Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem – Richtlinie 2006/112/EG – Steuerbarer Umsatz – Steuerbefreiung für die Gewährung von Krediten – Art. 135 Abs. 1 Buchst. b – Steuerbefreiung für Finanzumsätze – Einziehung von Forderungen – Art. 135 Abs. 1 Buchst. d – Factoring durch Forderungsverkauf – Factoring durch Verpfändung
Leitsatz
Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
sind dahin auszulegen, dass
bei einem Factoring durch Forderungsverkauf, in dessen Rahmen der Factor den Kunden von der Einziehung von Forderungen und dem Risiko des Zahlungsausfalls entlastet,
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
den tatsächlichen Gegenwert von Dienstleistungen darstellen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und die insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
die der Factor im Rahmen von Factoring durch Forderungsverkauf wie des in der Antwort in Nr. 1 des Tenors genannten oder im Rahmen von Factoring durch Verpfändung erhält, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Factor die Einziehung und Beitreibung der betreffenden Forderungen übernimmt, die zwar nicht auf ihn übertragen werden, aber zur Sicherung der dem Kunden von ihm gewährten Finanzierung verwendet werden, die Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der Einziehung von Forderungen darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegt.
Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme für die Einziehung von Forderungen unbedingt und hinreichend genau ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und sich Einzelne daher vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf sie berufen können.
Gesetze: RL 2006/112/EG Art. 1 Abs. 2, RL 2006/112/EG Art. 2, RL 2006/112/EG Art. 9, RL 2006/112/EG Art. 135 Abs. 1 Buchst. b, RL 2006/112/EG Art. 135 Abs. 1 Buchst. d, RL 77/388/EWG
Gründe
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c, Art. 9 Abs. 1 sowie Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).
2 Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, der die mehrwertsteuerliche Behandlung verschiedener Gebühren und Provisionen betrifft, die die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die A Oy, im Rahmen ihrer Factoringtätigkeit erhalten hat.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
3 Art. 1 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht auf dem Grundsatz, dass auf Gegenstände und Dienstleistungen, ungeachtet der Zahl der Umsätze, die auf den vor der Besteuerungsstufe liegenden Produktions- und Vertriebsstufen bewirkt wurden, eine allgemeine, zum Preis der Gegenstände und Dienstleistungen genau proportionale Verbrauchsteuer anzuwenden ist.
Bei allen Umsätzen wird die Mehrwertsteuer, die nach dem auf den Gegenstand oder die Dienstleistung anwendbaren Steuersatz auf den Preis des Gegenstands oder der Dienstleistung errechnet wird, abzüglich des Mehrwertsteuerbetrags geschuldet, der die verschiedenen Kostenelemente unmittelbar belastet hat.
…“
4 Art. 2 dieser Richtlinie sieht vor:
„(1) Der Mehrwertsteuer unterliegen folgende Umsätze:
…
Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt erbringt;
…“
5 Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:
„(1) Als ,Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.
Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.
…“
6 Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
…
die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber;
…
Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einziehung von Forderungen;
…“
Finnisches Recht
7 § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Arvonlisäverolaki (1501/1993) (Mehrwertsteuergesetz [1501/1993]) vom (im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz) sieht vor:
„Gemäß diesem Gesetz wird Mehrwertsteuer an den Staat entrichtet:
1) für den Verkauf von Gegenständen und Dienstleistungen in Finnland im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit.“
8 § 18 Abs. 2 dieses Gesetzes lautet:
„Unter Verkauf einer Dienstleistung ist die Erbringung oder sonstige Übertragung einer Dienstleistung gegen Entgelt zu verstehen.“
9 § 41 des Mehrwertsteuergesetzes bestimmt:
„Auf den Verkauf einer Finanzdienstleistung wird keine Mehrwertsteuer entrichtet.“
10 § 42 Nrn. 2 und 3 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
„Als Finanzdienstleistungen gelten:
…
die Gewährung von Krediten und sonstige Finanzierungsmechanismen;
die Verwaltung eines Kredits durch den Kreditgeber“.
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
11 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens ist eine finnische Gesellschaft, die Factoring-Dienstleistungen erbringt. Ihre Kunden nehmen ihre Dienstleistungen in Anspruch, um über Mittel aus noch nicht fälligen Forderungen sofort zu verfügen und sich von den entsprechenden Einziehungsmaßnahmen zu entlasten. Bei den Forderungen, die Gegenstand einer Factoring-Vereinbarung sind, handelt es sich um unbestrittene Forderungen.
12 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens betreibt zum einen Factoring durch Verpfändung in der Form, dass ihren Kunden ein Kredit in Höhe fakturierter Forderungen gewährt wird, bis zu einem Höchstbetrag, der sich nach dem mit der Tätigkeit dieser Kunden verbundenen Risiko bestimmt. In diesem Zusammenhang übernimmt die Klägerin des Ausgangsverfahrens die Mahnungen und die außergerichtliche Einziehung der verpfändeten Forderungen. Zum anderen bietet sie Factoring-Dienstleistungen in Form des Forderungsverkaufs an, bei dem sie ausgewählte fakturierte Forderungen ihrer Kunden bis zu einem Höchstbetrag kauft, der nach Maßgabe der Bewertung des mit der Tätigkeit der Kunden verbundenen Risikos festgelegt wird. Das vorlegende Gericht, das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht, Finnland), präzisiert, dass im Unterschied zum Factoring durch Verpfändung, bei dem das Ausfallrisiko weiterhin vom Kunden getragen werde, beim Factoring durch Forderungsverkauf Forderungen an den Factor abgetreten würden und damit das Risiko des Zahlungsausfalls auf den Factor übergehe.
