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EuGH Urteil v. - C-110/24

Vorlage zur Vorabentscheidung – Sozialpolitik – Richtlinie 2003/88/EG – Arbeitszeitgestaltung – Art. 2 Nr. 1 – Begriff ‚Arbeitszeit‘ – Arbeiten zur Verbesserung von geschützten Naturräumen – Fahrzeit der Arbeitnehmer zwischen einem festen Abfahrtsort und Naturräumen – Einrechnung dieser Fahrzeit in die Arbeitszeit dieser Arbeitnehmer

Leitsatz

Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung

ist dahin auszulegen, dass

die Zeit für Hin- und Rückfahrten, die Arbeitnehmer zu einer von ihrem Arbeitgeber festgelegten Uhrzeit mit einem Fahrzeug des Arbeitgebers gemeinsam zurücklegen müssen, um sich von einem bestimmten, vom Arbeitgeber festgelegten Ort an den Ort zu begeben, an dem die im zwischen ihnen und dem Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag vorgesehene charakteristische Leistung erbracht wird, als „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten ist.

Gesetze: RL 2003/88/EG Art. 1, RL 2003/88/EG Art. 2 Nr. 1, RL 89/391/EWG Art. 2

Gründe

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. 2003, L 299, S. 9).

2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Sindicat de Treballadores i Treballadors de les Administracions i els Serveis Públics (STAS‑IV) und der Valenciana d’Estratègies i Recursos per a la Sostenibilitat Ambiental SA (VAERSA) über die Einrechnung der Fahrzeit von Arbeitnehmern im Bereich Biodiversität zu Beginn und am Ende ihres Arbeitstags in ihre Arbeitszeit.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3 Art. 1 („Gegenstand und Anwendungsbereich“) der Richtlinie 2003/88 bestimmt:

„(1)  Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

(2)  Gegenstand dieser Richtlinie sind

a)

die täglichen und wöchentlichen Mindestruhezeiten, der Mindestjahresurlaub, die Ruhepausen und die wöchentliche Höchstarbeitszeit sowie

b)

bestimmte Aspekte der Nacht- und der Schichtarbeit sowie des Arbeitsrhythmus.

(3)  Diese Richtlinie gilt unbeschadet ihrer Artikel 14, 17, 18 und 19 für alle privaten oder öffentlichen Tätigkeitsbereiche im Sinne des Artikels 2 der Richtlinie 89/391/EWG [des Rates vom über die Durchführung von Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer bei der Arbeit (ABl. 1989, L 183, S. 1)].

…“

4 Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie sieht in seinen Nrn. 1 und 2 vor:

„Im Sinne dieser Richtlinie sind:

1.

Arbeitszeit: jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt;

2.

Ruhezeit: jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“.

Spanisches Recht

5 Die Ley del Estatuto de los Trabajadores (Gesetz über das Arbeitnehmerstatut) in der Fassung des Real Decreto legislativo 2/2015, por el que se aprueba el texto refundido de la Ley del Estatuto de los Trabajadores (Königliches gesetzesvertretendes Dekret 2/2015 zur Annahme der Neufassung des Gesetzes über das Arbeitnehmerstatut) vom (BOE Nr. 255 vom , S. 100224) bestimmt in Art. 34 („Arbeitszeit“) Abs. 1, 3 und 5:

„(1)  Die Arbeitszeit wird durch Tarifvertrag oder Arbeitsvertrag festgelegt. Die Regelarbeitszeit beträgt im Jahresdurchschnitt höchstens 40 tatsächlich geleistete Wochenstunden.

(3)  Zwischen dem Ende eines Arbeitszeitraums und dem Beginn des folgenden liegen mindestens zwölf Stunden. Die Anzahl der tatsächlich geleisteten gewöhnlichen Arbeitsstunden darf neun Stunden täglich nicht überschreiten, sofern nicht in einem Tarifvertrag oder in Ermangelung dessen in einer Vereinbarung zwischen dem Unternehmen und den Arbeitnehmervertretern eine andere Verteilung der täglichen Arbeitszeit vereinbart wird; die täglichen Ruhezeiten sind in jedem Fall zu beachten.

