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BGH Urteil v. - II ZR 112/24

Leitsatz

Das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (Abl. vom /C 384 I./01) in Verbindung mit Art. 216 AEUV steht nach dem Ablauf der Übergangsfrist (Art. 126 AA) der Anwendung des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO im Klageverfahren gegen einen Beklagten mit Sitz in Großbritannien nicht entgegen.

Gesetze: Art 18 Abs 1 EUV 1215/2012, Art 216 AEUV, Art 126 BrexitAbk

Instanzenzug: Az: 17 U 1521/24 e Endurteilvorgehend LG München I Az: 47 O 13979/22

Tatbestand

1Die Klägerin zeichnete im Oktober 2007 eine Genussrechtsbeteiligung an der D.                                    AG, der nach Zustimmung der Klägerin die Genussrechtsbedingungen der T.                                         AG                                              zugrunde lagen. Die T.                                      AG wurde nach zwischenzeitlicher Umwandlung in eine GmbH mit Wirkung zum auf die in London ansässige Beklagte verschmolzen. Mit Schreiben vom Februar 2019 wurde die Klägerin über die Verschmelzung informiert wie auch darüber, dass sich ihre Genussrechte in B-Anteile gewandelt hätten. Der Wert der Genussrechte/-scheine zum wurde mit 7.438,99 € angegeben. Mit Schreiben vom erklärte die Klägerin die außerordentliche fristlose Kündigung ihrer Genussrechtsbeteiligungen und forderte die Rückzahlung von 7.438,99 €. Die im November 2022 eingereichte Klage ist im Januar 2023 zugestellt worden.

2Das Landgericht hat die Beklagte verurteilt, an die Kläger 7.438,99 € zuzüglich Zinsen und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten zu zahlen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht das landgerichtliche Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihren Antrag auf Zurückweisung der Berufung der Beklagten weiter.

Gründe

3Die Revision hat Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.

4I. Zur Begründung hat das Berufungsgericht (OLG München, AG 2025, 255 ff.) ausgeführt, dass die Klage unzulässig sei, da die deutschen Gerichte für die Entscheidung in der Sache nicht international zuständig seien. Eine Zuständigkeit könne sich aus Art. 17 Abs. 1 c, Art. 18 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rats vom12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO; ABl. L 351 vom , S. 1 ff.) ergeben. Die Anwendbarkeit dieser Vorschriften sei jedoch nach Art. 67 Abs. 1 a, Art. 126 des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft 2019 (AA; ABl. vom , C 384 I./1.) nicht gegeben. Die Regelungen im Austrittsabkommen zur Beendigung der Anwendbarkeit der EuGVVO könnten andernfalls zum großen Teil leerlaufen, was keine der beiden Vertragsparteien so gewollt habe. Auf Art. 216 AEUV werde verwiesen. Danach sei die EuGVVO nicht anwendbar. Weitere Normen, die die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte begründen könnten, seien im vorliegenden Fall nicht einschlägig.

II.

5Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand. Die Klage ist zulässig. Das Landgericht München I ist international und örtlich zuständig für die Entscheidung über die Klage.

61. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts ist die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit und die örtliche Zuständigkeit des Landgerichts München I aus Art. 18 Abs. 1 2. Halbsatz EuGVVO gegeben.

7a) Art. 18 Abs. 1 2. Halbsatz EuGVVO ist anwendbar. Art. 6 Abs. 1 EuGVVO bestimmt, dass sich vorbehaltlich des Art. 18 Abs. 1 EuGVVO die Zuständigkeit eines Gerichts eines jeden Mitgliedsstaates nach dessen eigenem Recht richtet, wenn ein Beklagter keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union hat.

8Damit ist für den Fall, dass ein Beklagter keinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union hat, Art. 18 Abs. 1 EuGVVO auf einen Kläger mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anwendbar, so dass sich aus der Vorschrift ein innerstaatlicher Gerichtsstand ergeben kann. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist die Erhebung der Klage (vgl. ­ C-98/20, ABl EU 2020, Nr. C 414, 19 = ZIP 2021, 266 Rn. 36).