13 Die Verträge zwischen der Klägerin des Ausgangsverfahrens und ihren Kunden sehen vor, dass die Klägerin von den Kunden verschiedene Gebühren und Provisionen erhält, darunter eine „Finanzierungsprovision“, die im Voraus gezahlt wird, in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes jeder Forderung. Diese Provision ist umso höher, je niedriger die Bonitätseinstufung des Kunden und der Personen, gegen die er die betreffenden Forderungen hat, und je länger die Zahlungsfrist für die Rechnungen ist. Zu dieser Provision kommen eine „Einrichtungsgebühr“ und verschiedene andere Kosten und Gebühren hinzu.
14 Der Keskusverolautakunta (zentraler Steuerausschuss, Finnland) erteilte der Klägerin des Ausgangsverfahrens einen Steuervorbescheid für den Zeitraum vom bis zum , in dem sie darauf hinwies, dass die Provisionen und Gebühren, die die Klägerin des Ausgangsverfahrens für ihre Tätigkeiten des Factoring durch Verpfändung und des Factoring durch Forderungsverkauf erhalte, der Mehrwertsteuer unterlägen, da sie die Gegenleistung für eine Dienstleistung der Verwaltung und Einziehung fakturierter Forderungen darstellten. Hingegen stellten die Finanzierungsprovision sowie verschiedene andere Kosten und Gebühren zum Teil die Gegenleistung für eine von der Mehrwertsteuer befreite Finanzdienstleistung dar.
15 Im Einzelnen war der zentrale Steuerausschuss der Ansicht, dass sowohl Factoring durch Verpfändung als auch Factoring durch Forderungsverkauf mehrwertsteuerpflichtige Dienstleistungen seien, da die Klägerin des Ausgangsverfahrens die fakturierten Forderungen verwalte, die darauf geleisteten Zahlungen prüfe und die Einziehung dieser Forderungen übernehme. Da die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihren Kunden jedoch eine Finanzierung innerhalb eines eigens auf die Kunden zugeschnittenen Limits anbiete, würden bestimmte Kosten und Gebühren, darunter die Finanzierungsprovision, als Gegenleistung für die Finanzdienstleistung der Gewährung eines Kredits gezahlt, die von der Mehrwertsteuer befreit sei, während die Einrichtungsgebühr in einen der Mehrwertsteuer unterliegenden und einen von der Mehrwertsteuer befreiten Teil aufzuspalten sei, der auf die Einrichtung und das Ingangsetzen des durch fakturierte Forderungen gesicherten Finanzierungsmechanismus entfalle.
16 Die Klägerin des Ausgangsverfahrens erhob beim vorlegenden Gericht Klage auf teilweise Nichtigerklärung dieses Vorbescheids, da sie der Ansicht war, dass die Finanzierungsprovision und die anderen Kosten und Gebühren insgesamt der Mehrwertsteuer unterlägen. Allenfalls könnte die „Limitgebühr“ die Gegenleistung für eine von der Mehrwertsteuer befreite Finanzdienstleistung darstellen, da sie einen Prozentsatz des Finanzierungslimits darstelle, das jedem Kunden zur Verfügung gestellt werden könne.
17 Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass nach Ansicht der Klägerin des Ausgangsverfahrens das Factoring durch Forderungsverkauf nicht mit der Gewährung eines Kredits gleichgesetzt werden könne, da sie in diesem Rahmen Forderungen ihrer Kunden von diesen kaufe, so dass ihre Kunden keine Verbindlichkeiten ihr gegenüber hätten und der Vertrag zwischen ihnen und der Klägerin des Ausgangsverfahrens vollständig erfüllt sei.
18 Das vorlegende Gericht ist der Ansicht, dass das Factoring durch Verpfändung als Dienstleistung gegen Entgelt anzusehen sei, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie falle. Es hat jedoch Zweifel, wie die verschiedenen als Gegenleistung für die erbrachte Dienstleistung erhaltenen Gebühren und Provisionen im Hinblick auf diese Steuer zu behandeln sind.
19 Hinsichtlich der Provisionen und Gebühren für Factoring durch Forderungsverkauf fragt sich das vorlegende Gericht insbesondere, ob davon auszugehen ist, dass ein Wirtschaftsteilnehmer, der eine solche Tätigkeit ausübt, gleichzeitig Dienstleistungen an seinen Kunden verkauft, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.
20 In Anbetracht der Urteile vom , MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring (C‑305/01, EU:C:2003:377), und vom , GFKL Financial Services (C‑93/10, EU:C:2011:700), fragt sich das vorlegende Gericht im Einzelnen, welche Konsequenzen aus dem Umstand zu ziehen seien, dass es in der bei ihm anhängigen Rechtssache nicht um nicht erfüllte, sondern um künftig fällig werdende Forderungen gehe, und darum, ob eine bestimmte Gebühr zwischen den Parteien konkret vereinbart oder unmittelbar im Kaufpreis der Forderungen berücksichtigt worden sei. Der Umstand, dass die Finanzierungsprovision von der Zahlungsfrist der Forderungen, die Gegenstand der Factoring-Vereinbarung seien, abhängig sei, könne zu der Annahme führen, dass diese Provision zum Teil Zinscharakter habe und daher die Gegenleistung für eine Finanzdienstleistung darstelle. Alternativ könnte diese Provision als ein Berichtigungsposten angesehen werden, der darauf abziele, den Kaufpreis der Forderung ihrem tatsächlichen wirtschaftlichen Wert anzupassen.
