Aussetzung eines Rechtsstreits - Vorgreiflichkeit eines Verbandsklageverfahrens - Ermessensausübung
Instanzenzug: ArbG Bautzen Az: 3 Ca 3439/24 Beschlussvorgehend Sächsisches Landesarbeitsgericht Az: 1 Ta 7/25 Beschluss
Gründe
1I. Die Parteien streiten in der Hauptsache über einen Anspruch des Klägers auf Zahlung eines tariflichen Urlaubsgelds.
2Der Kläger ist bei der Beklagten im Werk B beschäftigt. Für das Arbeitsverhältnis der Parteien gelten die Tarifverträge der Metall- und Elektroindustrie in Sachsen kraft beiderseitiger Tarifgebundenheit.
3§ 19 Ziff. 4 des zwischen dem Verband der Sächsischen Metall- und Elektroindustrie e.V. (VSME) und der Industriegewerkschaft Metall (IG Metall) geschlossenen Einheitlichen Manteltarifvertrags für die Metall- und Elektroindustrie Sachsen vom (EMTV) sieht einen Anspruch auf ein Urlaubsgeld iHv. 50 vH des Urlaubsentgelts vor. Im Beschäftigungsbetrieb des Klägers wird dieses aufgrund der in § 19 Ziff. 6 EMTV vorgesehenen Möglichkeit zur einheitlichen Regelung durch Betriebsvereinbarung mit der „Aprilabrechnung des Jahres als Einmalzahlung ausbezahlt“.
4Im Jahr 2023 schlossen der Verband der Metall- und Elektroindustrie in Berlin und Brandenburg e.V. (VME), der VSME und der Verband der Metall- und Elektro-Unternehmen Hessen e.V. (Hessenmetall) einerseits sowie die IG Metall andererseits rückwirkend zum den „Zukunftstarifvertrag“ vom (ZTV). Dieser sieht eine befristete Abweichung von den Tarifverträgen der Metall- und Elektroindustrie ua. in den Betrieben der Beklagten im IG Metall Bezirk Berlin-Brandenburg-Sachsen vor. Danach wird für die dort beschäftigten Arbeitnehmer das vorgesehene Urlaubsgeld nach § 5 Abs. 2 ZTV zunächst „einbehalten“. Nach § 6 Abs. 1 ZTV wird dieses mit dem Entgelt für Juni des Folgejahres ganz oder anteilig ausbezahlt, wenn die vereinbarten jährlichen Produktivitätssteigerungen vollständig oder teilweise erreicht wurden.
5Die IG Metall kündigte den ZTV am außerordentlich fristlos.
6Mit Schriftsatz vom erhoben Hessenmetall, VME und VSME vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main (- 21 Ca 4279/24 -) Klage nach § 9 TVG gegen die IG Metall mit dem Antrag, festzustellen, dass der ZTV durch die außerordentliche fristlose Kündigung am nicht geendet hat, sondern ungekündigt fortbesteht.
7 Der Kläger hat - noch bevor die IG Metall am eine weitere außerordentliche Kündigung des ZTV erklärt hat - nach erfolgloser außergerichtlicher Geltendmachung Klage auf Zahlung von 4.168,15 Euro brutto nebst Zinsen iHv. fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz hieraus seit dem gegen die Beklagte eingereicht. Diese stützt er darauf, dass er für das Jahr 2024 infolge der fristlosen Kündigung des ZTV vom einen entsprechenden Anspruch auf Zahlung eines Urlaubsgelds nach § 19 Ziff. 4 EMTV habe. Sollte diese Kündigung unwirksam sein, bestehe der Anspruch nach § 6 Abs. 1 ZTV.
8Das Arbeitsgericht hat den Rechtsstreit nach § 148 Abs. 1 ZPO bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main (- 21 Ca 4279/24 -) ausgesetzt. Hiergegen hat der Kläger sofortige Beschwerde eingelegt, welche das Landesarbeitsgericht, nachdem ihr das Arbeitsgericht nicht abgeholfen hatte, zurückgewiesen hat. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Rechtsbeschwerde begehrt der Kläger die Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses und die Fortführung des Rechtsstreits.
