Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 104 Abs 1 GG durch behördliche Inhaftierung zur Vorbereitung von Überstellungshaft ohne gesetzliche Ermächtigungsgrundlage - zudem Verletzung von Art 2 Abs 2 S 2 GG iVm Art 104 Abs 2 S 1 GG durch Freiheitsentziehung ohne vorherige richterliche Anordnung - geplante Festnahme erfordert richterliche Haftanordnung - Gegenstandswertfestsetzung
Gesetze: Art 2 Abs 2 S 2 GG, Art 2 Abs 2 S 3 GG, Art 104 Abs 1 S 1 GG, Art 104 Abs 2 S 1 GG, § 93c Abs 1 S 1 BVerfGG, § 62 Abs 3 AufenthG 2004, § 62 Abs 5 AufenthG 2004, § 82 Abs 4 S 2 AufenthG 2004, § 82 Abs 4 S 3 AufenthG 2004, § 40 Abs 1 BGSG 1994, § 415 FamFG, § 415ff FamFG, § 420 Abs 1 S 2 FamFG
Instanzenzug: LG Erfurt Az: 3 T 103/22 Beschlussvorgehend AG Apolda Az: XIV 2/22 B Beschluss
Gründe
I.
1 1. Die Beschwerdeführerin ist eine eritreische Staatsangehörige. Einen von ihr im Jahr 2016 gestellten Asylantrag lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 lit. a AsylG in der Fassung vom (im Folgenden: a.F.) als unzulässig ab, weil nach der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (im Folgenden: Dublin-III-VO) Italien für die Durchführung des Asylverfahrens der Beschwerdeführerin zuständig sei. Es ordnete die Abschiebung dorthin an.
2 2. Nachdem zwei Versuche, die Beschwerdeführerin nach Italien zu überstellen, bereits gescheitert waren, fasste die Ausländerbehörde für einen weiteren Versuch den ins Auge. Auf behördlichen Antrag vom selben Tage hin ordnete das Abschiebehaft gegen die Beschwerdeführerin an und hob diese mit weiterem Beschluss vom wegen Überschreitens der Höchstfrist von sechs Wochen bis zum Überstellungstermin jedoch wieder auf.
3 3. Mit einem vom 24. November datierenden und am beim Amtsgericht eingegangenen Schreiben beantragte die Ausländerbehörde erneut, gegen die Beschwerdeführerin gemäß § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom (im Folgenden: a.F.) "Ausreisegewahrsam zur Sicherung der Abschiebung" bis zum anzuordnen.
4 4. Am wurde die Beschwerdeführerin gegen 14:30 Uhr in den Räumlichkeiten der Ausländerbehörde von Polizeibediensteten unter Anwendung unmittelbaren Zwangs festgenommen. Ihr wurde eine Fußfessel angelegt und sie wurde zum Amtsgericht Apolda verbracht, wo sie gegen 14:45 Uhr eintraf und vom Haftrichter angehört wurde.
5 5. Mit um 15:45 Uhr an die Geschäftsstelle übergebenem Beschluss vom ordnete das Amtsgericht gegen die Beschwerdeführerin Ausreisegewahrsam bis längstens , 24:00 Uhr, sowie die sofortige Wirksamkeit der Entscheidung an.
6 6. Am wurde die Beschwerdeführerin nach Italien überstellt.
7 7. Mit Beschluss vom stellte das Landgericht auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin hin fest, dass die Anordnung des Ausreisegewahrsams rechtswidrig gewesen sei und die Beschwerdeführerin in ihren Rechten verletzt habe.
8 8. Am beantragte die Beschwerdeführerin festzustellen, dass ihre Ingewahrsamnahme am bis zum Erlass des Haftbeschlusses durch das Amtsgericht ebenfalls rechtswidrig gewesen sei. Es habe sich um eine geplante Festnahme ohne vorherige gerichtliche Entscheidung gehandelt.
9 9. Mit angegriffenem Beschluss vom wies das Amtsgericht den Antrag auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der behördlichen Ingewahrsamnahme zurück.