21 Das vorlegende Gericht weist den Gerichtshof auch darauf hin, dass beim Factoring in Form des Forderungsverkaufs das Eigentumsrecht an den Forderungen zusammen mit dem Ausfallrisiko auf die Gesellschaft, an die die Forderungen abgetreten würden – im vorliegenden Fall die Klägerin des Ausgangsverfahrens – übergehe, woraufhin diese von dem Kunden, von dem sie eine Forderung erworben habe, keine Zinsen oder andere Gegenleistungen mehr erhalte.
22 Factoring könnte nach Ansicht des vorlegenden Gerichts eine Finanzierungsdienstleistung zum Teil in Form der Gewährung von Krediten darstellen, da diese Dienstleistung nicht derart mit der mehrwertsteuerpflichtigen Dienstleistung der Verwaltung oder Einziehung von Forderungen zusammenhänge, dass sie eine einheitliche und unteilbare Leistung darstelle. Dies gelte insbesondere für Factoring durch Verpfändung.
23 Nach finnischem Recht würden gemäß § 42 Abs. 1 Nr. 2 des Mehrwertsteuergesetzes nicht nur die Gewährung von Krediten, sondern auch andere Finanzierungsmechanismen als von der Mehrwertsteuer befreite Dienstleistungen angesehen, obwohl Letztere in der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht als von der Mehrwertsteuer befreit genannt seien.
24 Sollte die in der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung für die Gewährung von Krediten dahin auszulegen sein, dass sie auf die im vorliegenden Fall in Rede stehenden Provisionen und Gebühren keine Anwendung finde, folge daraus, dass das nationale Gesetz möglicherweise nicht richtlinienkonform ausgelegt werden könne. In diesem Fall müsste das vorlegende Gericht feststellen, ob die einschlägigen Bestimmungen der Richtlinie unmittelbare Wirkung haben.
25 Das vorlegende Gericht weist schließlich darauf hin, dass sich sein Vorabentscheidungsersuchen nur auf die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr beziehe, da die Prüfung der mehrwertsteuerlichen Behandlung dieser Beträge ausreiche, um es ihm zu ermöglichen, zu bestimmen, wie die übrigen in Rede stehenden Kosten und Gebühren zu behandeln seien.
26 Unter diesen Umständen hat das Korkein hallinto-oikeus (Oberstes Verwaltungsgericht) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Wenn eine Factoring-Gesellschaft von einem Kunden künftig fällig werdende fakturierte Forderungen in der Weise ankauft, dass das Ausfallrisiko dieser Forderungen vom Kunden auf diese Gesellschaft übergeht (Factoring in Form des Forderungsverkaufs):
Ist die von der Gesellschaft für jede der Vereinbarung unterfallende Forderung in Rechnung gestellte, in Prozent ausgedrückte Finanzierungsprovision als ein Berichtigungsposten des Kaufpreises in Verbindung mit dem Kauf der Forderungen bzw. als ein sonstiger Posten außerhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuerrichtlinie anzusehen, oder
sind Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass die Gesellschaft an ihren Kunden gegen die in Nr. 1. a) genannte Finanzierungsprovision eine dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie unterfallende entgeltliche Dienstleistung erbringt?
Ist die dem Kunden im Rahmen des Factoring in Form des Forderungsverkaufs in Rechnung gestellte feste Einrichtungsgebühr für Einrichtung und Ingangsetzen des Factoring-Verfahrens als Gegenleistung für den Verkauf einer dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie unterfallenden Dienstleistung an den Kunden anzusehen?
Wenn die in Nr. 1 oder 2 genannten, im Rahmen des Factoring in Form des Forderungsverkaufs in Rechnung gestellten Vergütungen als Gegenleistung für die Erbringung einer dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie unterfallenden Dienstleistung anzusehen sind:
Ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie über die Gewährung von Krediten oder Art. 135 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie über Umsätze im Zahlungsverkehr oder im Geschäft mit Forderungen dahin auszulegen, dass die dem Kunden in Rechnung gestellte Finanzierungsprovision oder die Einrichtungsgebühr als Gegenleistung für den steuerfreien Verkauf einer Dienstleistung anzusehen ist, oder
ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass es sich um die Gegenleistung für die als steuerpflichtige Dienstleistung anzusehende Einziehung von Forderungen oder um die Gegenleistung für eine andere steuerpflichtige Dienstleistung handelt?
Wenn eine Factoring-Gesellschaft ihren Kunden durch Gewährung eines Kredits in der Weise eine Finanzierung gewährt, dass die fakturierten Forderungen des Kunden als Sicherheit für die von der Gesellschaft gewährte Finanzierung dienen (Factoring in Form der Rechnungsfinanzierung):
Ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie über die Gewährung von Krediten oder Art. 135 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie über Umsätze im Zahlungsverkehr oder im Geschäft mit Forderungen dahin auszulegen, dass die dem Kunden für jede der Vereinbarung unterfallende Forderung in Rechnung gestellte Finanzierungsprovision und die feste Einrichtungsgebühr für Einrichtung und Ingangsetzen der Factoring-Vereinbarung zumindest teilweise als Gegenleistung für den Verkauf einer steuerfreien Dienstleistung anzusehen sind, oder
ist Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen, dass es sich um die Gegenleistung für die als steuerpflichtige Dienstleistung anzusehende Einziehung von Forderungen oder um die Gegenleistung für eine andere steuerpflichtige Dienstleistung handelt?