9II. Die zulässige Rechtsbeschwerde ist begründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Beschwerde des Klägers zu Unrecht zurückgewiesen. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und der erstinstanzlichen Entscheidung sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Arbeitsgericht.
101. Das Landesarbeitsgericht hat im Ausgangspunkt zutreffend erkannt, dass die Aussetzung eines Rechtsstreits zwischen Arbeitsvertragsparteien über tarifliche Rechte - entgegen der Auffassung des Klägers - in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO wegen eines anhängigen Verbandsklageverfahrens nach § 9 TVG dem Grunde nach möglich ist. Der Umstand, dass die Parteien des ausgesetzten Verfahrens nicht mit denjenigen des Verbandsklageverfahrens identisch sind, steht dem nicht entgegen.
11a) Nach § 148 Abs. 1 ZPO kann das Gericht, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsbehörde festzustellen ist, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits oder bis zur Entscheidung der Verwaltungsbehörde ausgesetzt wird. Die Aussetzung der Verhandlung setzt damit Vorgreiflichkeit der in dem anderen Rechtsstreit oder dem Verwaltungsverfahren zu treffenden Entscheidung im Sinn einer (zumindest teilweise) präjudiziellen Bedeutung voraus. Vorgreiflichkeit in diesem Sinn ist gegeben, wenn in einem anderen Rechtsstreit eine Entscheidung ergeht, die für das auszusetzende Verfahren materielle Rechtskraft entfaltet oder Gestaltungs- oder Interventionswirkung erzeugt ( - Rn. 14 f.).
12b) Nach § 9 TVG sind rechtskräftige Entscheidungen der Gerichte für Arbeitssachen, die in Rechtsstreitigkeiten zwischen Tarifvertragsparteien aus dem Tarifvertrag oder über das Bestehen oder Nichtbestehen des Tarifvertrags ergangen sind, in Rechtsstreitigkeiten zwischen tarifgebundenen Parteien sowie zwischen diesen und Dritten für die Gerichte und Schiedsgerichte bindend. Daher kommt eine Vorgreiflichkeit des Rechtsstreits über die Verbandsklage iSv. § 9 TVG gegenüber Individualklageverfahren, bei denen die den Gegenstand des Verbandsklageverfahrens bildende Rechtsfrage entscheidungserheblich ist, in Betracht ( - Rn. 17).
132. Ebenfalls ohne Rechtsfehler hat das Beschwerdegericht angenommen, das Arbeitsgericht sei zutreffend davon ausgegangen, das Verbandsklageverfahren vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main sei im Hinblick auf den vorliegenden Rechtsstreit vorgreiflich.
14a) Die Frage, ob eine (zumindest teilweise) präjudizielle Bedeutung und damit Vorgreiflichkeit gegeben ist, ist in der Rechtsbeschwerde voll überprüfbar. Auszugehen ist dabei grundsätzlich von der Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch das aussetzende Gericht, deren Überprüfung einem etwaigen späteren Rechtsmittelverfahren gegen die Sachentscheidung vorbehalten bleibt (vgl. VIa ZB 11/21 - Rn. 12; sh. auch - Rn. 9).
15b) Nach diesen Maßstäben ist die Annahme der Vorgreiflichkeit des vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main anhängigen Verbandsklageverfahrens nicht zu beanstanden. Ergeht dort eine rechtskräftige Entscheidung über die Wirksamkeit der Kündigung des ZTV vom , ist diese für die Parteien im vorliegenden Rechtsstreit nach § 9 TVG bindend. Die vom Kläger gegen die Vorgreiflichkeit angeführten Argumente stehen dieser nicht entgegen.