10 Die Beschwerdeführerin sei von den Polizeibeamten dem Haftrichter vorgeführt und erst nach der Anordnung des Ausreisegewahrsams durch diesen gegen 14:30 Uhr in Gewahrsam genommen worden. Die Vorführung habe eine bloße Freiheitsbeschränkung, keine -entziehung dargestellt. Bei der gebotenen wertenden Betrachtungsweise habe bei der Maßnahme nicht die Beschränkung der Bewegungsfreiheit der Beschwerdeführerin im Vordergrund gestanden. Vielmehr habe sich die Einschränkung der Bewegungsfreiheit als sekundäre, kurzfristige Folge der Durchsetzung der Mitwirkungspflicht dargestellt. Die Pflicht zur vorherigen Einholung einer richterlichen Entscheidung habe sich insbesondere auch nicht aus § 82 Abs. 4 Satz 3 AufenthG in Verbindung mit § 40 BPolG ergeben.
11 10. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin eine Beschwerde, die das Landgericht mit angegriffenem Beschluss vom zurückwies.
12 Es pflichtete dem Amtsgericht darin bei, dass in der Vorführung der Beschwerdeführerin vor den Haftrichter eine Freiheitsentziehung nicht zu erblicken sei. Sehr kurzfristige, von vorneherein als vorübergehend angesehene polizeiliche Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs stellten keine Freiheitsentziehung, sondern eine bloße Freiheitsbeschränkung dar. Die Bewegungsfreiheit der Beschwerdeführerin sei nur zwischen 14:30 Uhr und 15:45 Uhr aufgehoben gewesen, was keine erhebliche Dauer sei. Auch unter Berücksichtigung des Umstands, dass der Beschwerdeführerin eine Fußfessel angelegt worden sei, habe der Eingriff nicht die für eine Freiheitsentziehung notwendige Intensität erreicht. Das Verbringen der Beschwerdeführerin an das Amtsgericht habe als Zwangsmaßnahme der Durchführung einer gerichtlichen Anhörung gedient; die Bewegungsfreiheit der Beschwerdeführerin sei nicht in jeder Hinsicht aufgehoben gewesen.
II.
13 Am hat die Beschwerdeführerin Verfassungsbeschwerde gegen die Beschlüsse vom 22. März und erhoben. Sie rügt eine Verletzung in ihren Rechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.
14 1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzten die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Denn zum Zeitpunkt ihrer Festnahme habe eine Rechtsgrundlage für behördliche Ingewahrsamnahmen zum Zwecke der Vorbereitung von Überstellungshaft im Rahmen eines Verfahrens nach Dublin-III-VO nicht bestanden. Der zur vorläufigen Ingewahrsamnahme eines ausreisepflichtigen Ausländers ermächtigende § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. habe vorausgesetzt, dass der dringende Verdacht für das Vorliegen der Voraussetzungen der Sicherungshaft im Sinne des § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. bestehe. Allerdings dürfe nur in Dublin-Verfahren gemäß Art. 28 Abs. 2 Dublin-III-VO Überstellungshaft und ausschließlich bei "erheblicher Fluchtgefahr" angeordnet werden. Eine Festnahme zur Sicherung der Vorführung vor den Haftrichter, um dort Überstellungshaft im Rahmen des Dublin-Verfahrens anordnen zu können, sei mithin von § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. nicht erfasst gewesen.
15 2. Die Gerichte hätten zudem dem Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG nicht hinreichend Rechnung getragen. Die Festnahme der Beschwerdeführerin sei geplant erfolgt. Die Ausländerbehörde habe im Vorfeld ihrer Ingewahrsamnahme umfangreiche Vorbereitungen für ihre Inhaftierung getroffen und unter anderem mit Schriftsatz vom beim Amtsgericht einen Haftantrag gestellt. Auch stelle ihre Festnahme eine freiheitsentziehende Maßnahme dar. Ihr seien Fußfesseln angelegt worden, sodass ihre Bewegungsfreiheit gänzlich aufgehoben gewesen sei. Auch wenn die Ingewahrsamnahme nur von kurzer Dauer gewesen sei, habe das Bundesverfassungsgericht klargestellt, dass eine geplante Ingewahrsamnahme einer Person zwecks Verbringens vor den Haftrichter eines richterlichen Beschlusses bedürfe. Davon könne - was hier nicht der Fall sei - nur abgesehen werden, wenn der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten des richterlichen Beschlusses nicht erreicht werden könne.