9b) Die Klägerin ist Verbraucher im Sinne des Art. 18 Abs. 1 2. Halbsatz EuGVVO. Die Voraussetzungen für eine Verbrauchersache nach Art. 17 Abs. 1 c EuGVVO liegen vor.

10Die Klägerin ist Verbraucher im Sinne der Vorschrift, da sich die Zeichnung der Anlage in einem Rahmen bewegte, der nicht ihrer beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit zugerechnet werden kann (vgl. , ABl EU 2019, Nr. C 413, 10 = ZIP 2020, 385 Rn. 39). Das Landgericht hat die Tatsachen zur Einordnung der Klägerin als Verbraucher als unstreitig festgestellt. Dagegen sind keine Einwendungen geltend gemacht worden oder sonst ersichtlich. Eine Vermögens- und Kapitalanlage ist ein Verbrauchergeschäft, wenn diese zur Verwaltung privaten Vermögens erfolgt und damit keine beruflichen oder gewerblichen Zwecke verfolgt werden (vgl. , VersR 2018, 372 Rn. 14). Auch bei einem Erwerb von Gesellschaftsanteilen liegt ein Verbrauchergeschäft vor, wenn der Zweck des Beitritts vorrangig nicht darin besteht, Mitglied dieser Gesellschaft zu werden, sondern (privates) Kapital anzulegen (vgl. , WM 2021, 40 Rn. 26).

11Das Handeln der Rechtsvorgängerin der Beklagten ist als beruflich und gewerblich zu qualifizieren. Des Weiteren ist die Tätigkeit der Rechtsvorgängerin auf die Bundesrepublik Deutschland und damit einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union ausgerichtet gewesen. Die Rechtsvorgängerin der Beklagten hat den Willen zum Ausdruck gebracht, Geschäftsbeziehungen zu Verbrauchern eines oder mehrerer anderer Mitgliedsstaaten, darunter des Mitgliedsstaats des Verbrauchers herzustellen (vgl. , 144/09, NJW 2011, 505 Rn. 75). Es ist im Falle eines Vertrags zwischen einem Gewerbebetreibenden und einem bestimmen Verbraucher zu ermitteln, ob vor dem möglichen Vertrag mit diesem Verbraucher Anhaltspunkte dafür vorlagen, dass der Gewerbetreibende Geschäfte mit Verbrauchern tätigen wollte, die in anderen Mitgliedsstaaten wohnhaft sind, darunter den Mitgliedsstaat, in dessen Hoheitsgebiet der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, und zwar in dem Sinne, dass der Gewerbetreibende zu einem Vertragsschluss mit diesen Verbrauchern bereit war (, NJW 2012, 455 Rn. 21 mwN). Dieses Kriterium ist zu bejahen, wenn der Gewerbetreibende seine Dienstleistungen oder Produkte in einem oder mehreren namentlich genannten Mitgliedsstaaten anbietet (, 144/09, NJW 2011, 505 Rn. 81).

12Da die Klägerin ihren Wohnsitz in der Bundesrepublik Deutschland hat und die Beklagte ihren Verwaltungssitz in Großbritannien, das nicht (mehr) der EU angehört, ist die deutsche Gerichtsbarkeit international zuständig und der Wohnort der Klägerin zugleich maßgebend für die örtliche Zuständigkeit.

132. Im Gegensatz zur Auffassung des Berufungsgerichts steht der Anwendung des Art. 18 EuGVVO das Abkommen über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft (Abl. vom /C 384 I./01) in Verbindung mit Art. 216 AEUV nicht entgegen.