16aa) Das ausgesetzte Verfahren ist nicht deshalb - unabhängig von der Wirksamkeit der außerordentlichen Kündigung des ZTV vom - entscheidungsreif, weil dessen Bestimmungen im Falle der Wirksamkeit dieser Kündigung nach § 4 Abs. 5 TVG weitergelten würden. Das aussetzende Gericht hat die Frage der Nachwirkung geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine solche vorliegend nicht eintreten würde. Von dieser Rechtsauffassung ist im Rahmen des Beschwerdeverfahrens auszugehen.
17bb) Der Vorgreiflichkeit steht ferner nicht entgegen, dass die IG Metall den ZTV mit Schreiben vom ein weiteres Mal gekündigt hat. Die Annahme des Arbeitsgerichts, unbeschadet dieser Kündigung könne für die Entscheidung über den geltend gemachten Anspruch des Klägers nicht offengelassen werden, ob die Geltung des ZTV aufgrund der fristlosen Kündigung vom - und damit vor dem , ab dem Zinsen begehrt werden - geendet hat, enthält keinen Rechtsfehler.
18cc) Schließlich liegt Entscheidungsreife - unabhängig von der Wirksamkeit der Kündigung vom - nicht deshalb vor, weil der Kläger seinen Zahlungsanspruch nicht nur auf § 19 EMTV, sondern auch auf § 6 ZTV stützt. Soweit das Arbeitsgericht ausgeführt hat, dies stehe der Vorgreiflichkeit nicht entgegen, weil der Anspruch nach § 6 ZTV erst mit der Entgeltabrechnung für den Monat Juni 2025 fällig wird, ist auch dies nicht zu beanstanden. Ein im Juni 2025 fällig werdender Anspruch nach § 6 ZTV kann den geltend gemachten Anspruch auf Zinsen ab Mai 2024 nicht begründen.
193. Das Landesarbeitsgericht hat jedoch rechtsfehlerhaft angenommen, die Entscheidung des Arbeitsgerichts sei ermessensfehlerfrei ergangen.
20a) Im arbeitsgerichtlichen Verfahren ist eine Aussetzung nach § 148 Abs. 1 ZPO nur möglich, wenn in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG eine Aussetzung unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Dies ist anhand der Umstände des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die bisherige Verfahrensdauer und der jetzige Verfahrensstand sowie die bei einer Aussetzung zu prognostizierende Verlängerung der Verfahrensdauer zu berücksichtigen, welche einer Einschätzung durch das Gericht bedarf ( - Rn. 20 mwN).
21b) Die Ermessensentscheidung des aussetzenden Gerichts nach § 148 Abs. 1 ZPO unterliegt im Beschwerderechtszug nur einer eingeschränkten Überprüfung ( - Rn. 9 mwN). Dabei ist zu untersuchen, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten oder ob Ermessensfehler gegeben sind ( - Rn. 38). Einer solchen Überprüfung hält die Entscheidung des Arbeitsgerichts - entgegen der Annahme des Landesarbeitsgerichts - nicht stand.