Ist, wenn die im Rahmen des Factoring in Form des Forderungsverkaufs oder des Factoring in Form der Rechnungsfinanzierung in Rechnung gestellte Finanzierungsprovision oder Einrichtungsgebühr aufgrund der Fragen 3 und 4 in vollem Umfang als Gegenleistung für eine steuerpflichtige Dienstleistung anzusehen ist, die auf der Mehrwertsteuerrichtlinie beruhende Steuerpflichtigkeit der Dienstleistung so klar und uneingeschränkt, dass ihr auf Antrag des Steuerpflichtigen unmittelbare Wirkung zuzuerkennen ist, auch wenn die Steuerbefreiung im nationalen Mehrwertsteuergesetz neben der Gewährung von Krediten die Besorgung sonstiger Finanzierungen umfasst?
Zu den Vorlagefragen
Zur ersten und zur zweiten Frage
27 Mit der ersten und der zweiten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass beim Factoring durch Forderungsverkauf, in dessen Rahmen der Factor den Kunden von der Einziehung von Forderungen und vom Risiko des Zahlungsausfalls entlastet, die vom Kunden gezahlte Finanzierungsprovision und Einrichtungsgebühr als Entgelt für eine in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallende Dienstleistung anzusehen sind.
28 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie ein gemeinsames Mehrwertsteuersystem geschaffen wurde, das insbesondere auf einer einheitlichen Definition der steuerbaren Umsätze beruht (Urteil vom , Lomoco Development u.a., C‑594/23, EU:C:2024:942, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 Gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegen Lieferungen von Gegenständen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im Gebiet eines Mitgliedstaats gegen Entgelt tätigt, der Mehrwertsteuer.
30 Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie fasst den Anwendungsbereich für die Mehrwertsteuer sehr weit, indem er dem Begriff „Steuerpflichtiger“ eine weite Definition mit dem Schwerpunkt auf der Selbständigkeit der Ausübung einer „wirtschaftliche[n] Tätigkeit“ verleiht, die ihrerseits in Art. 9 Abs. 1 Unterabs. 2 dieser Richtlinie in dem Sinne weit definiert ist, dass sie alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden und insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen umfasst. Gerade das Vorliegen einer solchen Tätigkeit rechtfertigt die Einstufung als Steuerpflichtiger (Urteil vom , Grzera, C‑213/24, EU:C:2025:238, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Außerdem ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Dienstleistung nur dann im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie „gegen Entgelt“ erbracht wird und somit der Mehrwertsteuer unterliegt, wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, wobei die vom Leistenden empfangene Vergütung den tatsächlichen Gegenwert für die dem Leistungsempfänger erbrachte Dienstleistung bildet (Urteile vom , Finanzamt T II, C‑184/23, EU:C:2024:599, Rn. 30, und vom , rhtb, C‑622/23, EU:C:2024:994, Rn. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
32 Im Rahmen der Auslegung der mit Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie im Wesentlichen übereinstimmenden Bestimmungen der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1) hat der Gerichtshof aus Gründen, die auf die Mehrwertsteuerrichtlinie übertragbar sind, bereits entschieden, dass „echtes“ Factoring, bei dem der Factor Forderungen seines Kunden kauft, ohne gegen diesen ein Rückgriffsrecht zu haben, eine Dienstleistung gegen Entgelt darstellt, die der Mehrwertsteuerrichtlinie unterliegt, da in einer solchen Situation die Beziehungen zwischen dem Factor und seinem Kunden durch einen Vertrag bestimmt werden, in dessen Rahmen gegenseitige Leistungen ausgetauscht werden, nämlich der Factor den Kunden von der Einziehung der Forderungen und dem Risiko ihrer Nichterfüllung entlastet und der Kunde als Gegenleistung für diese Dienstleistung eine Vergütung zahlt, die der Differenz zwischen dem Nennbetrag der dem Factor abgetretenen Forderungen und dem Betrag entspricht, den der Factor ihm für diese Forderungen zahlt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, C‑305/01, EU:C:2003:377, Rn. 48 und 49).
33 Da Factoring durch Forderungsverkauf wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende im Wesentlichen die gleichen Merkmale aufweist wie das in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils beschriebene „echte“ Factoring, ist festzustellen, dass die in diesem Rahmen erbrachten Leistungen Dienstleistungen gegen Entgelt im Sinne von Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Mehrwertsteuerrichtlinie darstellen.
34 Das Urteil vom , GFKL Financial Services (C‑93/10, EU:C:2011:700), vermag diese Schlussfolgerung nicht in Frage zu stellen. In Rn. 26 dieses Urteils hat der Gerichtshof nämlich entschieden, dass ein isolierter Verkauf fälliger, aber zahlungsgestörter Forderungen, deren Kaufpreis nicht das Entgelt für eine erbrachte Dienstleistung widerspiegelte, sondern den tatsächlichen wirtschaftlichen Wert dieser Forderungen, der unter ihrem Nennwert gefallen war, nicht in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer fällt. Im Unterschied dazu bezieht sich Factoring durch Forderungsverkauf wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende auf nicht fällige Forderungen, bei denen nicht von vornherein davon ausgegangen werden kann, dass sie von den Schuldnern nicht vollständig beglichen werden, und ist durch die Erbringung einer Dienstleistung gekennzeichnet, die darin besteht, dass der Zessionar die Einziehung dieser Forderungen und das mit ihnen verbundene Risiko gegen Zahlung einer Vergütung durch den Zedenten übernimmt.
35 Ein solches Factoring durch Forderungsverkauf kann auch nicht einem bloßen Erwerb und Halten von Gesellschaftsanteilen gleichgestellt werden, das außerhalb des Anwendungsbereichs der Mehrwertsteuer liegt, da sich der Factor nicht wie der passive Eigentümer der erworbenen Forderungen verhält, sondern seinem Kunden eine Dienstleistung erbringt, die darin besteht, gegen Entgelt das Ausfallrisiko des Schuldners zu übernehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Polysar Investments Netherlands, C‑60/90, EU:C:1991:268, Rn. 13).
