochtenen Richtlinie nicht unmittelbar in das Koalitionsrecht eingreift.
124 Zweitens trägt das Königreich Dänemark zur Achtung des in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschlusses in Bezug auf das Koalitionsrecht in Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie vor, dass mit dieser Bestimmung auch in das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, eingegriffen werde, da das darin genannte Ziel, die Zahl der Arbeitnehmer, für die ein Tarifvertrag gilt, zu steigern, nur erreicht werden könne, indem der Prozentsatz der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer erhöht werde.
125 Dieses Vorbringen kann jedoch nicht durchgreifen. Wie sich nämlich aus Rn. 84 des vorliegenden Urteils ergibt, kann Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie nicht dahin ausgelegt werden, dass er den Mitgliedstaaten vorschreibt, einen höheren gewerkschaftlichen Organisationsgrad von Arbeitnehmern durchzusetzen.
126 Daraus folgt, dass das Unionsrecht mit Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie nicht unmittelbar in das Koalitionsrecht eingreift.
127 Daher ist der zweite Teil des ersten Klagegrundes als unbegründet zurückzuweisen.
128 Nach alledem ist dem ersten Klagegrund stattzugeben, soweit er sich auf Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie und folglich auf den Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 dieser Richtlinie sowie auf den Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie bezieht; im Übrigen ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
2. Zum zweiten Klagegrund: fehlende Möglichkeit, die angefochtene Richtlinie auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV zu erlassen
a) Vorbringen der Parteien
129 Mit seinem zweiten Klagegrund macht das Königreich Dänemark, unterstützt durch das Königreich Schweden, geltend, dass selbst wenn man annähme, dass die angefochtene Richtlinie nicht gegen den in Art. 153 Abs. 5 AEUV vorgesehenen Ausschluss der Zuständigkeit in Bezug auf „Arbeitsentgelt“ und „Koalitionsrecht“ verstoße, das Parlament und der Rat sie nicht auf der Grundlage von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV gemäß dem in diesem Bereich in Art. 153 Abs. 2 AEUV vorgesehenen Entscheidungsverfahren hätten erlassen dürfen.
130 Die angefochtene Richtlinie verfolge nämlich zwei gleichbedeutende Ziele in dem Sinne, dass sie nicht nur darauf abziele, die „Arbeitsbedingungen“ nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV, sondern auch die „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberinteressen“ nach Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV zu regeln. Jede dieser Rechtsgrundlagen erfordere aber ein anderes Gesetzgebungsverfahren, und diese Verfahren seien miteinander unvereinbar. Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV erfordere eine Einstimmigkeit im Rat, im Gegensatz zu Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV, der eine qualifizierte Mehrheit im Rat erfordere.
131 Das Parlament und der Rat, die Kommission sowie die Mitgliedstaaten, die dem Rechtsstreit zur Unterstützung der Anträge der beklagten Organe beigetreten sind, treten dem Vorbringen des Königreichs Dänemark im Rahmen des zweiten Klagegrundes entgegen.
b) Würdigung durch den Gerichtshof
132 Wie in Rn. 56 des vorliegenden Urteils ausgeführt, muss nach ständiger Rechtsprechung die Wahl der Rechtsgrundlage eines Unionsrechtsakts auf objektiven und gerichtlich nachprüfbaren Umständen beruhen, zu denen das Ziel und der Inhalt des Rechtsakts gehören. Ergibt die Prüfung eines Unionsrechtsakts, dass er mehrere Zielsetzungen hat oder mehrere Komponenten umfasst, und lässt sich eine von ihnen als die hauptsächliche oder überwiegende ausmachen, während die anderen nur nebensächliche Bedeutung oder nur eine äußerst begrenzte Tragweite haben, so ist die Rechtsgrundlage für den Erlass dieses Rechtsakts anhand dieser hauptsächlichen Zielsetzung oder Komponente zu bestimmen. Nur ausnahmsweise ist ein Unionsrechtsakt gleichzeitig auf mehrere Rechtsgrundlagen zu stützen, und zwar dann, wenn er mehrere Zielsetzungen verfolgt oder mehrere Komponenten umfasst, die untrennbar miteinander verbunden sind, ohne dass eine von ihnen ein Nebenaspekt der anderen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom , Parlament/Rat, C‑130/10, EU:C:2012:472, Rn. 43 und 44, sowie vom , Kommission/Rat [Meeresschutzgebiet Antarktis], C‑626/15 und C‑659/16, EU:C:2018:925, Rn. 77 und 78).