(5)  Bei der Berechnung der Arbeitszeit wird sowohl für den Beginn als auch für das Ende des Arbeitstages auf den Zeitpunkt abgestellt, an dem sich der Arbeitnehmer an seinem Arbeitsplatz befindet.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

6 VAERSA, eine Aktiengesellschaft, deren Anteile mehrheitlich von der Generalitat Valenciana (Regierung der valencianischen Gemeinschaft, Spanien) gehalten werden, ist ein öffentliches Unternehmen, das mit der Durchführung öffentlicher Investitionen zur Verbesserung der Naturräume des europäischen ökologischen Netzes Natura 2000 betraut ist. Zu diesem Zweck ist VAERSA in Naturräumen im gesamten Gebiet der valencianischen Gemeinschaft tätig; dazu beschäftigt sie 15 Einheiten, die aus jeweils vier Personen bestehen und für vorab festgelegte geografische Gebiete zuständig sind – sechs Einheiten in der Provincia de Valencia (Provinz Valencia, Spanien), vier in der Provincia de Alicante (Provinz Alicante, Spanien) und fünf in der Provincia de Castellón (Provinz Castellón, Spanien).

7 Die Mitarbeiter im Bereich Biodiversität, die diesen Einheiten zugeteilt sind, werden als „Mitarbeiter des Natura 2000-Netzes“ in Mikronaturschutzgebieten tätig. Für die Anfahrt in diese Gebiete werden diesen Arbeitnehmern Fahrzeuge von VAERSA zur Verfügung gestellt, mit denen sie ihre Fahrt an einem als „Stützpunkt“ bezeichneten Abfahrtsort antreten. Bei den „Stützpunkten“ handelt es sich um Orte, die für jede Einheit in einer Referenzgemeinde innerhalb des Naturraums, in dem die betreffenden Arbeitnehmer ihre Aufgaben wahrnehmen, festgelegt werden.

8 VAERSA hat auch Vorarbeiter auf der Ebene der Provinzen. Diese erhalten über die internetbasierte Kommunikationsanwendung WhatsApp jeden Monat die monatlichen Arbeitspläne, aufgeschlüsselt nach Provinz, Einheit und spezifischem Arbeitstag, mit der Angabe der genauen Lage der Arbeitsstelle, der von jeder Einheit durchzuführenden Arbeiten und der sonstigen technischen Aspekte.

9 Die betroffenen Arbeitnehmer begeben sich eigenständig von ihrem Wohnsitz zum Stützpunkt, wo sie sich um 8.00 Uhr morgens einzufinden haben. Am Stützpunkt wird ihnen von VAERSA ein Fahrzeug zur Verfügung gestellt, in dem sich das für die Durchführung der Arbeiten erforderliche Material befindet. Vom Stützpunkt aus begeben sich die Arbeitnehmer im Fahrzeug von VAERSA, das von einem ihrer Arbeitnehmer gelenkt wird, zur betreffenden Arbeitsstelle. Um 15.00 Uhr werden die Arbeiten an dieser Arbeitsstelle beendet, und die Arbeitnehmer werden mit demselben Fahrzeug zum Stützpunkt zurückgebracht. Von dort begeben sie sich eigenständig nach Hause.

10 Obwohl gemäß den einzelnen Arbeitsverträgen der Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität die Fahrzeit vom Stützpunkt bis zur Arbeitsstelle im betreffenden Mikroschutzgebiet und zurück nicht als tatsächliche Arbeitszeit zählt, erfasst VAERSA die tägliche Fahrzeit dieser Arbeitnehmer vom Stützpunkt zur Arbeitsstelle in der Praxis als solche. Die Rückfahrt von der Arbeitsstelle zum Stützpunkt am Ende des Arbeitstags wird von VAERSA hingegen nicht als Arbeitszeit erfasst.