36 Zu der Frage, ob im Rahmen von Factoring durch Forderungsverkauf wie des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr, die dem Factor von seinem Kunden gezahlt werden, den tatsächlichen Gegenwert für Leistungen darstellen, die in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen, ist erstens darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Vorabentscheidungsersuchen ergibt, dass die Finanzierungsprovision in einem Prozentsatz des Betrags der Forderungen besteht, dessen Höhe nicht von der Bewertung des wirtschaftlichen Werts dieser Forderungen als solchem, sondern von ihrer Bonitätseinstufung und der Länge der verbleibenden Zahlungsfrist abhängt.
37 Angesichts dieser Merkmale ist nicht ersichtlich, dass eine solche Provision einer Anpassung des Kaufpreises der Forderungen an ihren tatsächlichen wirtschaftlichen Wert gleichkäme. Diese Provision ist vielmehr als Gegenleistung für die vom Factor an seinen Kunden erbrachte Dienstleistung der Einziehung von Forderungen anzusehen, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher der Grad des von ihm übernommenen Risikos ist.
38 Zweitens ist darauf hinzuweisen, dass aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervorgeht, dass die Einrichtungsgebühr dem Pauschalbetrag entspricht, den der Kunde für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet hat, und u.a. die Kosten der Maßnahmen deckt, die mit der Einhaltung der Verpflichtungen verbunden sind, die sich aus den geltenden Geldwäschevorschriften ergeben. Eine solche Gebühr ist folglich als Gegenleistung für die Einrichtung und das Ingangsetzen der vom Factor erbrachten Dienstleistung anzusehen.
39 Vorbehaltlich der Überprüfungen, die dem vorlegenden Gericht obliegen, ist daher davon auszugehen, dass die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr, die dem Factor von seinem Kunden im Rahmen von Factoring durch Forderungsverkauf gezahlt werden, als tatsächlicher Gegenwert für die erbrachte Dienstleistung anzusehen sind und folglich in den Anwendungsbereich der Mehrwertsteuerrichtlinie fallen.
40 Nach alledem ist auf die erste und die zweite Frage zu antworten, dass Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen sind, dass bei einem Factoring durch Forderungsverkauf, in dessen Rahmen der Factor den Kunden von der Einziehung von Forderungen und dem Risiko des Zahlungsausfalls entlastet,
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
den tatsächlichen Gegenwert von Dienstleistungen darstellen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
Zur dritten und zur vierten Frage
41 Mit der dritten und der vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und d der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr, die im Rahmen eines Factoring durch Forderungsverkauf oder eines Factoring durch Verpfändung vom Kunden an den Factor gezahlt werden, die Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der Einziehung von Forderungen darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegt, oder zumindest teilweise als Entgelt für eine von der Mehrwertsteuer befreite Leistung im Zusammenhang mit der Gewährung eines Kredits anzusehen sind.
42 Nach Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten die Gewährung und Vermittlung von Krediten und die Verwaltung von Krediten durch die Kreditgeber von der Steuer.
43 Die Gewährung eines Kredits im Sinne dieser Bestimmung besteht u.a. in der Überlassung von Kapital gegen Entgelt (Urteil vom , O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C‑250/21, EU:C:2022:757, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).
44 Gemäß Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie befreien die Mitgliedstaaten Umsätze – einschließlich der Vermittlung – im Einlagengeschäft und Kontokorrentverkehr, im Zahlungs- und Überweisungsverkehr, im Geschäft mit Forderungen, Schecks und anderen Handelspapieren, mit Ausnahme der Einziehung von Forderungen von der Steuer.
45 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Befreiungen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie autonome unionsrechtliche Begriffe, die eine von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedliche Anwendung des Mehrwertsteuersystems verhindern sollen (Urteil vom , O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C‑250/21, EU:C:2022:757, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
46 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Begriffe, mit denen die in diesem Artikel vorgesehenen Steuerbefreiungen umschrieben sind, eng auszulegen, da es sich um Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz handelt, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (Urteil vom , O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C‑250/21, EU:C:2022:757, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Die Auslegung dieser Begriffe muss jedoch mit den Zielen im Einklang stehen, die mit den Befreiungen verfolgt werden, und den Erfordernissen des Grundsatzes der steuerlichen Neutralität entsprechen, auf dem das gemeinsame Mehrwertsteuersystem beruht (Urteil vom , O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O, C‑250/21, EU:C:2022:757, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).
48 Da die Mehrwertsteuerrichtlinie keine Definition des in Art. 135 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie genannten Begriffs „Einziehung von Forderungen“ enthält, ist dieser Begriff in seinem Kontext zu betrachten und nach dem Sinn und Zweck dieser Bestimmung sowie allgemein nach der Systematik dieser Richtlinie auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Axa UK, C‑175/09, EU:C:2010:646, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Während insoweit, wie in Rn. 46 des vorliegenden Urteils ausgeführt, die in Art. 135 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Steuerbefreiungen, die von der allgemeinen Geltung der Mehrwertsteuer abweichen, eng auszulegen sind, ist der Begriff „Einziehung von Forderungen“ als Ausnahme von einer solchen von der Geltung der Mehrwertsteuer abweichenden Bestimmung, die dazu führt, dass die von ihr erfassten Umsätze gemäß der Grundregel, auf der diese Richtlinie beruht, der Besteuerung unterliegen, weit auszulegen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Axa UK, C‑175/09, EU:C:2010:646, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
50 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs bezieht sich der Begriff „Einziehung von Forderungen“ im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie auf finanzielle Transaktionen, die darauf gerichtet sind, die Erfüllung einer Geldschuld zu erwirken (Urteil vom , Axa UK, C‑175/09, EU:C:2010:646, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
51 Der Gerichtshof hat klargestellt, dass dieser Begriff dahin auszulegen ist, dass er alle Formen von Factoring ungeachtet ihrer Modalitäten umfasst, da mit Factoring seiner objektiven Natur nach im Wesentlichen die Einziehung und Beitreibung von Forderungen bezweckt wird. Es gibt keinen Grund, der es rechtfertigen könnte, das „echte“ und das „unechte“ Factoring hinsichtlich der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln, da der Factor in beiden Fällen dem Kunden Leistungen gegen Entgelt erbringt und damit eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring, C‑305/01, EU:C:2003:377, Rn. 76 und 77).