22aa) Das Arbeitsgericht ist im Ausgangspunkt noch zutreffend davon ausgegangen, der Umstand, dass beim Arbeitsgericht Bautzen eine Vielzahl von Parallelverfahren anhängig ist, hinsichtlich derer eine rechtskräftige Entscheidung des vor dem Arbeitsgericht Frankfurt am Main anhängigen Verbandsklageverfahrens nach § 9 TVG vorgreiflich ist, sei zugunsten einer Aussetzung zu werten. Dies folgt jedoch - entgegen der teilweise anderslautenden Argumentation des Arbeitsgerichts - nicht aus einer gebotenen Schonung von Ressourcen des Arbeitsgerichts Bautzen und der Prozessbevollmächtigten der Parteien, sondern aus dem Zweck des Verbandsklageverfahrens nach § 9 TVG. Dieser besteht vorrangig darin, die normative Wirkung des Tarifvertrags mit einer möglichst einheitlichen rechtlichen Beurteilung von Tarifbestimmungen zu versehen, damit der Rechtssicherheit sowie der Rechtsklarheit zu dienen und zugleich Individualstreitigkeiten zu vermeiden ( - Rn. 15, BAGE 155, 280; - 10 AZR 499/20 - Rn. 17). Dieser Wertung entspricht die Unterbrechung bereits anhängiger Individualverfahren. Auch hierdurch wird verhindert, dass Individualverfahren durchgeführt werden, in denen es zueinander widerstreitenden Entscheidungen kommen kann. Die von § 9 TVG ausgehende Vorgreiflichkeit unterscheidet sich aufgrund der Erstreckung der Rechtskraft auf am Verfahren unbeteiligte Dritte von den herkömmlichen Fällen, in denen eine Präjudizialität besteht. Die in § 9 TVG angeordnete Bindungswirkung bewirkt deshalb nicht nur die der Ermessensausübung als Voraussetzung des § 148 Abs. 1 ZPO vorgelagerte Vorgreiflichkeit, welche für sich genommen die Aussetzung eines Verfahrens nicht begründen kann (vgl. - Rn. 18). Vielmehr ist dem darin zum Ausdruck gebrachten gesetzgeberischen Willen auch im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 148 Abs. 1 ZPO Rechnung zu tragen.
23bb) Die Vorgreiflichkeit eines Verbandsklageverfahrens nach § 9 TVG allein führt jedoch nicht dazu, dass das Ermessen des Gerichts hinsichtlich einer Aussetzung auf „Null“ reduziert ist. Das liefe der Wertentscheidung des Gesetzgebers zuwider. Dieser hat in § 9 TVG - anders als etwa in § 97 Abs. 5 Satz 1 ArbGG oder in § 98 Abs. 6 Satz 1 ArbGG - gerade keine gesetzliche Aussetzungspflicht vorgesehen. Das Arbeitsgericht hätte daher prognostizieren müssen, mit welcher Verlängerung der Verfahrensdauer im Falle einer Aussetzung zu rechnen ist und diesen Gesichtspunkt in seine Abwägung einstellen müssen. Dies hat das Arbeitsgericht versäumt. Soweit das Landesarbeitsgericht diese Überlegungen nachgeholt hat, hat es sich nicht auf eine Überprüfung der Ermessensentscheidung des aussetzenden Gerichts beschränkt, sondern unzulässigerweise eigene Ermessenserwägungen an die Stelle derjenigen des Erstgerichts gesetzt (vgl. - Rn. 25).
244. Der Senat kann nicht beurteilen, ob sich die Aussetzung aus anderen Gründen als richtig erweist. Daher ist es vorliegend angebracht, die Sache an das Arbeitsgericht zurückzuverweisen (§ 577 Abs. 4 Satz 1 ZPO). Hierzu ist das Rechtsbeschwerdegericht, das eine rechtsfehlerhafte zweitinstanzliche Entscheidung aufhebt, gemäß § 577 Abs. 4 iVm. § 572 Abs. 3 ZPO befugt, wenn das Beschwerdegericht ohne den Rechtsfehler vernünftigerweise ebenso verfahren wäre ( - Rn. 34 mwN, BGHZ 160, 176). Es obliegt dem Arbeitsgericht, eine erneute Prüfung über eine Aussetzung nach § 148 Abs. 1 ZPO vorzunehmen.
255. Eine Kostenentscheidung ist nicht veranlasst. Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens bilden vorliegend einen Teil der Kosten des Rechtsstreits, welche - unabhängig vom Ausgang des Rechtsbeschwerdeverfahrens - die in der Sache unterliegende Partei nach §§ 91 ff. ZPO zu tragen hat ( - Rn. 29).
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BAG:2025:130825.B.4AZB12.25.0
Fundstelle(n):
RAAAK-03499