133 Der Rückgriff auf eine doppelte Rechtsgrundlage ist jedoch ausgeschlossen, wenn sich die für die beiden Rechtsgrundlagen jeweils vorgesehenen Verfahren nicht miteinander vereinbaren lassen (Urteil vom , Kommission/Rat, C‑300/89, EU:C:1991:244, Rn. 21, und Gutachten 1/15 [PNR-Abkommen EU‑Kanada] vom , EU:C:2017:592, Rn. 78).
134 Zum jeweiligen Anwendungsbereich von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b und f AEUV ergibt sich aus den Ausführungen in den Rn. 72 und 109 des vorliegenden Urteils, dass zum einen Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV, der die „Arbeitsbedingungen“ betrifft, Maßnahmen zur Verbesserung der Angemessenheit der Mindestlöhne und damit zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union umfassen kann, und zum anderen Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV, der die „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung“ betrifft, Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen umfassen kann, sofern die auf diese Weise erlassenen Maßnahmen Art. 153 Abs. 5 AEUV beachten.
135 Während das Parlament und der Rat in jedem dieser beiden Bereiche gemäß Art. 153 Abs. 2 Buchst. b AEUV „Mindestvorschriften“ festlegen können, beschließen sie im Bereich „Arbeitsbedingungen“ gemäß einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat und im Bereich „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung“ gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren, das Einstimmigkeit im Rat erfordert.
136 Im vorliegenden Fall sieht Art. 4 der angefochtenen Richtlinie, wie sich aus den Rn. 63 und 64 des vorliegenden Urteils ergibt, in Bezug auf die wesentlichen Bestimmungen dieser Richtlinie in ihren Art. 4 bis 8 zunächst Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung vor. Solche Maßnahmen können zwar in den Bereich „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen einschließlich der Mitbestimmung“ im Sinne von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV fallen. Wie der Generalanwalt in Nr. 119 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, ist jedoch der Zusammenhang zu berücksichtigen, den diese Richtlinie in ihrem Art. 1 Abs. 1 im Licht ihrer Erwägungsgründe 16 und 22 zwischen der Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung und dem Hauptziel dieser Richtlinie herstellt, die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union und insbesondere die Angemessenheit der Mindestlöhne für Arbeitnehmer zu verbessern. Insoweit stellt Art. 4 der Richtlinie nur ein Mittel zur Erreichung des Hauptziels der Richtlinie dar, nicht aber eine eigenständige und gesonderte Zielsetzung oder Komponente dieser Richtlinie. Art. 4 der Richtlinie fällt somit ebenfalls in den Bereich der „Arbeitsbedingungen“ im Sinne von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV. Jedenfalls stellt Art. 4 der Richtlinie allenfalls eine gesonderte Zielsetzung oder Komponente dar, die im Bereich „Vertretung und kollektive Wahrnehmung der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberinteressen“ gegenüber der hauptsächlichen Zielsetzung oder Komponente, die in den Bereich der „Arbeitsbedingungen“ fällt, ein bloßer Nebenaspekt ist.
137 Sodann ergibt sich aus der Prüfung des ersten Klagegrundes, dass die angefochtene Richtlinie eine Bestimmung und zwei Satzteile enthält, die gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV der Zuständigkeit der Union entzogen sind, nämlich Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie und folglich den Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der Richtlinie sowie den Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie. Für diese Bestimmung und diese beiden Satzteile besteht daher keine Gesetzgebungskompetenz der Union in den von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b und f AEUV erfassten Bereichen.
138 Schließlich sehen die übrigen Bestimmungen von Art. 5 und die Art. 6 bis 8 der angefochtenen Richtlinie, wie sich aus den Rn. 57 und 66 des vorliegenden Urteils ergibt, Maßnahmen vor, mit denen ein Rahmen für die Festlegung angemessener Mindestlöhne geschaffen wird, um die Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union zu verbessern. Diese Bestimmungen hängen daher unmittelbar mit dem Bereich der „Arbeitsbedingungen“ im Sinne von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV zusammen.