III.
16 Das Justizministerium des Freistaats Thüringen und die Ausländerbehörde hatten Gelegenheit, sich zum Verfahren zu äußern. Die Akten des Ausgangsverfahrens und die Ausländerakte haben dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.
IV.
17 Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt. Die Voraussetzungen des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG für eine stattgebende Entscheidung liegen vor. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte der Beschwerdeführerin aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 GG angezeigt. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt; die Verfassungsbeschwerde ist zulässig und offensichtlich begründet.
18 1. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG. Die Gerichte haben verkannt, dass es für die Festnahme der Beschwerdeführerin durch Polizeivollzugbedienstete zur Vorbereitung der Überstellungshaft an der von Art. 104 Abs. 1 GG geforderten Ermächtigungsgrundlage in Gestalt eines förmlichen Gesetzes fehlte.
19 a) Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG bezeichnet die Freiheit der Person als "unverletzlich". Diese verfassungsrechtliche Grundentscheidung kennzeichnet das Freiheitsrecht als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 29, 312 <316>; 32, 87 <92>; 65, 317 <322>). Geschützt wird die im Rahmen der geltenden allgemeinen Rechtsordnung gegebene tatsächliche körperliche Bewegungsfreiheit vor staatlichen Eingriffen (vgl. BVerfGE 94, 166 <198>; 96, 10 <21>), also vor Verhaftung, Festnahme und ähnlichen Maßnahmen des unmittelbaren Zwangs (vgl. BVerfGE 22, 21 <26>).
20 Nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG in unlösbarem Zusammenhang (vgl. BVerfGE 10, 302 <322>; 58, 208 <220>). Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>; 29, 183 <195>; 58, 208 <220>). Freiheitsbeschränkungen, also Eingriffe in die körperliche Bewegungsfreiheit, bedürfen einer materiell-gesetzlichen Grundlage (vgl. BVerfGE 2, 118 <119>; 29, 183 <195>), wobei ein Bundes- oder Landesgesetz in Betracht kommt. Inhalt und Reichweite der Formvorschriften eines freiheitsbeschränkenden Gesetzes sind von den Gerichten so auszulegen, dass sie eine der Bedeutung des Grundrechts angemessene Wirkung entfalten (vgl. BVerfGE 65, 317 <322 f.>; 96, 68 <97>).
21 Aus der Verschärfung des schon in Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalts durch Art. 104 Abs. 1 GG, der noch unterstützt wird durch die formalen Garantien in Art. 104 Abs. 2 GG, ist zu entnehmen, dass es dem Grundgesetz im Bereich der Freiheitsentziehungen auf eine rechtsstaatliche, förmliche Regelung ankommt. Der Gesetzgeber soll gezwungen werden, Freiheitsentziehungen in berechenbarer, messbarer und kontrollierbarer Weise zu regeln. Ebenso wie aus diesem Grunde Gewohnheitsrecht als "gesetzliche Grundlage" ausscheidet, gilt dies auch für die analoge Heranziehung von Normen. Nur der Gesetzgeber soll nach Art. 2 Abs. 2 Satz 3 und Art. 104 Abs. 1 GG darüber entscheiden, in welchen Fällen Freiheitsentziehungen zulässig sein sollen (BVerfGE 29, 183 <195 f.>; 83, 24 <31 f.>; BVerfGK 6, 119 <124>). Diese Auslegung des Art. 104 Abs. 1 GG rechtfertigt sich auch durch den Vergleich mit dem Analogieverbot im Strafrecht, das aus dem in Art. 103 Abs. 2 GG vorgeschriebenen, dem Art. 104 GG ähnlichen Gebot bestimmter gesetzlicher Regelung herzuleiten ist (BVerfGE 29, 183 <196> m.w.N.).
22 b) Daran gemessen fehlte es für die Festnahme der Beschwerdeführerin an der von Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG vorausgesetzten Ermächtigungsgrundlage in Gestalt eines förmlichen Gesetzes.