52 Wie in Rn. 33 des vorliegenden Urteils ausgeführt, weist Factoring durch Forderungsverkauf wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende die gleichen Merkmale auf wie das „echte“ Factoring, um das es in der Rechtssache ging, in der das Urteil vom , MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring (C‑305/01, EU:C:2003:377), ergangen ist. Wie in diesem Urteil entschieden worden ist, ist davon auszugehen, dass eine solche Tätigkeit unter den Begriff „Einziehung von Forderungen“ in Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie fällt.
53 Gleiches gilt für das von der Klägerin des Ausgangsverfahrens betriebene Factoring durch Verpfändung. Da der Gerichtshof im Urteil vom , MKG-Kraftfahrzeuge-Factoring (C‑305/01, EU:C:2003:377), entschieden hat, dass das „unechte“ Factoring unter den Begriff „Einziehung von Forderungen“ fällt, muss nämlich das Factoring durch Verpfändung, das sich vom Factoring durch Forderungsverkauf nur dadurch unterscheidet, dass die Forderungen des Kunden nicht auf den Factor übertragen werden, sondern als Sicherheit für die Finanzierung verwendet werden, die der Factor dem Kunden zur Verfügung stellt, wobei der Factor im Übrigen die Einziehung und Beitreibung dieser Forderungen übernimmt, ebenfalls unter diesen Begriff fallen.
54 Um die vom vorlegenden Gericht aufgeworfenen Fragen zu beantworten, ist jedoch noch zu klären, ob die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr die Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der Einziehung von Forderungen darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegt, oder ob sie zum Teil eine getrennte Leistung der Gewährung eines Kredits vergüten, die unter die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Befreiung von dieser Steuer fällt.
55 Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei einem Umsatz, der verschiedene Einzelleistungen und Handlungen umfasst, eine Gesamtbetrachtung vorzunehmen, um zu bestimmen, ob dieser Umsatz für Zwecke der Mehrwertsteuer zwei oder mehr getrennte Leistungen oder eine einheitliche Leistung umfasst (Urteil vom , KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 35).
56 Der Gerichtshof hat außerdem festgestellt, dass sich aus Art. 1 Abs. 2 Unterabs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ergibt, dass jeder Umsatz in der Regel als eigene, selbständige Leistung zu betrachten ist, und dass ein Umsatz, der eine wirtschaftlich einheitliche Leistung darstellt, im Interesse eines funktionierenden Mehrwertsteuersystems nicht künstlich aufgespalten werden darf (Urteil vom , KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 36).
57 Daher sind unter bestimmten Umständen mehrere formal unterschiedliche Einzelleistungen, die getrennt erbracht werden und damit jede für sich zu einer Besteuerung oder Befreiung führen könnten, als ein einheitlicher Umsatz anzusehen, wenn sie nicht selbständig sind (Urteil vom , KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 37).
58 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass eine Leistung als einheitlich anzusehen ist, wenn der Steuerpflichtige zwei oder mehr Handlungen vornimmt oder Elemente liefert, die so eng miteinander verbunden sind, dass sie objektiv eine einzige untrennbare wirtschaftliche Leistung bilden, deren Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre. Dies ist auch dann der Fall, wenn eine oder mehrere Einzelleistungen eine Hauptleistung bilden und die andere Einzelleistung oder die anderen Einzelleistungen eine oder mehrere Nebenleistungen bilden, die steuerlich wie die Hauptleistung behandelt werden. Eine Leistung ist insbesondere dann als Nebenleistung zu einer Hauptleistung anzusehen, wenn sie für die Kundschaft keinen eigenen Zweck, sondern das Mittel darstellt, um die Hauptleistung des Leistungserbringers unter optimalen Bedingungen in Anspruch zu nehmen (Urteil vom , KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 38).
59 Zur Klärung der Frage, ob die erbrachten Leistungen unabhängig voneinander sind oder eine einheitliche Leistung darstellen, sind die charakteristischen Merkmale des betreffenden Umsatzes zu ermitteln. Es gibt jedoch für die Bestimmung des Umfangs einer Leistung aus mehrwertsteuerlicher Sicht keine Regel mit absoluter Geltung; daher sind zur Bestimmung des Umfangs einer Leistung die Gesamtumstände zu berücksichtigen, unter denen der fragliche Umsatz getätigt wird (Urteil vom , KPC Herning, C‑71/18, EU:C:2019:660, Rn. 39). Der Gerichtshof berücksichtigt zudem sowohl den wirtschaftlichen Zweck der Leistungen als auch das Interesse der Leistungsempfänger (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Franck, C‑801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 26 und die dort angeführte Rechtsprechung).