14Nach Art. 216 Abs. 1 AEUV kann die Europäische Union mit Drittländern Vereinbarungen schließen, die die Organe der Union und die Mitgliedsstaaten binden. Nach Art. 126 AA war ein Übergangs- oder Durchführungszeitraum bestimmt nach Austritt des Königreichs Großbritannien und Nordirlands aus der Europäischen Union, der bis zum reichte. Nach Art. 127 Abs. 1 AA galt das Unionsrecht während des Übergangszeitraums auch im Vereinigten Königreich. Nach Abs. 3 dieser Vorschrift entfaltete das Unionsrecht für das Vereinigte Königreich die gleichen Rechtswirkungen wie innerhalb der Union und ihrer Mitgliedsstaaten und sollte nach denselben Methoden und allgemeinen Grundsätzen ausgelegt und verwendet werden. Eine weitere Fortgeltung der EuGVVO ist in Art. 67 Abs. 2a AA für die Anerkennung und Vollstreckung von Urteilen enthalten, die in einem vor dem Ablauf der Übergangszeit eingeleiteten gerichtlichen Verfahren ergangen sind. In den Erwägungen unter der Präambel des Austrittsabkommens ist ausgeführt, dass es zur Gewährleistung der ordnungsgemäßen Auslegung und Anwendung dieses Abkommens und der Erhaltung der Verpflichtung aus diesem Abkommen wesentlich ist, Bestimmungen, die die allgemeine Governance sicherstellen, insbesondere verbindliche Streitbeilegungs- und Durchsetzungsvorschriften, festzulegen, die die Autonomie der jeweiligen Rechtsordnung der Union und des Vereinigten Königreichs sowie den Status des Vereinigten Königreichs als Drittstaat uneingeschränkt wahren.

15Das Vereinigte Königreich ist infolge seines Austritts aus der Europäischen Union und Ablauf des in Art. 126 AA vorgesehenen Übergangszeitraums seit dem kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union mehr, sondern ein Drittstaat (, NJW­RR 2021, 1207 Rn. 42). Der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union berührt für sich genommen die Anwendbarkeit der EuGVVO in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und deshalb auch in Deutschland grundsätzlich nicht. Etwas Anderes könnte sich nur ergeben, wenn dem Austrittsabkommen eine Regelung zu entnehmen wäre, dass Bestimmungen der EuGVVO und hier insbesondere des Art. 18 EuGVVO im Verhältnis zu Großbritannien als Drittstaat nicht anzuwenden seien. Hiervon geht das Berufungsgericht aus. Ein Anhalt für eine solche Vertragsregelung findet sich im Austrittsabkommen jedoch nicht. Vielmehr sieht das Austrittsabkommen Großbritannien nach Austritt im Verhältnis zur Europäischen Union als Drittstaat an (, NJW­RR 2021, 1207 Rn. 42; OLG Frankfurt, WM 2025, 1604, 1605; , S. 9 n.v.; OLG Köln, AG 2025, 202 mwN; OLG Karlsruhe, NZG 2023, 1032, 1033; OLG Celle, NZG 2021, 562; , juris Rn. 39 ff; Steinbrück/Liebeknecht, EuZW 2021, 517, 518 f; Hau, MDR 2021, 521, 522; Tintemann/Ali, VuR 2022, 336). Dass mit dem Austrittsabkommen eine Regelung getroffen werden sollte, die Verbraucher mit Wohnsitz innerhalb der Europäischen Union gegenüber Gewerbetreibenden mit Sitz im Vereinigten Königreich schlechter stellt, als gegenüber jedem anderen Drittstaat, weil die Regelungen der EuGVVO in den Mitgliedstaaten zu Gunsten der Verbraucher im Gegensatz zu allen anderen Drittstaaten in Großbritannien nicht anwendbar sein sollen, ist nicht ersichtlich und wird vom Berufungsgericht auch nicht begründet.

163. Ein Vorabentscheidungsersuchen an den Gerichtshof der Europäischen Union gemäß Art. 267 AEUV ist nicht geboten. Die richtige Auslegung des Austrittsabkommens ist derart offenkundig zu beantworten, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bleibt ("acte clair", vgl.  283/81, DVBl 1983, 267, 268 - C.I.L.F.I.T.; Urteil vom - C-160/14, EuZW 2016, 111 Rn. 38 f; Urteil vom - C-561/19, NJW 2021, 3303 Rn. 47).

III.

17Das Berufungsgericht hat sich mit der Berufung der Beklagten nicht auseinandergesetzt, so dass die Sache noch nicht zur Entscheidung reif und zur neuen Entscheidung auch über die Kosten des Rechtsstreits an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 ZPO).

ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:071025UIIZR112.24.0

Fundstelle(n):
GAAAK-02136