23 aa) Entgegen der Auffassung der Fachgerichte stellten sich die Festnahme der Beschwerdeführerin und ihre Verbringung ans Amtsgericht nicht als "Vorführung" und damit Anwendung unmittelbaren Zwangs zur Durchsetzung einer der Beschwerdeführerin obliegenden Pflicht, vor dem Haftrichter zu erscheinen (vgl. § 420 Abs. 1 Satz 2 FamFG), dar. Dies scheidet bereits deswegen aus, weil die Beschwerdeführerin im Vorfeld nicht zu einem Anhörungstermin geladen und mithin nicht verpflichtet worden war, vor dem Amtsgericht zu erscheinen. Im Übrigen wäre allein der Haftrichter und nicht etwa die Ausländerbehörde dafür zuständig gewesen, eine Vorführung zum Zwecke der Anhörung durch das Gericht anzuordnen (vgl. Heidebach, in: Haußleiter, FamFG, 2. Aufl. 2017, § 420 Rn. 9; Günter, in: Hahne/Schlögel/Schlünder, FamFG, § 420 Rn. 11 <Mai 2024>). Eine solche Anordnung ist aber ersichtlich nicht erfolgt.
24 bb) Aus denselben Gründen geht auch die Einschätzung des Amtsgerichts fehl, bei der Verbringung der Beschwerdeführerin an das Amtsgericht habe es sich um die "zwangsweise Durchsetzung der Mitwirkungspflicht" der Beschwerdeführerin nach § 82 Abs. 4 Sätze 2 und 3 AufenthG a.F. in Verbindung mit § 40 Abs. 1 BPolG gehandelt. Denn auch nach dieser Norm war eine Verpflichtung zum Erscheinen vor dem Amtsgericht der Beschwerdeführerin im Vorfeld nicht auferlegt worden.
25 cc) Schließlich hätte auch die - weder von der Ausländerbehörde noch den Gerichten in Bezug genommene - Vorschrift des § 62 Abs. 5 AufenthG a.F., die die Behörden zur vorläufigen Ingewahrsamnahme von ausreisepflichtigen Ausländern zur Vorbereitung der Sicherungshaft (§ 62 Abs. 3 AufenthG a.F.) ermächtigt hat, keine taugliche Rechtsgrundlage für die Festnahme der Beschwerdeführerin dargestellt.
26 Denn § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. ermöglichte eine vorläufige Ingewahrsamnahme lediglich zum Zwecke der Vorbereitung der Haft zur Sicherung der Abschiebung im Sinne des § 62 Abs. 3 AufenthG a.F. Demgegenüber waren die Voraussetzungen für die Überstel-lungshaft in Verfahren nach Dublin-III-VO zum Zeitpunkt der Festnahme der Beschwerdeführerin abschließend in Art. 28 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 2 lit. n Dublin-III-VO in Verbindung mit § 2 Abs. 15 in Verbindung mit § 2 Abs. 14 AufenthG a.F. geregelt (vgl. -, juris, Rn. 4), welche durch § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. aber gerade nicht in Bezug genommen wurden. Vor dem Hintergrund dieser gesetzgeberischen Entscheidung war für die Festnahme der Beschwerdeführerin ein Rückgriff auf § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. ausgeschlossen.
27 Eine entsprechende Anwendung von § 62 Abs. 5 AufenthG a.F. auf die vorläufige behördliche Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin zur Sicherung der Überstellungshaft schied aus, weil sie dem strengen Gesetzesvorbehalt in Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG und dem daraus folgenden Analogieverbot zuwider liefe (vgl. BVerfGE 29, 183 <196>; 83, 24 <31 f.>).
28 2. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin zudem in ihrem Recht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG.
29 a) Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht (vgl. BVerfGE 10, 302 <323>). Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Art. 104 Abs. 2 GG ist unmittelbar geltendes und anzuwendendes Recht (vgl. BVerfGE 10, 302 <329>; 149, 293 <332 f. Rn. 95>). Alle staatlichen Organe sind daher verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass der Richtervorbehalt als Grundrechtssicherung praktisch wirksam wird (vgl. BVerfGE 105, 239 <248>; vgl. zu Art. 13 Abs. 2 GG: BVerfGE 103, 142 <151 ff.>).