11 Das Tribunal Superior de Justicia de la Comunidad Valenciana (Obergericht der Valencianischen Gemeinschaft, Spanien), das vorlegende Gericht, das von STAS‑IV mit einer Verbandsklage gegen VAERSA befasst wurde, weist darauf hin, dass die Parteien des Ausgangsrechtsstreits den diesem Rechtsstreit zugrunde liegenden Sachverhalt nicht bestritten. Es stelle sich jedoch im Wesentlichen die Frage, ob die Zeit für die Rückfahrt der Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität vom Mikroschutzgebiet, in dem sie die betreffenden Arbeiten durchführten, bis zum von VAERSA festgelegten Stützpunkt als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 zu erfassen sei.

12 Das vorlegende Gericht führt aus, dass das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof, Spanien) in Anwendung des Urteils vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras (C‑266/14, EU:C:2015:578), in seinem Urteil Nr. 605/2020 vom festgestellt habe, dass im Fall eines Unternehmens, das Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Einbau, der Wartung und der Reparatur von Aufzügen erbringe, die Fahrzeit der betreffenden Arbeitnehmer von ihren Wohnsitzen zu jenen der Kunden als Arbeitszeit anzusehen sei. Das Tribunal Supremo habe Folgendes festgestellt: „[W]enn Fahrten zum Wohnsitz des Kunden für die Ausübung der Tätigkeit des Unternehmens unerlässlich sind, da dieses keine Aufzüge einbauen, warten oder reparieren könnte, wenn es seine Arbeitnehmer nicht zusammen mit den erforderlichen Materialien und Werkzeugen zum Wohnsitz des Kunden schicken würde, wobei es diese Leistungen auch entsprechend in Rechnung stellt, ist offensichtlich, dass die Fahrten als Arbeitszeit anzusehen sind.“

13 Im Urteil Nr. 617/2021 des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) vom betreffend Fahrten von Arbeitnehmern, die Wartungsarbeiten an Industriemaschinen durchführten, sei im gleichen Sinne entschieden worden.

14 Das vorlegende Gericht zeigt jedoch Unterschiede in der Rechtsprechung des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) auf. Im Urteil Nr. 784/2019 vom habe dieses die Zeit, die Feuerwehrleute auf einem Flughafengelände für die Fahrt zwischen dem Dienstgebäude – Technikblock –, in dem sie arbeiteten, wenn sie keinen Einsatz hätten, und dem Ort, an dem sie ihre Kollegen abzulösen hätten, benötigten, nicht als Arbeitszeit betrachtet. Das Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof) habe dies folgendermaßen begründet: „… während der Zeit, in der sich [die betreffenden Arbeitnehmer] vom Technikblock zur Flugzeugrettungs- und Brandbekämpfungsstelle begeben, stehen sie dem Arbeitgeber nicht wirklich zur Verfügung, sondern führen eine vorbereitende Tätigkeit aus, die mit der Zurücklegung des Weges vom Umkleideraum eines Unternehmens zum Arbeitsplatz vergleichbar ist. Der Umstand, dass aus Sicherheitsgründen zuerst unter Einsatz einer magnetischen Zugangskarte der Technikblock betreten werden muss, bedeutet nicht, dass die Arbeitszeit zu laufen beginnt. Während der Arbeitnehmer den Weg zurücklegt, darf er weder persönliche Aufgaben verrichten, noch mit Aufgaben betraut werden, da er sich außerhalb seines Tätigkeitsbereichs befindet“.

15 Das vorlegende Gericht führt außerdem aus, dass es in der Vergangenheit selbst in zwei Rechtssachen betreffend individuelle Klagen zweier Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität gegen VAERSA wegen der Berücksichtigung ihrer Fahrten zwischen dem Stützpunkt und den betreffenden Mikroschutzgebieten widersprüchlich entschieden habe, obwohl es sich bei der Bearbeitung dieser Rechtssachen auf dieselbe Rechtsprechung des Gerichtshofs gestützt habe.

16 So habe es im Urteil Nr. 2696/2021 vom Fahrten von Arbeitnehmern zwischen dem Stützpunkt und den betreffenden Mikroschutzgebieten nicht als Arbeitszeit betrachtet, da diese Arbeitnehmer während dieser Fahrten weder ihrem Arbeitgeber zur Verfügung gestanden hätten noch in der Lage gewesen seien, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Im Urteil Nr. 3555/2021 vom sei es hingegen davon ausgegangen, dass es sich bei solchen Fahrten um Arbeitszeit handele.