139 Nach alledem fällt die angefochtene Richtlinie in Anbetracht ihrer Hauptbestimmungen, die in ihren Art. 4 bis 8 bestehen, in den Zuständigkeitsbereich von Art. 153 Abs. 1 Buchst. b AEUV und nicht in den von Art. 153 Abs. 1 Buchst. f AEUV.
140 Unter diesen Umständen ist der zweite Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
141 Nach alledem ist der Antrag des Königreichs Dänemark teilweise begründet, soweit er auf die Nichtigerklärung von Art. 5 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie und des Satzteils „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 dieser Richtlinie gerichtet ist, weil diese Bestimmungen zu den Bereichen gehören, die gemäß Art. 153 Abs. 5 AEUV der Zuständigkeit der Union entzogen sind. Die Nichtigerklärung von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie impliziert die Nichtigerklärung des Satzteils „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der Richtlinie.
B. Zum Hilfsantrag auf Nichtigerklärung von Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und/oder Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie
142 Der Klagegrund, den das Königreich Dänemark zur Stützung seines Hilfsantrags geltend macht, richtet sich gegen Art. 4 Abs. 1 Buchst. d und/oder Art. 4 Abs. 2 der angefochtenen Richtlinie und ist auf dasselbe Vorbringen gestützt wie der erste zur Stützung seines Hauptantrags geltend gemachte Klagegrund. Da das betreffende Vorbringen im Rahmen der Würdigung des ersten Klagegrundes zurückgewiesen worden ist, ist demnach auch der vorliegende Klagegrund jedenfalls als unbegründet zurückzuweisen, ohne dass über seine Zulässigkeit entschieden zu werden braucht, und folglich dieser Hilfsantrag zurückzuweisen.
143 Nach alledem sind der Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der angefochtenen Richtlinie, Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie sowie der Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie für nichtig zu erklären. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
IV. Kosten
144 Nach Art. 138 Abs. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
145 Wenn jede Partei teils obsiegt, teils unterliegt, trägt nach Art. 138 Abs. 3 dieser Verfahrensordnung jede Partei ihre eigenen Kosten. Der Gerichtshof kann jedoch entscheiden, dass eine Partei außer ihren eigenen Kosten einen Teil der Kosten der Gegenpartei trägt, wenn dies in Anbetracht der Umstände des Einzelfalls gerechtfertigt erscheint.
146 Da das Königreich Dänemark im vorliegenden Fall teilweise unterlegen ist, sind ihm zwei Drittel der Kosten des Parlaments und des Rates sowie zwei Drittel seiner eigenen Kosten aufzuerlegen. Dem Parlament und dem Rat sind ein Drittel der Kosten des Königreichs Dänemark und ein Drittel ihrer eigenen Kosten aufzuerlegen.
147 Nach Art. 140 Abs. 1 der Verfahrensordnung tragen das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden und die Kommission als Streithelfer ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt und entschieden:
Der Satzteil „einschließlich der in Absatz 2 genannten Aspekte“ in Art. 5 Abs. 1 Satz 5 der Richtlinie (EU) 2022/2041 des Europäischen Parlaments und des Rates vom über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, Art. 5 Abs. 2 dieser Richtlinie sowie der Satzteil „sofern die Anwendung dieses Mechanismus nicht zu einer Senkung des gesetzlichen Mindestlohns führt“ in Art. 5 Abs. 3 der Richtlinie werden für nichtig erklärt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Das Königreich Dänemark trägt zwei Drittel der Kosten, die dem Europäischen Parlament und dem Rat der Europäischen Union entstanden sind, sowie zwei Drittel seiner eigenen Kosten.
Das Europäische Parlament und der Rat der Europäischen Union tragen ein Drittel der Kosten, die dem Königreich Dänemark entstanden sind, und ein Drittel ihrer eigenen Kosten.
Das Königreich Belgien, die Bundesrepublik Deutschland, die Hellenische Republik, das Königreich Spanien, die Französische Republik, das Großherzogtum Luxemburg, die Portugiesische Republik, das Königreich Schweden und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen Kosten.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:865
Fundstelle(n):
FAAAK-04945