30 Die Freiheitsentziehung erfordert nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung, sodass die - zunächst - allein durch die Exekutive veranlasste Freiheitsentziehung eine rechtfertigungsbedürftige Ausnahme darstellt (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 25). Eine nachträgliche richterliche Entscheidung ist nur dann zulässig, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck andernfalls nicht erreichbar wäre (vgl. BVerfGE 22, 311 <317>; 105, 239 <248>; 149, 293 <334 Rn. 98>). Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG gebietet in einem solchen Fall, die richterliche Entscheidung unverzüglich nachzuholen (vgl. BVerfGE 10, 302 <321>). "Unverzüglich" ist dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden muss (vgl. BVerfGE 105, 239 <249>). Nicht vermeidbar sind zum Beispiel Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind (vgl. BVerfGE 105, 239 <249>).
31 Ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, bestimmt sich danach, ab wann die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Maßgeblich ist, ob bezogen auf diesen Zeitpunkt der Zweck der Freiheitsentziehung gefährdet worden wäre, wenn die Ausländerbehörde sogleich eine richterliche Entscheidung beantragt hätte und diese zeitnah ergangen wäre. Umgekehrt wird der Richtervorbehalt nicht ausgelöst, wenn und solange unklar ist, ob die Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 26 m.w.N.).
32 b) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Entscheidungen des Amts- und des Landgerichts nicht gerecht.
33 aa) Die Festnahme der Beschwerdeführerin durch die Bundespolizei in Amtshilfe für die Ausländerbehörde und ihre Verbringung zum Amtsgericht mit dem Ziel, sie nach Anordnung derselben unmittelbar in Überstellungshaft zu nehmen, stellt eine freiheitsentziehende Maßnahme dar (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 2247/19 -, Rn. 28).
34 bb) Der Beschwerdeführerin ist die Freiheit entzogen worden, ohne dass die Freiheitsentziehung zuvor von einem Richter angeordnet worden wäre. Über den Antrag der Ausländerbehörde vom auf Anordnung der Überstellungshaft gegen die Beschwerdeführerin hatte das Amtsgericht vor der Ingewahrsamnahme noch nicht entschieden.
35 cc) Die Festnahme der Beschwerdeführerin ohne vorherige richterliche Anordnung war hier auch nicht ausnahmsweise zulässig.
36 (1) Für die Frage, ob der Zweck der Freiheitsentziehung bei Abwarten einer richterlichen Entscheidung nicht erreicht werden kann und daher die Freiheitsentziehung ausnahmsweise ohne vorherige gerichtliche Anordnung erfolgen darf, ist auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die Ausländerbehörde eine Haftanordnung frühestmöglich hätte erwirken können. Daraus folgt, dass von der Ausländerbehörde konkret geplante Freiheitsentziehungen regelmäßig einer vorherigen richterlichen Anordnung bedürfen und Vollzugsbeamte der Polizei, die von der Ausländerbehörde gebeten worden sind, einen Ausländer im Wege der Amtshilfe in Gewahrsam zu nehmen, sich regelmäßig nicht mit Erfolg darauf berufen können, dass zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung eine richterliche Anordnung nicht mehr rechtzeitig eingeholt werden könne.
37 Anders liegt der Fall, wenn ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer untertaucht und infolgedessen für die zu diesem Zeitpunkt zuständige Ausländerbehörde nicht mehr greifbar ist. Dann ist nicht absehbar, ob später die Abschiebungshaftvoraussetzungen vorliegen und welche Behörde gegebenenfalls für eine Ingewahrsamnahme zuständig sein wird; eine Festnahme im Falle des Aufgreifens des betroffenen Ausländers kann lediglich abstrakt geplant sein, da weder Aufgriffsort noch -zeitpunkt abgeschätzt werden können. Ein untergetauchter vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer kann daher bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 62 Abs. 4 AufenthG zum Zwecke der Vorführung vor den Haftrichter ohne Verstoß gegen Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG durch die Exekutive in Gewahrsam genommen werden (vgl. BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom - 2 BvR 475/09 -, Rn. 18 f.).
38 (2) Vorliegend plante die Ausländerbehörde ausgehend von der Aktenlage bereits deutlich vor der Festnahme der Beschwerdeführerin am , sie vor ihrer Überstellung nach Italien in Haft zu nehmen. Denn ein Flug mit Sicherheitsbegleitung für den wurde ausweislich der Ausländerakte bereits am gebucht. Am selben Tage beantragte die Ausländerbehörde den Erlass von Abschiebehaft, die vom Amtsgericht zunächst angeordnet, mit Beschluss vom (nur) wegen Überschreitens der sechswöchigen Höchstfrist bis zum geplanten Überstellungstermin aber wieder aufgehoben wurde. Mit diesem ersten Versuch hat die Behörde unmissverständlich die Absicht bekundet, die Beschwerdeführerin vor der Überstellung in Haft zunehmen.