17 Insoweit sind die Zweifel des vorlegenden Gerichts hinsichtlich der Frage, ob es sich bei solchen Fahrten um Arbeitszeit im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 handelt, darauf zurückzuführen, dass Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität zwar während der Fahrt von der betreffenden Arbeitsstelle zum Stützpunkt nicht ihre Aufgaben wahrnehmen, sie aber auch nicht frei über ihre Zeit verfügen können, da diese Fahrten zwingend in einem Fahrzeug ihres Arbeitgebers zu einem im Voraus festgelegten Zeitpunkt und entsprechend einem vom Arbeitgeber festgelegten Zeitplan erfolgen.

18 Unter diesen Umständen hat das Tribunal Superior de Justicia de la Comunidad Valenciana (Obergericht der Valencianischen Gemeinschaft) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist Art. 2 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen, dass die Zeit, die Arbeitnehmer zu Beginn und am Ende eines Arbeitstags für die Fahrt mit einem Fahrzeug des Unternehmens vom Stützpunkt zum Mikroschutzgebiet bzw. zu der Arbeitsstelle, an der sie ihre Aufgaben wahrnehmen, und zurück zum Stützpunkt aufwenden, als „Arbeitszeit“ im Sinne der Begriffsbestimmung in Art. 2 der Richtlinie anzusehen ist?

Zur Vorlagefrage

19 Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass die Zeit für Hin- und Rückfahrten, die Arbeitnehmer zu einer von ihrem Arbeitgeber festgelegten Uhrzeit mit einem Fahrzeug des Arbeitgebers gemeinsam zurücklegen müssen, um sich von einem bestimmten, vom Arbeitgeber festgelegten Ort an den Ort zu begeben, an dem die im zwischen ihnen und dem Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag vorgesehene charakteristische Leistung erbracht wird, als „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten ist.

20 Was den Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 betrifft, so definiert diese Bestimmung den Begriff „Arbeitszeit“ als „jede Zeitspanne, während der ein Arbeitnehmer … arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder Aufgaben wahrnimmt“. Der Begriff „Ruhezeit“ wird hingegen in Art. 2 Nr. 2 dieser Richtlinie als „jede Zeitspanne außerhalb der Arbeitszeit“ definiert.

21 Im Übrigen hat der Gerichtshof entschieden, dass die Richtlinie 2003/88 keine Zwischenkategorie zwischen den Arbeitszeiten und den Ruhezeiten vorsieht und diese beiden Kategorien einander ausschließen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 25 und 26 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

22 Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs ergibt sich insoweit, dass die Begriffe „Arbeitszeit“ und „Ruhezeit“ im Sinne der Richtlinie 2003/88 unionsrechtliche Begriffe darstellen, die anhand objektiver Merkmale unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des Zwecks der Richtlinie zu bestimmen sind, der darin besteht, Mindestvorschriften zur Verbesserung der Lebens‑ und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer aufzustellen. Denn nur eine solche autonome Auslegung kann die volle Wirksamkeit dieser Richtlinie und eine einheitliche Anwendung dieser Begriffe in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherstellen (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Art. 2 der Richtlinie nicht zu den Vorschriften dieser Richtlinie gehört, von denen abgewichen werden darf (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 28 und die dort angeführte Rechtsprechung).

24 Zur Beantwortung der Vorlagefrage ist daher zu prüfen, ob in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden die in Rn. 20 des vorliegenden Urteils genannten wesentlichen Merkmale des Begriffs „Arbeitszeit“ in Bezug auf die Fahrzeit von Arbeitnehmern mit einem Fahrzeug ihres Arbeitgebers zwischen einem von diesem festgelegten Abfahrtsort und den Naturräumen, in denen diese Arbeitnehmer ihre Aufgaben wahrnehmen, vorliegen und ob diese Zeit folglich als „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 zu betrachten ist.