60 Hierzu ist festzustellen, dass aus der Sicht sowohl des Kunden als auch des Factors eine Factoring-Dienstleistung grundsätzlich einen einheitlichen wirtschaftlichen Vorgang darstellt, dessen Hauptzweck darin besteht, es dem Kunden zu ermöglichen, die Einziehung und Beitreibung seiner Forderungen auf einen Dritten abzuwälzen, und dessen Aufspaltung wirklichkeitsfremd wäre.
61 Was insbesondere das Factoring durch Forderungsverkauf betrifft, handelt es sich bei den Beträgen, die der Factor an seinen Kunden zahlt, nicht um ein Darlehen, das dieser zurückzuzahlen hätte, sondern um die Gegenleistung für den endgültigen Verkauf von Forderungen, so dass zwischen dem Factor und seinem Kunden kein Kreditverhältnis besteht. Folglich können die Finanzierungsprovision und die in diesem Rahmen entrichtete Einrichtungsgebühr nicht als Entgelt für eine Kreditgewährung angesehen werden, die unter die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Steuerbefreiung fällt, sondern stellen in Anbetracht der Erwägungen in den Rn. 32, 33, 38 und 39 des vorliegenden Urteils die Gegenleistung für steuerpflichtige Dienstleistungen der Einziehung von Forderungen im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. d dieser Richtlinie dar.
62 Beim Factoring durch Verpfändung stellt zwar der Factor seinem Kunden Mittel zur Verfügung und erhält dafür als Sicherheit fällig werdende Forderungen, doch wie in Rn. 53 des vorliegenden Urteils festgestellt, übernimmt der Factor im Übrigen die Einziehung und Beitreibung der Forderungen was nach der in Rn. 51 angeführten Rechtsprechung das wesentliche Ziel von Factoring ist.
63 Außerdem geht zwar im Rahmen der Erbringung dieser Leistung mit der Einziehung der Forderungen durch den Factor einher, dass dieser seinem Kunden eine Finanzierung in Höhe der als Sicherheit gestellten Forderungen zur Verfügung stellt, doch ist nicht ersichtlich, dass der Factor eine solche Finanzierung in der Praxis unabhängig von der Dienstleistung der Einziehung von Forderungen, mit der sie verbunden ist, bereitstellt.
64 Zwar hat der Gerichtshof bereits anerkannt, dass sich der Begriff der Gewährung von Krediten im Sinne von Art. 135 Abs. 1 Buchst. b der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht auf Darlehen und Kredite von Bank- und Finanzinstituten beschränkt und andere Formen der Vergütung als die Zahlung von Zinsen nicht ausschließt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Vega International Car Transport and Logistic, C‑235/18, EU:C:2019:412, Rn. 44, 45, 47 und 48 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). Er hat auch entschieden, dass diese Vorschrift auf einen Umsatz Anwendung findet, der darin besteht, dass der Steuerpflichtige gegen Entgelt einem anderen Steuerpflichtigen Geldmittel überlässt, die er bei einer Factoringgesellschaft infolge der Übertragung eines vom zweiten Steuerpflichtigen ausgestellten Wechsels auf diese erhalten hat, wobei der erste Steuerpflichtige der Factoringgesellschaft die Begleichung dieser Wechselforderung zum Fälligkeitstermin garantiert (Urteil vom , Franck, C‑801/19, EU:C:2020:1049, Rn. 53).
65 Gleichwohl kann das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof im Urteil vom , Franck (C‑801/19, EU:C:2020:1049), gelangt ist, nicht auf die vorliegende Rechtssache übertragen werden, da dieses Urteil u.a. die besondere Konstellation eines Drei-Parteien-Verhältnisses betraf, bei dem ein Factor lediglich zu dem Zweck in Anspruch genommen wurde, unter Umgehung der Unmöglichkeit, einen Bankkredit aufzunehmen, eine Finanzierung zu erhalten.
66 Auch das Ergebnis, zu dem der Gerichtshof im Urteil vom , O. Fundusz Inwestycyjny Zamknięty reprezentowany przez O (C‑250/21, EU:C:2022:757), gelangt ist, das die mehrwertsteuerliche Behandlung einer Gestaltung im Bereich der Verbriefungen bzw. der strukturierten Finanzierungen betraf, die im Wesentlichen zum Ziel hatte, Kapital gegen Entgelt in der Form bereitzustellen, dass im Rahmen eines Unterbeteiligungsvertrags Dienstleistungen erbracht wurden, die darin bestanden, dem Originator als Gegenleistung für die Auszahlung der Einnahmen aus bestimmten Forderungen, die im Vermögen des Originators verblieben waren, eine Finanzierung zu gewähren, passt auf die vorliegende Rechtssache nicht.
67 Schließlich kann dem Vorbringen der finnischen Regierung, sämtliche Finanzierungsinstrumente müssten mehrwertsteuerrechtlich gleichbehandelt werden, nicht gefolgt werden, da der Unionsgesetzgeber selbst, indem er zwischen der mehrwertsteuerlichen Behandlung von Leistungen der Einziehung von Forderungen und Leistungen der Kreditgewährung unterscheidet, die Möglichkeit vorsieht, dass mehrwertsteuerpflichtige und mehrwertsteuerbefreite Finanzierungsinstrumente nebeneinander bestehen.
68 Folglich sind die Finanzierungsprovision und die Einrichtungsgebühr, die vom Kunden im Rahmen eines Factoring durch Verpfändung gezahlt werden, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Factor die Einziehung und Beitreibung der betreffenden Forderungen übernimmt, die zwar nicht auf ihn übertragen werden, aber zur Sicherung der dem Kunden von ihm gewährten Finanzierung verwendet werden, als Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der „Einziehung von Forderungen“ anzusehen, die der Mehrwertsteuer unterliegt.