39 (3) Warum das Amtsgericht, bei dem der Antrag der Ausländerbehörde am einging, vor der Festnahme der Beschwerdeführerin am keinen Beschluss erließ, ist von den Fachgerichten weder aufgeklärt worden, noch sonst nach der bisherigen Aktenlage erkennbar. Ausgehend davon, dass Gerichte jedenfalls zur Tageszeit - also von 6 bis 21 Uhr (vgl. BVerfGE 151, 67 <89 Rn. 58> und 139, 235 <267 f. Rn. 64>, jeweils zu Art. 13 Abs. 2 GG) - einen richterlichen Eil- oder Notdienst einrichten müssen, um dem Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG praktische Wirksamkeit zu verschaffen (vgl. BVerfGE 103, 142 <156>; BVerfGE 105, 239 <248>), hätte das Amtsgericht indes über den Antrag der Ausländerbehörde noch vor der Ingewahrsamnahme der Beschwerdeführerin am entscheiden können und, um diese zu ermöglichen, auch entscheiden müssen.
40 (4) Daran ändert der Umstand nichts, dass die Beschwerdeführerin nach ihrer Festnahme unmittelbar an das Amtsgericht verbracht wurde und von der Festnahme bis zum Erlass der richterlichen Entscheidung nur ein Zeitraum von etwas über einer Stunde in Rede steht. Der Richtervorbehalt unterliegt auf Rechtsfolgenseite keiner zeitlichen "Marginalitätsschwelle". Einem etwaigen besonderen Eilbedürfnis im Einzelfall trägt Rechnung, dass eine behördliche Fest- oder Ingewahrsamnahme ohne vorherigen richterlichen Beschluss (nur) bei Vorliegen von Gefahr im Verzug erfolgen darf, wenn also die vorherige Einholung einer richterlichen Entscheidung den Zweck der Haft - hier die Überstellung der Beschwerdeführerin nach Italien - vereiteln würde.
41 Eine derartige Zweckgefährdung stand hier indes nicht zu befürchten. Das Amtsgericht hätte die vorläufige Freiheitsentziehung etwa nach § 427 Abs. 3 FamFG im Wege der einstweiligen Anordnung anordnen und bei Bestehen der Gefahr, dass durch die Kenntnis der Beschwerdeführerin von ihrer geplanten Inhaftierung eine Festnahme verunmöglicht werden könnte, von deren vorheriger Anhörung absehen können. Auch eine Mitteilung der Entscheidung an die Beschwerdeführerin hätte nach § 431 Satz 1 in Verbindung mit § 308 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 FamFG zunächst unterbleiben können, sodass die Beschwerdeführerin von der geplanten Festnahme keine Kenntnis erlangt hätte.
42 Auch der Ausländerbehörde, die spätestens seit dem die Überstellung der Beschwerdeführerin für den geplant und erstmals an diesem Tage auf deren Inhaftierung hingewirkt hatte, hätte es freigestanden, einen erneuten Antrag auf Anordnung von Überstellungshaft frühzeitiger zu stellen, um dadurch sicherzugehen, dass das Amtsgericht mit ausreichend zeitlichem Vorlauf vor der geplanten Festnahme der Beschwerdeführerin darüber entscheiden würde. Nachdem bis zum kein haftrichterlicher Beschluss vorlag, stand es der Behörde nicht zu, die Bundespolizei im Wege der Amtshilfe um die Festnahme der Beschwerdeführerin zu ersuchen.
V.
43 Die Kammer hebt gemäß § 93c Abs. 2 in Verbindung mit § 95 Abs. 2 BVerfGG die angegriffene Entscheidung auf und verweist die Sache an das Amtsgericht zurück.
VI.
44 Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG. Die Festsetzung des Werts des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BVerfG:2025:rk20250805.2bvr119122
Fundstelle(n):
DAAAK-02928