25 Zum ersten wesentlichen Merkmal des Begriffs „Arbeitszeit“, wonach der Arbeitnehmer seine Tätigkeit ausüben oder Aufgaben wahrnehmen muss, hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass Arbeitnehmer während ihrer Fahrt zwischen ihrem Wohnsitz und den Standorten ihrer Kunden ihre Tätigkeit ausüben oder Aufgaben wahrnehmen, da solche Fahrten das notwendige Mittel sind, damit diese Arbeitnehmer bei den Kunden technische Leistungen erbringen können. Daher ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer solchen Situation befinden, anzunehmen, dass sie während dieser Fahrzeit ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 32 und 34).

26 Im vorliegenden Fall geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass die betroffenen Arbeitnehmer ihre Aufgaben in Naturräumen im gesamten Gebiet der valencianischen Gemeinschaft wahrnehmen, und zwar in verschiedenen Mikronaturschutzgebieten. Sie begeben sich nicht unmittelbar von ihrem Wohnsitz zu der ihnen zugewiesenen Arbeitsstelle, sondern sind verpflichtet, sich zu einer bestimmten Uhrzeit an einem von VAERSA festgelegten Abfahrtsort einzufinden. Von diesem Abfahrtsort, dem sogenannten „Stützpunkt“, aus müssen sie ihre Fahrt gemeinsam mit den anderen Mitgliedern ihrer Einheit in einem Fahrzeug von VAERSA fortsetzen, das von einem Arbeitnehmer von VAERSA gelenkt wird und auch dem Transport des für die Durchführung der betreffenden Arbeiten erforderlichen Materials dient. Nach Beendigung ihrer Arbeit werden diese Arbeitnehmer im selben Fahrzeug von der Arbeitsstelle zurück zum Stützpunkt gebracht, von dem aus sie eigenständig an ihren Wohnsitz zurückkehren. Der Vorlageentscheidung ist außerdem zu entnehmen, dass den Vorarbeitern jeden Monat u.a. die genaue Lage der Arbeitsstelle mitgeteilt wird.

27 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht durchzuführenden Überprüfungen ergibt sich daraus, dass die Modalitäten der Hin- und Rückfahrt der betroffenen Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität von ihrem Arbeitgeber vorgegeben werden, der u.a. das für diese Fahrten verwendete Transportmittel, den Abfahrtsort bzw. Ankunftsort bei der Rückfahrt, die Abfahrtszeit und das Ziel, nämlich eine Arbeitsstelle, bestimmt. Diese Arbeitnehmer haben folglich keinen festen und gewöhnlichen Arbeitsort. Sie müssen sich notwendigerweise an einen anderen Ort begeben, um die im mit diesem Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag vorgesehenen Leistungen zu erbringen, wobei sie sich an die vom Arbeitgeber vorgeschriebenen Hin- und Rückfahrtsmodalitäten zu halten haben.

28 Unter diesen Umständen sind solche Fahrten als untrennbar mit ihrer Eigenschaft als Arbeitnehmer im Bereich Biodiversität verbunden und damit als Teil der Ausübung ihrer Tätigkeit anzusehen. Folglich ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden befinden, davon auszugehen, dass sie während der Zeit, die sie zu Beginn und am Ende des Arbeitstags mit der Fahrt von einem von ihrem Arbeitgeber festgelegten Ort bis zu der Arbeitsstelle, an der sie ihre Aufgaben wahrnehmen, und von dort zurück an den vom Arbeitgeber festgelegten Ort verbringen, ihre Tätigkeit ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen.

29 Zum zweiten wesentlichen Merkmal des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, wonach der Arbeitnehmer während dieser Zeit dem Arbeitgeber zur Verfügung stehen muss, hat der Gerichtshof entschieden, dass der Umstand entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten und sich zu dessen Verfügung zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30 Ein Arbeitnehmer steht also nur dann seinem Arbeitgeber zur Verfügung, wenn er sich in einer Lage befindet, in der er rechtlich verpflichtet ist, den Anweisungen seines Arbeitgebers Folge zu leisten und seine Tätigkeit für ihn auszuüben (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 36).

31 Dagegen spricht es nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs dafür, dass der betrachtete Zeitraum keine Arbeitszeit im Sinne der Richtlinie 2003/88 ist, wenn die Arbeitnehmer ohne größere Zwänge über ihre Zeit verfügen und ihren eigenen Interessen nachgehen können (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).

