Instanzenzug: LG Neuruppin Az: 13 KLs 11/24
Gründe
1Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nachstellung in vier Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit Zuwiderhandlung gegen gerichtliche Maßnahmen zum Schutz vor Gewalt und Nachstellung in 47 Fällen, mit Hausfriedensbruch in zwei Fällen und mit Sachbeschädigung in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit Sachbeschädigung und in einem Fall in Tateinheit mit Verleumdung, wegen falscher Verdächtigung in sieben Fällen, wegen falscher Versicherung an Eides statt in zwei Fällen und wegen Verleumdung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und acht Monaten verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat mit einer Verfahrensrüge und mit der Sachrüge in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
21. Die Verurteilung des Angeklagten wegen 47 tateinheitlich begangener Verstöße gegen das Gewaltschutzgesetz (§ 4 Satz 1 Nr. 1 GewSchG) im Fall II.2 der Urteilsgründe hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
3Nach den dazu getroffenen Feststellungen erwirkte die Nebenklägerin V. am eine einstweilige Anordnung nach § 1 Abs. 1Satz 1 GewSchG, mit der dem Angeklagten untersagt wurde, ihr Grundstück zu betreten, in irgendeiner Art Kontakt zu ihr aufzunehmen oder sich ihr auf weniger als 100 Meter zu nähern. Gegen die ihm am zugestellte Anordnung verstieß der Angeklagte in 47 Fällen.
4Der Beschwerdeführer beanstandet zu Recht, dass die Urteilsgründe den Schuldspruch wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz nicht tragen. Der Generalbundesanwalt hat dazu in seiner Antragsschrift ausgeführt:
„Eine Verurteilung nach § 4 S. 1 GewSchG wegen einer Zuwiderhandlung gegen eine Anordnung nach § 1 Abs. 1 S. 1 GewSchG setzt voraus, dass das Strafgericht die materielle Rechtmäßigkeit der Anordnung überprüft und dabei deren tatbestandliche Voraussetzungen eigenständig feststellt (vgl. Senat, Beschluss vom – 6 StR 158/24 –, juris, Rn. 2; , BGHSt 59, 94).
Die Strafkammer führt insoweit (lediglich) aus, sie habe sich „(v)on Erlass, Wirksamkeit und Rechtmäßigkeit dieser Anordnung (…) anhand der aus diesem Verfahren eingeführten Unterlagen überzeugen können“ (…). Diese Darlegungen sind defizitär und ermöglichen dem Revisionsgericht keine rechtliche Nachprüfung.
Die Sache bedarf deshalb insoweit der neuen Verhandlung und Entscheidung. Jedoch können die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten werden, weil sie von dem aufgezeigten Rechtsfehler nicht berührt werden (§ 353 Abs. 2 StPO). Die bislang getroffenen Feststellungen sind lediglich nicht ausreichend; sie können und müssen daher um weitere neue Feststellungen ergänzt werden, soweit diese den bisherigen nicht widerstreiten.
Weil hinsichtlich des Falls II.2 der Urteilsgründe die tateinheitliche Verurteilung wegen Verstoßes gegen das Gewaltschutzgesetz keinen Bestand hat, unterliegt der diese Tat betreffende Schuldspruch notwendigerweise insgesamt der Aufhebung.“
Dem schließt sich der Senat an.
52. Der Strafausspruch hat insgesamt keinen Bestand. Insoweit greift eine verfahrensrechtliche Beanstandung durch; zugleich liegt ein sachlich-rechtlicher Begründungsmangel des Urteils vor.
6a) Der Verteidiger hatte hilfsweise für den Fall, dass der Angeklagte nicht zu einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt werde, beantragt, ein psychiatrisches Sachverständigengutachten einzuholen zum Beweis der Tatsache, dass bei dem Angeklagten zum Tatzeitpunkt eine dissoziative Identitätsstörung, eine Anpassungsstörung mit emotionaler Beteiligung und eine mittelgradige bis schwere Depression vorgelegen habe, aufgrund derer die Fähigkeit des Angeklagten, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, wegen einer krankhaften seelischen Störung, einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder einer „anderen schweren seelischen Abartigkeit“ erheblich vermindert gewesen sei. Das Landgericht hat den Antrag in den Urteilsgründen abgelehnt, weil die unter Beweis gestellten Tatsachen für die Entscheidung ohne Bedeutung seien, und dazu ausgeführt:
7Der tatzeitbezogene Nachweis der drei bezeichneten Diagnosen hätte keine entscheidungserheblichen Schlussfolgerungen zugelassen, weil die Strafkammer sicher habe ausschließen können, dass die behaupteten Beeinträchtigungen „einen Schweregrad erreichten, der die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung bzw. eines sonstigen Eingangsmerkmals der §§ 20, 21 StGB gerechtfertigt bzw. einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit“ geführt hätte. Die Beantwortung beider Fragen habe unabhängig von möglichen gutachterlichen Ergebnissen eines Sachverständigen – weil es sich um Rechtsfragen handele – ausschließlich der Strafkammer oblegen und sei auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen möglich.
8Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe das strafbare Verhalten des Angeklagten zwar obsessive Züge angenommen, ohne jedoch sein Leben auf der Verhaltensebene vollständig zu bestimmen. Zudem entspringe es einer inneren Haltung und Motivlage, die zwar durchaus auf eine narzisstische Persönlichkeitsakzentuierung hindeute, aber keinen Bezug zu der psychopathologischen Symptomatik auch nur einer der behaupteten Störungen aufweise.
9b) Diese Ausführungen stoßen auf durchgreifende rechtliche Bedenken. Der Generalbundesanwalt hat dazu in seiner Antragsschrift ausgeführt:
„Die Rechtsauffassung des Landgerichts, der Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens könne wegen (rechtlicher) Bedeutungslosigkeit abgelehnt werden, geht fehl.
Die Entscheidung, ob die Schuldfähigkeit eines Angeklagten zur Tatzeit aus einem der in § 20 StGB bezeichneten Gründe ausgeschlossen oder im Sinne von § 21 StGB erheblich vermindert war, erfordert grundsätzlich eine mehrstufige Prüfung (st. Rspr.; Senat, Beschluss vom – 6 StR 583/24 –, juris, Rn. 7; BGH, Beschlüsse vom – 4 StR 491/22 Rn. 7; vom – 4 StR 366/22 Rn. 5 und vom ‒ 4 StR 175/20 Rn. 7, jeweils mwN).
Zunächst ist die Feststellung erforderlich, dass beim Täter eine psychische Störung zu diagnostizieren ist, die ein solches Ausmaß erreicht hat, dass sie unter eines der psychopathologischen Eingangsmerkmale des § 20 StGB zu subsumieren ist. Sodann sind der Ausprägungsgrad der Störung und deren Einfluss auf die soziale Anpassungsfähigkeit des Täters zu untersuchen. Durch die festgestellten psychopathologischen Verhaltensmuster muss die psychische Funktionsfähigkeit des Täters bei der Tatbegehung beeinträchtigt worden sein. Hierzu ist das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen, um anschließend – nach gesichertem psychiatrischen Befund – die Rechtsfragen einer aufgehobenen Einsichtsfähigkeit bzw. einer aufgehobenen oder zumindest erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit zu prüfen.
Zwar handelt es sich bei der Frage des Vorliegens eines der Eingangsmerkmale des § 20 StGB wie bei der Prüfung der aufgehobenen oder erheblich eingeschränkten Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit des Angeklagten zur Tatzeit um Rechtsfragen, die das Tatgericht ohne Bindung an die Äußerungen des Sachverständigen in eigener Verantwortung zu beurteilen hat.
Bei ihren Ausführungen, sie habe – ohne sachverständige Hilfe – ‚sicher ausschließen können, dass die behaupteten Beeinträchtigungen einen Schweregrad erreichten, der die Annahme einer schweren anderen seelischen Störung bzw. eines sonstigen Eingangsmerkmals der §§ 20, 21 StGB gerechtfertigt hätte bzw. zu einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit führte‘ (…), verkennt die Strafkammer aber, dass das Tatgericht für die Tatsachenbewertung auf die Hilfe eines Sachverständigen angewiesen ist, um anschließend – nach gesichertem psychiatrischen Befund – die Rechtsfragen einer aufgehobenen Einsichtsfähigkeit bzw. einer aufgehobenen oder zumindest erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit zu prüfen (vgl. Senat, Beschluss vom – 6 StR 583/24 –, juris, Rn. 7 und –, juris, Rn. 6).
Es kann nicht ausgeschlossen werden (§ 337 StPO), dass die Strafkammer nach Beweisstoffkomplettierung durch Anhörung eines psychiatrischen Sachverständigen letztlich zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass bei dem Angeklagten bei Tatbegehung die Voraussetzungen einer verminderten Steuerungsfähigkeit im Sinne von § 21 StGB vorgelegen haben.
Die rechtsfehlerhaft unterlassene Beweiserhebung führt zur Aufhebung des Strafausspruchs. Der Schuldspruch wird hiervon nicht berührt, da nach den Urteilsfeststellungen sicher ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte im Zustand einer völligen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit gehandelt hat.“
10Dem schließt sich der Senat an.
Bartel Tiemann Fritsche
von Schmettau Arnoldi
ECLI Nummer:
ECLI:DE:BGH:2025:230725B6STR120.25.0
Fundstelle(n):
IAAAK-00216