69 Nach alledem ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und d der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und die insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
die der Factor im Rahmen von Factoring durch Forderungsverkauf wie des in der Antwort auf die erste und die zweite Frage genannten oder im Rahmen von Factoring durch Verpfändung erhält, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Factor die Einziehung und Beitreibung der betreffenden Forderungen übernimmt, die zwar nicht auf ihn übertragen werden, aber zur Sicherung der dem Kunden von ihm gewährten Finanzierung verwendet werden, die Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der Einziehung von Forderungen darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegt.
Zur fünften Frage
70 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Einziehung von Forderungen vorgesehene Ausnahme, falls sie auf Factoring-Dienstleistungen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Anwendung findet, unbedingt und hinreichend genau ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten.
71 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs kann sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen, wenn dieser die Richtlinie unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (Urteil vom , Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 17 und die dort angeführte Rechtsprechung).
72 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass eine Unionsvorschrift zum einen unbedingt ist, wenn sie eine Verpflichtung normiert, die an keine Bedingung geknüpft ist und zu ihrer Durchführung oder Wirksamkeit auch keiner weiteren Maßnahmen der Unionsorgane oder der Mitgliedstaaten bedarf, und zum anderen hinreichend genau ist, um von einem Einzelnen geltend gemacht und vom Gericht angewandt zu werden, wenn sie in unzweideutigen Worten eine Verpflichtung festlegt (Urteil vom , Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2010:168, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
73 Was erstens die Unbedingtheit der in Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehenen Ausnahme für die Einziehung von Forderungen betrifft, ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Bestimmung, dass diese Ausnahme unbedingt ist, da ihre Anwendung nicht an zusätzliche Bedingungen oder den Erlass von Durchführungsrechtsakten geknüpft ist.
74 Zweitens begründet Art. 135 Abs. 1 Buchst. d, soweit er diese Ausnahme vorsieht, unmissverständlich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, ohne dass diese über ein Ermessen verfügen, und ist daher als hinreichend genau im Sinne der in Rn. 72 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung anzusehen.
75 Daraus folgt, dass die in Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Ausnahme für die Einziehung von Forderungen unmittelbare Wirkung hat und sich Einzelne daher vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf sie berufen können.
76 In diesem Zusammenhang ist noch darauf hinzuweisen, dass der Grundsatz des Vorrangs des Unionsrechts zur Gewährleistung der Wirksamkeit sämtlicher Bestimmungen des Unionsrechts u.a. den nationalen Gerichten auferlegt, ihr nationales Recht so weit wie möglich unionsrechtskonform auszulegen, wobei diese Pflicht zur konformen Auslegung nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen darf (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 35 und 36 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).
77 Zudem ist ein nationales Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit die Bestimmungen des Unionsrechts anzuwenden hat und eine nationale Regelung nicht im Einklang mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen kann, nach dem Grundsatz des Vorrangs verpflichtet, für die volle Wirksamkeit der Anforderungen des Unionsrechts in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede – auch spätere – nationale Regelung oder Praxis, die einer Bestimmung des Unionsrechts mit unmittelbarer Wirkung entgegensteht, aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne dass es die vorherige Beseitigung dieser nationalen Regelung oder Praxis auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste (Urteil vom , Bezirkshauptmannschaft Hartberg-Fürstenfeld [Unmittelbare Wirkung], C‑205/20, EU:C:2022:168, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
78 Das vorlegende Gericht wird festzustellen haben, ob im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts sichergestellt werden kann, dass die fragliche Ausnahme beachtet wird, oder ob, wenn dies nicht möglich ist, diese Bestimmungen unangewendet bleiben müssen.
79 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin auszulegen ist, dass die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme für die Einziehung von Forderungen unbedingt und hinreichend genau ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und sich Einzelne daher vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf sie berufen können.
Kosten
80 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 2 Abs. 1 Buchst. c und Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem
sind dahin auszulegen, dass
bei einem Factoring durch Forderungsverkauf, in dessen Rahmen der Factor den Kunden von der Einziehung von Forderungen und dem Risiko des Zahlungsausfalls entlastet,
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
den tatsächlichen Gegenwert von Dienstleistungen darstellen, die in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fallen.
Art. 135 Abs. 1 Buchst. b und d der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
die Finanzierungsprovision, die die Dienstleistung der Einziehung von Forderungen vergütet, deren Wert umso höher ist, je länger die Zahlungsfrist und je höher das vom Factor übernommene Risiko ist, und
die vom Kunden gezahlte Einrichtungsgebühr, die dem Pauschalbetrag entspricht, der für die Einrichtung des Factoring-Mechanismus entrichtet wurde, und die insbesondere die Kosten der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einhaltung der Verpflichtungen aus den geltenden Geldwäschevorschriften deckt,
die der Factor im Rahmen von Factoring durch Forderungsverkauf wie des in der Antwort in Nr. 1 des Tenors genannten oder im Rahmen von Factoring durch Verpfändung erhält, das dadurch gekennzeichnet ist, dass der Factor die Einziehung und Beitreibung der betreffenden Forderungen übernimmt, die zwar nicht auf ihn übertragen werden, aber zur Sicherung der dem Kunden von ihm gewährten Finanzierung verwendet werden, die Gegenleistung für eine einheitliche und unteilbare Leistung der Einziehung von Forderungen darstellen, die der Mehrwertsteuer unterliegt.
Art. 135 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112
ist dahin auszulegen, dass
die in dieser Bestimmung vorgesehene Ausnahme für die Einziehung von Forderungen unbedingt und hinreichend genau ist, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und sich Einzelne daher vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf sie berufen können.
ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:820
Fundstelle(n):
WAAAK-02871