32 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die betroffenen Arbeitnehmer während ihrer Fahrten zwischen dem Stützpunkt und dem Ort, an dem die im betreffenden Arbeitsvertrag vorgesehene charakteristische Leistung erbracht wird, verpflichtet sind, den Weisungen ihres Arbeitgebers zu folgen. Dieser Arbeitgeber gibt seinen Arbeitnehmern nämlich vor, sich zu einer festgelegten Uhrzeit am Stützpunkt, dessen genauen Standort er bestimmt, einzufinden, damit sie sich in einem seiner Fahrzeuge, das von einem seiner Arbeitnehmer gelenkt wird, gemeinsam an den genannten Ort begeben.

33 Vorbehaltlich der vom vorlegenden Gericht vorzunehmenden Überprüfungen haben die betroffenen Arbeitnehmer also während der erforderlichen Fahrzeit, die sich zumeist nicht verkürzen lässt, nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, so dass sie demnach ihren Arbeitgebern zur Verfügung stehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 39).

34 Folglich ist davon auszugehen, dass diese Arbeitnehmer während dieser Fahrten ihrem Arbeitgeber zur Verfügung stehen, so dass das zweite wesentliche Merkmal des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 im vorliegenden Fall gegeben ist.

35 Schließlich hat der Gerichtshof zum dritten wesentlichen Merkmal des Begriffs „Arbeitszeit“, wonach der Arbeitnehmer während der betrachteten Zeitspanne arbeiten muss, festgestellt, dass bei einem Arbeitnehmer, der keinen festen Arbeitsort mehr hat und der seine Aufgaben während der Fahrt zu oder von einem Kunden wahrnimmt, auch davon auszugehen ist, dass er während dieser Fahrt arbeitet. Denn die Fahrten gehören untrennbar zum Wesen eines Arbeitnehmers, der keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort hat, so dass der Arbeitsort solcher Arbeitnehmer nicht auf die Orte beschränkt werden kann, an denen sie bei den Kunden ihres Arbeitgebers physisch tätig werden (Urteil vom , Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras, C‑266/14, EU:C:2015:578, Rn. 43).

36 Im vorliegenden Fall ist, vorbehaltlich der dem vorlegenden Gericht obliegenden Überprüfungen und wie sich aus den Rn. 27 und 28 des vorliegenden Urteils ergibt, davon auszugehen, dass die betroffenen Arbeitnehmer während ihrer Fahrten vom Stützpunkt zur betreffenden Arbeitsstelle und zurück keinen festen Arbeitsort haben und ihre Tätigkeit ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen.

37 Folglich ist davon auszugehen, dass diese Arbeitnehmer während dieser Fahrten arbeiten, so dass das dritte wesentliche Merkmal des Begriffs „Arbeitszeit“ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 im vorliegenden Fall ebenfalls erfüllt ist.

38 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass die Zeit für Hin- und Rückfahrten, die Arbeitnehmer zu einer von ihrem Arbeitgeber festgelegten Uhrzeit mit einem Fahrzeug des Arbeitgebers gemeinsam zurücklegen müssen, um sich von einem bestimmten, vom Arbeitgeber festgelegten Ort an den Ort zu begeben, an dem die im zwischen ihnen und dem Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag vorgesehene charakteristische Leistung erbracht wird, als „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten ist.

Kosten

39 Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des beim vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Sechste Kammer) für Recht erkannt:

Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung

ist dahin auszulegen, dass

die Zeit für Hin- und Rückfahrten, die Arbeitnehmer zu einer von ihrem Arbeitgeber festgelegten Uhrzeit mit einem Fahrzeug des Arbeitgebers gemeinsam zurücklegen müssen, um sich von einem bestimmten, vom Arbeitgeber festgelegten Ort an den Ort zu begeben, an dem die im zwischen ihnen und dem Arbeitgeber geschlossenen Arbeitsvertrag vorgesehene charakteristische Leistung erbracht wird, als „Arbeitszeit“ im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten ist.

ECLI Nummer:
ECLI:EU:C:2025:768

Fundstelle(n):
TAAAK-02363